„Der N.N. im Grenzland“. Von Vasyl Lozynskyj

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/corona/klein/Am_Waldrand_500.jpg
Alle Bilder (c) Vasyl Lozynskyj

Vasyl Lozynskyj, 1982 geboren in Lwiw (Lemberg), ukrainische SSR, ist Lyriker, Übersetzer, Essayist und Kurator. 2010 erhielt er den Smoloskyp-Literatur-Preis für den Gedichtband Свято після дебошу (2014), der 2016 in deutscher Übersetzung u.d.T. Das Fest nach dem Untergang erschienen ist. Lozynskyj überträgt zeitgenössische Lyrik und Prosa aus dem Polnischen, Deutschen und Englischen in die ukrainische Sprache. Auch für das ukrainisch-deutsche Autorennetzwerk Eine Brücke aus Papier ist er als Übersetzer tätig. Seit 2008 wirkt er als Redakteur der Literatur- und Kunstzeitschrift prostory (Räume), von 2017 bis 2021 insbesondere als Redakteur der Rubrik Luftbrücke. Außerdem ist er Mitglied der Kuratorenvereinigung Hudrada (Kunstrat).

Mit den folgenden 18 unveröffentlichten Gedichten in drei Fragmenten beteiligt sich Vasyl Lozynskyj an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

*

Der N.N. im Grenzland

 

(Fragmente I)

 

(I.)

Die Zeit ist um, im Jetzt stehen geblieben,
verweilt, spürbar nicht einmal ein Hauch.
Die Luft ist klar, aber der Winter weit entfernt,
und man sieht, weil kein Dunst da ist,
zu den Bäumen hindurch.
Der Blick auf das Gesicht eines Kindes
gerichtet, alles andere nur unscharf
und wie gezoomt im Annähern,
ein Besuch, endlich schulfrei, mit der
Bibliothek raus aufs Land, der Schüler hat
ein paar Bücher mitgenommen, nicht an Arbeit
im Garten oder auf dem Feld interessiert,
stattdessen mit einem Moskwitsch
oder einem neuen Lada gefahren.
Die Verwandten fanden sich im Hof zusammen,
ihr Studium hat sie in den 50ern
zu Fremden im Dorf gemacht.

 

(II.)

Es waren Zeiten des Elends und der Umsiedlung
in der Grenzzone. Die Kommunisten
erlaubten keine Wahlen, doch man flüchtete sich
in die geliebte Provinz und startete neu,
mit einem einzigen Teller und Besteck,
in die Politik nicht eingemischt, als Deutsch-
lehrer oder umgesattelt von Latein auf Ukrainisch.
Als Muss eine Brieffreundschaft mit Klassen
aus der DDR. Nach und nach verlor sich die Not
und die Freiheit genoss man im Geheimen,
die Zeit ging schnell vorbei.
Die Untergrundarmee und auch der Komsomol
blieben den Großeltern nach 1945 erspart.
Empörung über Schikane und Kommissionen
prägten kaum je die von ihnen vorgetragenen Geschichten.
Man durfte Ostblockländer bereisen
und heimlich hörte man im Radio das Programm
„Die Stimme Amerikas“.

 

(III.)

Schulalltag und Kameraden

Die vorher verbotene Übersetzung von Nietzsches
„Also sprach Zarathustra“ aus der Bibliothek ausgeliehen,
zu Hause hingen Schewtchenko- und Franko-Portraits,
die Sixtinische Madonna Raffaels und
das Schokoladenmädchen. Der Gang zur Post
oder zur Bibliothek war eine wichtige Routine
für den Lehrer. Mit seinem Unterricht konnte er
kaum den Respekt der Dorfgemeinschaft ernten,
denn er war zu strikt. Man hörte selbst von zuhause aus
die Pausenklingel und das Hallen des Kindergeschreis auf dem Schulhof.
Noch war man ein Oktoberkind mit Iljitsch-Sternchen,
doch um Pionier zu werden, war es zu spät.
Zwei Freunde, jeweils Söhne eines Schultraktoristen und
eines Milizionärs, drängte man, mal hier, mal da,
etwas Geheimes oder Untersagtes zu begehen.
Viele Jahre lang bestanden Abenteuer im Ausgraben von Resten
der Munitionshülsen aus dem 2. Weltkrieg: sie enthielten
gepresstes Pulver, woraus kleine Rauchpetarden gefertigt wurden.
Der Ausgrabungsort entlang der Eisenbahnstrecke
weit außerhalb des Dorfes lockte Kinder abenteuerlich an.

