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11.05.2013, 16:25 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [153]: Die Grenzen der Aufklärung

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„...der das System von Helvetius so schön wie sein Gesicht vorkommt.“

Jean Paul schiebt nun umstandslos einige seiner Aphorismen ein, die er seit Jahren geschrieben hat. Es seien, schreibt er, Lehrsätze des Moralprofessors – die er freilich selber stets „übertritt“: und zwar „durch das Lehren selber“. Durch das Lehren selber? Meint der Erzähler, dass schon das Aussprechen dieser Aphorismen die Dezenz verletzen würde, über die ein wahrer Tugendlehrer verfügen müsse? Weil sich wahre Tugend umso weniger zu offenbaren vermag, als dass das Geheimnis, das im Stein dieser Sätze verschlossen ist, denselben sprengt? In diesem Fall würde Jean Paul, der Aphorismenautor, weit davon entfernt sein, die Klugheit dieser Sätze zu beweisen – aber ich gebe zu, dass diese Interpretation ebenso paradox anmutet wie jenes „durch das Lehren selber“. Sie klärt sich nur ein wenig, wenn man bedenkt, dass man „nur solche Lebensregeln, von denen man die Erfahrungen, worauf sie ruhen, so durchgemacht, dass man die Regeln selber hätte geben können“. Immerhin aber, sagt „Jean Paul“, sind die angegebenen Regeln, dieser „Dekalogus für Spitzbuben“, „meistens Wahrheiten“ – womit sich der Widerspruch ins unendliche fortwindet. Im Übrigen ist der Dekalogus ein Fragment: denn nur sieben, nicht zehn Sätze notiert. Was weiter zu lesen wäre, steht im etc.

Eine dieser Sentenzen lautet: „Nicht bloß die Liebe, sondern der Hass der Menschen ist veränderlich, und beide sterben, wenn sie nicht wachsen.“ Man findet sie in etlichen Aphorismensammlungen, die Jean Paul nicht mochte. Wer also will, darf sie, indem er die Sammlung, nicht den Roman liest, als Kampfmittel benutzen, indem er so tut, als sei er tugendhaft. Man muss dazu nur – möglichst mit besonders verstelltem, also scheinbar gleichmütigem Gesicht – die Sätze zitieren. Soviel ist richtig: die Kenntnis dieser Sätze trägt noch nicht dazu bei, den Menschen selbst zu erkennen. Sie bleiben bloße Literatur, wenn man sie nur als Aphorismenschatz betrachtet, der in Feierstunden herbeizitiert werden kann. Am Ende dieses Kapitels sagt der Erzähler, was wirkliche Tugend ist: „Achtung für das fremde und unser Ich“, „an keine Laster als an keine Tugend zu glauben“ und „dass die Schlimmsten nur ihre eigene Kaste und die Besten noch eine mehr kennen“.

Wäre man boshaft, so könnte man mutmaßen, dass man selbst dieser tugendhaften Tugendlehre misstrauen könnte – eben weil es eine Lehre ist …

Gustav aber scheint zu begreifen, dass der „Dekalogus“ (der, man muss es wiederholen, „meistens Wahrheiten“ enthält) das Produkt einer „Kanker-Philosophie“ ist. Kanker? Wir kennen das Wort aus dem Dr. Katzenberger, weil der Doktor gerne Kanker auf Stullen verspeist – also Spinnenbrote frisst. Sie möge sich „nie über seine [Gustavs] Ecke seines Herzens sich spinnen und kleben“. Von hier kommt der Erzähler flugs zur Residentin von Bouse, „der das System von Helvetius so schön wie sein Gesicht vorkommt“. Da muss ich nun wieder nachschlagen, um das „schöne Gesicht“ dieses Mannes zu entdecken. Die Sache ist interessant: Helvetius, im Jahre 1715 in Paris geboren als Claude Adrien Helvétius, Enkel eines in Köthen[1] geborenen Herrn Schweitzer, machte seinerzeit durch seine Philosophie der Sinnlichkeit (und die damit zusammenhängende Aufklärung und den Atheismus) aufmerksam. Wiki fasst diese Philosophie folgendermaßen zusammen:

Alle Tätigkeit entspringt der angeborenen Selbstliebe, dem Streben nach sinnlicher Lust und dem Abscheu vor sinnlicher Unlust. Der Nutzen bestimmt den Wert der Handlungen; da aber Nutzen und Schaden relative Begriffe sind, so gibt es keine unbedingt guten oder schlechten Handlungen. Der aufgeklärte Egoist erkennt, dass das Glück aller die Voraussetzung seines persönlichen Glücks ist.

Ist das so falsch? Wenn man einmal „Tätigkeit“ als „frei ausgeübte Tätigkeit“ definiert (und zunächst vergisst, dass der Begriff der Freiheit im Zeichen von Psychologie, Gehirnforschung und Politik schon sehr relativ ist), entdecke ich nichts in diesem abstract, was moralisch verwerflich wäre. Es gilt sogar in Sachen „Geistestätigkeit“ – denn für Intellektuelle und Büchermänner wie Jean Paul ist das Denken und Schreiben nicht „verkopft“, sondern absolut sinnlich.

Wenn er in der Loge nun die Frau von Bouse als Anhängerin des helvetischen Systems charakterisiert, kritisiert er sie wie den Philosophen einer Aufklärung, der Jean Paul nie völlig zu folgen vermochte. Mag sein, dass dies das Kleinstädtische seines Denkens bezeichnet, dem er selbst jene Grenzen setzte, die er sich selbst durch den väterlich verbürgten Gottesglauben, den Glauben an eine gute Unendlichkeit und dem Beharren auf absolute Moralregeln setzte. Eben deshalb konnte er auch den Professor Hoppedizel kritisieren: weil der die Regelsätze nur als Mittel zum Zweck einsetzen wollte, um die Welt mit „Tugend“ zu bestechen. Umgekehrt habe für die Residentin „das beste Herz die schlimmste Philosophie“: und Helvetius ist für sie in jedem Sinne ein „schöner“ Philosoph.

Zumindest war er ein bedenkenswerter Philosoph, über den man noch im 21. Jahrhundert diskutieren kann. Gustav wird ihm, soviel ist sicher, niemals folgen; sein Affekt gegen Typen wie Hoppedizel ist schon stark genug, um zu verhindern, dass er jemals von den schlimmen, gefährlichen Lehren des unmoralischen Franzosen kosten würde.

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[1] Und wir erinnern uns daran, dass Bach in Köthen seinen besten Dienstherren gefunden hat.