Logen-Blog [162]: Die verwitternde Blumengöttin
„I've got to be sensible“, wie es in einem alten Schwarzweißfilm heißt, den ich vor Urzeiten in einer Retrospektive der Berlinale gesehen habe. Gustav ist so ein Sensibler: er leidet unmäßig in der militärischen Umgebung und teilt dieses Leiden seinem Erzieher mit – „unter freiem Himmel im stillen Lande[1] zu den Füßen und auf dem Fußgestell einer Blumengöttin“ sitzend. Gustav sitzt in einer Landschaft, die „Jean Paul“ ausdrücklich als romantische[2] bezeichnet. Was steht dagegen? Die Stadt. Ich fühle mich an Eichendorffs Taugenichts erinnert, der die Welt der Kultur (Vaters Mühle) verlässt, um nach Italien, dem Land der Sehnsucht zu gehen, in dem es so wunderbare(!) Landschaften gibt. Auch hier erinnert eines von Eichendorffs wichtigsten Instrumenten, das Horn, daran, dass die Stadt nur ein „eckiger, spitziger, verwitternder, unorganisch zusammengeleimter Schutthaufen der getöteten Natur“ ist, gegen den man einen einfachen Kontrast konstruieren kann: „das pulsierende, drängende, knospende Gewühl der nicht ermordeten Natur“ – und genau hier, wo das Leben noch ganz und „unendlich“ scheint, fühlt sich Gustav wenn auch nicht glücklich, so doch glücklicher.
Romantik? Wir haben gelernt, dass Jean Paul keiner der gängigen Kunstepochen angehört: weder der Klassik noch der Romantik, aber dass er zumindest Elemente der letzteren in sein Werk integriert hat. Er geht tatsächlich voran: Novalis hat die Unsichtbare Loge gelesen und danach, um 1799, seine Hymnen an die Nacht geschrieben, 1793 – in dem Jahr, in dem der Roman erscheint – reisen die beiden Studenten Wackenroder und Tieck durch Franken, wo sie mit dem Fichtelgebirge und Bayreuth Jean Pauls Heimat kennen lernen und ihre Reisebriefe schreiben; Wackenroder verfasst 1795/96 die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Tiecks Sternbald wird 1797 beendet. Sie alle folgen Jean Paul nach, der sich nicht als Romantiker, sondern als empfindungsreicher Humorist verstehen mag. Was das eigentlich „romantische“ Element ihrer Dichtungen betrifft, so beziehen sie sich, denke ich, alle auf den Jean Paul der Unsichtbaren Loge. Plötzlich wird mir klar, welche Bedeutung dieser Roman – in rein epochenmäßigem Verstande – besitzt: ein Roman, der, wenn's in der Schule um die Romantik geht, nicht erwähnt zu werden pflegt.
Ist das zu kurz gegriffen? Sehe ich Zusammenhänge zwischen dem Jean Paul des Romans und den späteren Ergüssen Wackenroders, Tiecks und Novalis', die eher der nachlebenden Literaturgeschichtsschreibung als der Wirklichkeit verpflichtet ist? Immerhin hat die Loge dem Autor den Durchbruch verschafft: wer intellektuell sein wollte und zugleich die Verwerfungen eines kaputten Zeitalters schmerzhaft empfand, kam vermutlich an der Loge nicht vorbei: diesem Denkmal für einen jungen Romantiker, der nicht zufällig bei einer Blumengöttin sitzt, deren Arm und Blumenkorb schon abgebrochen sind.
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[1] „So hieß der englische Garten um Marienhof, den die Gemahlin des verstorbnen Fürsten mit einem romantischen, gefühlvollen, über Kunstregeln hinausreichenden Geiste angelegt“ – vermerkt die Fußnote zum stillen Lande.
[2] Siehe das oder die vorige (Fußnote).
Logen-Blog [162]: Die verwitternde Blumengöttin>
„I've got to be sensible“, wie es in einem alten Schwarzweißfilm heißt, den ich vor Urzeiten in einer Retrospektive der Berlinale gesehen habe. Gustav ist so ein Sensibler: er leidet unmäßig in der militärischen Umgebung und teilt dieses Leiden seinem Erzieher mit – „unter freiem Himmel im stillen Lande[1] zu den Füßen und auf dem Fußgestell einer Blumengöttin“ sitzend. Gustav sitzt in einer Landschaft, die „Jean Paul“ ausdrücklich als romantische[2] bezeichnet. Was steht dagegen? Die Stadt. Ich fühle mich an Eichendorffs Taugenichts erinnert, der die Welt der Kultur (Vaters Mühle) verlässt, um nach Italien, dem Land der Sehnsucht zu gehen, in dem es so wunderbare(!) Landschaften gibt. Auch hier erinnert eines von Eichendorffs wichtigsten Instrumenten, das Horn, daran, dass die Stadt nur ein „eckiger, spitziger, verwitternder, unorganisch zusammengeleimter Schutthaufen der getöteten Natur“ ist, gegen den man einen einfachen Kontrast konstruieren kann: „das pulsierende, drängende, knospende Gewühl der nicht ermordeten Natur“ – und genau hier, wo das Leben noch ganz und „unendlich“ scheint, fühlt sich Gustav wenn auch nicht glücklich, so doch glücklicher.
Romantik? Wir haben gelernt, dass Jean Paul keiner der gängigen Kunstepochen angehört: weder der Klassik noch der Romantik, aber dass er zumindest Elemente der letzteren in sein Werk integriert hat. Er geht tatsächlich voran: Novalis hat die Unsichtbare Loge gelesen und danach, um 1799, seine Hymnen an die Nacht geschrieben, 1793 – in dem Jahr, in dem der Roman erscheint – reisen die beiden Studenten Wackenroder und Tieck durch Franken, wo sie mit dem Fichtelgebirge und Bayreuth Jean Pauls Heimat kennen lernen und ihre Reisebriefe schreiben; Wackenroder verfasst 1795/96 die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Tiecks Sternbald wird 1797 beendet. Sie alle folgen Jean Paul nach, der sich nicht als Romantiker, sondern als empfindungsreicher Humorist verstehen mag. Was das eigentlich „romantische“ Element ihrer Dichtungen betrifft, so beziehen sie sich, denke ich, alle auf den Jean Paul der Unsichtbaren Loge. Plötzlich wird mir klar, welche Bedeutung dieser Roman – in rein epochenmäßigem Verstande – besitzt: ein Roman, der, wenn's in der Schule um die Romantik geht, nicht erwähnt zu werden pflegt.
Ist das zu kurz gegriffen? Sehe ich Zusammenhänge zwischen dem Jean Paul des Romans und den späteren Ergüssen Wackenroders, Tiecks und Novalis', die eher der nachlebenden Literaturgeschichtsschreibung als der Wirklichkeit verpflichtet ist? Immerhin hat die Loge dem Autor den Durchbruch verschafft: wer intellektuell sein wollte und zugleich die Verwerfungen eines kaputten Zeitalters schmerzhaft empfand, kam vermutlich an der Loge nicht vorbei: diesem Denkmal für einen jungen Romantiker, der nicht zufällig bei einer Blumengöttin sitzt, deren Arm und Blumenkorb schon abgebrochen sind.
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[1] „So hieß der englische Garten um Marienhof, den die Gemahlin des verstorbnen Fürsten mit einem romantischen, gefühlvollen, über Kunstregeln hinausreichenden Geiste angelegt“ – vermerkt die Fußnote zum stillen Lande.
[2] Siehe das oder die vorige (Fußnote).