 

 

(VIII.)

Zeitreise ins Nachbarsdorf

Der Radausflug mit Freunden zu später Uhrzeit
von einem Dorf ins andere war rebellisch
und endete mit einem Sturz den Hügel hinab.
Unsere Wahrnehmung gestillt von etwas
Märchenhaftem und Pittoreskem, die Teerstraße
führte durch die Dörfer zur Hängebrücke,
und ein leichtes Dämmern verhüllte die Umgebung,
als ob man eine Zeitreise in den Nachbarort unternahm.
Niemand war von der Familie zuhause,
doch als jemand zurückkam, wurde ein kurzes Telefonat getätigt,
fiel die Entscheidung, dass man dableibt
über Nacht und in der Frühe wurde man
mit dem Auto abgeholt. Es spielte sich alles in der Ferne ab,
heute erscheint das alles nur als ein Mikrokosmos,
ein ständiges Set mit Panoramen für Erinnerungen,
der alten fiktiv-adeligen Geschichte beim
Schloss mit kaputten Mauern, zerstört
gerade eben im Ersten Weltkrieg von den Russen.

 

(IX.)

Kulturlichtstrahl und Gemeindeleben

Das Dorfleben spielte sich in einem
Lebensmittelgeschäft mit leeren Regalen ab,
es gab verfaulten Fisch und eine Bierschänke nebenan.
Das Dorfkino, vom Nachbarn betrieben,
enthüllte uns Kindern schon früh die Physiologie.
Als Ivan, der Kinodirektor, zu spät ins Filmtheater kam, hatte
er, angeblich, noch zu Hause Spagetti eingenommen,
hatte aber tatsächlich die Filmrollen mit dem Rad
aus dem Nachbardorf geholt. Die Filmposter auf Leinen,
die er malte, waren manchmal ausgedachte Titel
wie der vorzeitige „Terminator 3“.
Noch bevor Brot geliefert wurde, reihte man
sich in die Schlange ein und wartete.
Dann gab es eine neue Währung, die lächerlichen
Ausschneidekupons, nun benötigte man an der Kasse
eine Schere. Polnisches Fernsehprogramm
gab es immer, die Disneyzeichentrick-
filme viel früher als in anderen GUS-Staaten. Die Signale
durchquerten die Grenze meist frei.
So war das TV ein Kulturlichtstrahl und wohl auch
ein Erziehungsmittel. Dazu der Hausunterricht,
vor allem im Sommer war er nicht kürzer als die Schule:
Fremdsprachen, Diktate und Blockschrift.
Englisch auch aus einem Lehrbuch, geschrieben zu
Stalins Zeiten. Lebensmittelzutaten und Kochrezepte auf Deutsch
zugeschickt aus der DDR, dann auch BRD mit Paketen,
vor allem für Desserts und Soßen, aber auch Suppen,
von den Lehrern aus dem Briefklub.

 

(X.)

Landschaftskulisse

Das Autofahren lernte man in so einer
Gegend mit kaum Autos früh, stets aber mit Beifahrer.
So war die Hierarchie: erstes Rauchen
unter Strafe, ein pornographisches Magazin,
das Flirten der Nachbarjungs mit Mädels,
das frühe Erwachsenwerden in der Pampa
und das unerlaubte Fahren unter 16 waren die Punkte
im Konkurrenzkampf der Hiesigen, mit denen
sich der Fremde messen sollte. Man brauchte Freunde,
der Hausunterricht wurde oft geschwänzt,
deswegen wurde man belehrt: „Man findet immer Freunde“.
Die Öfen, sie wärmten, die Postboten,
sie kamen, die Züge, sie fuhren; einmal gar
mit Dampf betrieben, nur die Landschaft
blieb die gleiche: das Zickzack der Karpaten
am Horizont hat in vier Jahreszeiten
sich in die Netzhaut eingebrannt.
Trotz angeblicher Ruhe war es ein Naturschauspiel,
man reiste durch die Zeit, in die Ferne und
von weitem sah man den einst „Kahlen Berg“
nun mit Wiese, eine waldbewachsene Kulisse.

Kyiv, Januar-Mai 2019

 

 

 

(Fragmente II)

 

(XII.)

Der Untergrund

Die Erzählungen sprachen sich herum,
hier und da entweder ein Tatort oder gemütlicher Garten.
Unser Haus, einem polnischen Lehrer
abgekauft, sogar mit Fundament kostete es nicht viel,
der Umzug hat lange gedauert, die Grenze verlief
von da an anders, die Polen und Ukrainer siedelten um,
Russen zogen zu, die Sowjetmacht wurde der Bevölkerung
aufgedrungen und stieß auf Widerstand in Wald und Feld.
In den Häusern gab es überall Verstecke,
zum Beispiel, unter dem Backofen, so wurden
die „Schwarzen Jungs“ und Partisanen nicht entdeckt,
sie versteckten sich auf dem Dachboden, saßen in einem Fass
und einer machte Stille-Zeichen, dadurch wurden sie
gerettet. Zeitgleich stieg ein behinderter Kommunist aufs Dach,
um die Fahne auszutauschen. So änderte sich vieles über Nacht,
dann dauerte es wieder fast ein halbes Jahrhundert,
bis sich die Umstände wandelten, immer noch blieb
für die unseren das Motto gültig, sich von der Politik
fernzuhalten, obwohl in privaten Gesprächen
Patriotismus Anklang fand und man sich über
den ukrainischen Staat freute, aber damit nicht protzte.

 

(XIII.)

Wende der Epochen

Das Ganze war geerbt, viele andere
Epochen hatten hier ihre Trümmer
hinterlassen, jüdische Friedhöfe
vergrast, Polen zum Greifen nah,
doch gleichzeitig anders als die Zentral-Ukraine,
auch wenn nachher in den 90ern sich alles schnell
zur allgemeinen Verwunderung änderte.
Das Westliche mischte sich mit dem Kakanischen,
das Westliche war das Unbekannte,
obwohl so nah an Polen gelegen. Der Schmuggel
war keine Hauptbetätigung, aber als Nebenbeschäftigung
zum Brotjob, ab und zu was zu Naschen, wie Kaugummis,
sogar an Kinder verkauft. Dann wurden durchaus
auch Messen zelebriert, im Freien, im Park,
das Kirchgebäude langsam restauriert. Die neue
Presse in der Bibliothek und zuhause,
die neuen Lieder im Unterricht.
Väterchen Frost und der Heilige Nikolaus müssten
einander noch irgendwo begegnet sein,
der Ausscheidende brachte allen das Gleiche und
die westlichen Mitbringsel der Nikolaus.

 

(XIV.)

Sprachlose Ukrainer

Die original ukrainische Kultur war also
verwischt, kaschiert, nicht erlaubt und
zutiefst verboten, manchmal scheint es
so wie die jüdische, aber wo war sie ansässig,
in Polen oder in der Ukraine,
oder weiter weg in Russland? Vor dem Krieg
war angeblich an Samstagen, sprich Sabbaten, mehr
als die Hälfte der Klasse leer. In den 90er-Jahren
ging der Westen voran, die Männer im
Dorf sammelten sich um einen Citroën,
dem Boten der Hydropneumatik
aus Paris, in ihre Heimat gekommen,
um das Haus der jüdischen Kaufleute zu
sehen, ihre Sprache konnte fast niemand
sprechen, dagegen aber Deutsch. So waren
Fremdsprachenkenntnisse immer gefragt,
doch auch zu früheren Zeiten,
im multiethnischen Staat, waren die Ukrainer
sprachlos; politisch, regional zersplittert, lieber
verschwiegen, eher isoliert als assimiliert,
wie in diesem Stetl, einem deutschen Dorf
der Herburter Ritter, dem Füllstein oder Felsztyn
auf ukrainisch Skeliwka, wortwörtlich übersetzt.

 

 

(XVIII.)

Sakrale wiedererstellt

Ein Widerspruch war die Religion zu dieser Zeit,
es gab eine offizielle Kirche, die griechisch-katholische war
verboten, so besetzten die Ukrainer nachher einen Kościół.
Anstatt des Priesters sollte jemand anderer, etwa der Lehrer
die Grabrede auf dem Friedhof halten.
Der Sohn des orthodoxen Batjuschka
war ein Bengel, wurde aber Priester.
Ein anderer Mitschüler sagte später nichts anderes mehr
als den Gruß „Gelobt sei Jesus Christus!“
und ging weiter, fromm im Dienste Gottes.
Eine Messe wurde gleich nach der Wende
im Park, im selbstgebauten Pavillon gehalten.
Weihnachtslieder zu singen war früher auch
gefährlich. Die Menschen fühlten
sich frei auf dem Lande, fuhren nach Moskau
um eine Erlaubnis für eine Pfarrei zu erhalten,
getauft wurde man heimlich oder erst im Alter
von 5 Jahren. In der katholischen Kirche, lange ein Lager
für Salz, dann ein verfallendes Gebäude,
am Anfang der Unabhängigkeit noch
ein umstrittenes Terrain, mit Galgen-
zeichnung und polnischer Schrift auf dem Blatt Papier
an die Eingangstür geheftet und von uns Kindern,
heimlich weggerissen, bevor es jemand
aus der ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinde
sah, um den Skandal und Fremdenhass zu vermeiden.

 

(XIX.)

Die sonderbaren Spiele

Die Freunde, die Nachbarskinder,
man spielte mit denen viel, man hing
einmal mehr eher mit Mädchen als mit Jungs ab.
Ihr häuslicher Alltag anders als der Beruf eines
Schaffners, eines Lehrers, einer Melkerin.
In ihrem Haus herrschte Gastfreundlichkeit.
Der Busenfreund, sein Vater Traktorist
wohnte weiter weg, so grüßte man ihn
auch manchmal bei der Arbeit. Der verbotene
Apfelgarten mit älteren Freund, der vieles erklärte,
mit seiner nackten Schwester einmal später Doktorspiele
gespielt und „Impfung“ gemacht.
Die Ausflüge mit einem Rentner auf dem Motorrad,
mit uns zwei Kindern im Anhänger in der Früh
aus dem Dorf hinaus, die Fahrt war nur des
Spaßes wegen, manchmal nach der Jagd
mit Jagdhunden, die im gleichen Wagen mitfuhren.

 

(XX.)

Die Freundschaft war zu den Zeiten etwas Romantisches,
immer, wenn der beste Freund dort stand, wo er mit
seinem Traktoristenvater wohnte, wartete er so lange
bis man aus seinem Blickfeld hinter der Kurve in Richtung
anderes Dorfende auf dem Fahrradsattel verschwand.
Aus welchem Knigge dieses Verhalten war, ist schwer zu sagen,
entsprungen einem mittelalterlichen Märchen,
als man noch mit dem Tuch zum Abschied winkte.
Die Dauer der Radfahrt konnte man genau abschätzen,
es waren 15 Minuten mit vielen Abenteuern
unterwegs. So weit schienen dem Kind Ausflüge
und der Freund spielte den Gastgeber:
zum Essen einladen, militärische oder technische
Spielereien vorführen, über Bücher reden.

Kyiv, Januar-Mai 2019

 

 

(Fragmente III)

 

(XXI.)

Nichts hatte einen vorgefertigten Lauf
und das Bunte und Spielerische
ist auch das Chaotische und Grelle
in der Geschichte, im Redefluss nicht linear.
Obwohl eben gerade Schule feste
Regeln bedeutete und man in einer Linie
vor der ersten Unterrichtsstunde im Jahr stand.
Die ersten vier Jahre blieben die Eltern
in Lwiw, besuchten den Sprössling manchmal,
da die Familie schon bald Zwillinge bekam:
der Junge mit einem blauen und die Tochter
mit einem roten Band im Geburtshaus versehen.
Dann wechselte man den Ort: die Grundschule
besuchten die Geschwister auf dem Lande
und der Ältere ging in die Stadt.
Von heute aus gesehen, ist es fast unbegreiflich,
wie das geschah. Wo und wann jeder war und mit wem:
die Telefonate, an- und abreisende Eltern, dann
die Gegenbesuche der Geschwister auf dem Land,
so war auch dieses Pendeln hin und her im Kindesalter
und sowohl im Raum als in der Zeit.

 

(XXII.)

Selbstgemachtes

Im Allgemeinen war das die Zeit
des Selbstgemachten, Selbstgebastelten,
alles, was später schlicht die Aufschrift Firma trug.
Die Materialien direkt aus Betrieben und
von wo und wem auch immer enteignet hierher beschafft.
Für das Bauen eines Kettcar hatten die Väter
mehr Zeit und Elan gehabt.
Jenseits der ganzen Serienproduktion
und der Waren für alle wurde den wirklichen
Bedürfnissen nicht nachgegangen.
Defizite und Überproduktion wurden nicht
reguliert, so erfand man selbst, was man brauchte
und nicht kaufen konnte. In diesem Konstruktor
des Materiellen, mit Hilfe von Zeitschriften zu den Themen
Technik und Bauen, half sich das Volk selbst.
Und Bastler kreierten ein Wunder für
sich selbst oder die Familie. Zum Neid der Nachbarn,
bis das schwarze Loch des Unternehmertums alles
um sich Gravitierende in Konsum verwandelte
und dann eventuell neues Know-How hervorbrachte.

 

(XXIII.)

In die Stadt

Die Stadt erschien mit so viel Licht am Abend
in den Straßen wie eine Extravaganz. Die Elektrizität
zu Hause war plangemäß abgeschaltet, die Kerosinlampe
roch stark und erschwerte das Lesen. Das düstere
Licht zuhause galt auch als Ausrede bei den
strengen Lehrern, ein Anflug von Stadtpatriotismus
überkam sie, die Lwiwer waren hochmütig
und arrogant. Doch war es in der Vorstadt
anders als auf dem Lande. Vom Busbahnhof
fuhr ein Trolleybus meist brechend voll
in Richtung Zentrum, die Haltestelle
mit einer Pressebude Anfang der 90er,
sich schnell ändernde Stände, dann zu Kiosks
umgebaut, nebenan das Treiben der Hütchenspieler,
die zuerst tricksten und später zu Taschendieben wurden.

 

 

(XXIV.)

Der Beruf der Eltern

Am Interessantesten waren noch das sowjetische
Café mit Aquarium und das Flugzeug inmitten eines Parks.
Die Fernbusfahrer kamen stets zum Busbahnhof nebenan
zur Untersuchung auf körperliche Tüchtigkeit und
wurden in der Praxis auf den Plakaten
mit einer aufgedunsenen grüngefärbten Figur, umschlungen
von einer Schlange, vor Sauferei und Alkoholismus
gewarnt. Viele Stunden dort am Arbeitsplatz der Mutter
verbracht. Die Schule in den Vorkarpaten – viel später.
Seit die Zwillinge zur Welt kamen,
aufs Land in Obhut bei den Großeltern
Die Sowjetzeit war super fürs Sammeln,
sogar mein Vater hatte als Nichtraucher einen Schrank voll
noch verpackter Zigarettenschachteln aus dem Westen,
die in den Zeiten des Mangels so einfach nicht zu finden waren.
Die Songs, die stets krass durch alle Zimmer hallten, waren
gesungen von Wysotskyj, des Vaters, eines Geologen, Vorbild,
50 Platten, es brüllte durch die Wohnung,
was Mutter nicht gefiel, weshalb es oft zu Ärger kam.

 

(XXV.)

Neue Technik

Das Neue in der Stadt, das hieß
das nun mehr Populäre, fand sich in der Musik,
beim Basketball, beim Skaten, denn im Dorf
hatte man die gleichen chinesischen Keds
wie der Nachbar, obwohl man
des Freundes Musik auf Kassetten mochte, und die
ersten simplen Konsolenspiele.
Doch die sollte es auch später geben
Panzerkrieg als Zeitkiller.
Die Stadt lag nah, ermöglichte
die Wochenendbesuche der Eltern und Telefonate.
Die Leute auf dem Lande sind anders. Man erlaubt
sich als Kind sogar schon Scherze am
Telefon, man antwortet dem anrufenden Schuldirektor
er solle auf das Dach klettern und gucken,
wer da spricht.

 

(XXVI.)

Muster

Es ging in der Kindheit generell um
Nachahmung, die manchmal sogar
bis ins erwachsene Alter anhielt. Man malte Tom Sawyer ab,
die Smurfs und bastelte Radios selbst nach,
wie bereits früher, in der XXII. Strophe erwähnt.
Wer könnte besser die Verkörperung der Inbrunst sein
wenn nicht unser Fußballtrainer, bei Gerüchten über ihn
hörte ich genau hin, wo er studierte,
wen er heiratete; ich beobachtete,
wie er weit bis an den Waldrand joggte. Für die Mannschaft
war man noch zu jung und verbrachte einen Großteil
der Zeit auf der Bank, doch im Spiel auf der Straße
gab es wenige Regeln und noch weniger Pfiffe.
Bis zur Erschöpfung und Errötung, sogar mit
Abdrücken eines Basketballmusters
auf dem Körper, wenn man im Tor stand.

Kyiv, Januar-Mai 2019