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Welche Gedichtsbücher sind besonders empfehlenswert?

Lyrikexpertinnen und -experten haben zehn deutschsprachige und zehn ins Deutsche übersetzte Gedichtbände ausgewählt, die sie begeistern und die sie Leserinnen und Lesern ans Herz legen wollen. Beachtet wurden Neuerscheinungen von Anfang 2022 bis März 2023. In diesem Jahr stammen die Empfehlungen von Nico Bleutge, Nora Bossong, Marie Luise Knott, Christian Metz, Ronya Othmann, Kerstin Preiwuß, Ilma Rakusa, Joachim Sartorius, Daniela Strigl und Norbert Wehr. Die Lyrik-Empfehlungen wurden zum Welttag der Poesie, am 21. März, in über 100 Buchhandlungen und Bibliotheken präsentiert. 

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Empfehlung von Christian Metz:

Sirka Elspaß: ich föhne mir meine wimpern

Suhrkamp, Berlin 2022, 71 Seiten, 20 Euro

Klingt wie ein Beauty-Tipp. Ist aber eine Form hochriskanter Selbstverletzung: ich föhne mir meine wimpern, das Debüt von Sirka Elspaß, lotet vom Titel an die Grenzen zwischen Schönheit, Liebe, Gefahr und Verletzbarkeit aus: »ich will eine narbe die aussieht / wie du«. Virtuos überblendet Elspaß verschiedene Tonlagen und Register. Sätze, als wären sie der Twitter-Zirkulation entrissen: »ich schaue mir sehr lange meine socken an / und dann / auch dein gesicht«. Sprachfetzen aus der Selbsthilfegruppe: »einen körper zu haben bedeutet enorme verantwortung / und niemand kommt auf die welt / und weiß wie es geht«. Trivialitätsphantasien mit fieser Pointe: »in der gruppe für menschen mit essstörung / spricht jemand einen toast aus / auf das leben«. Und dazu liefert Elspaß auch noch kluge Reflexion: »die tränen einfach laufen lassen / ist auch so ein abgefahrenes konzept / das ich lange nicht verstanden habe«. Tränen laufen lassen, wie man einen Dieb laufen lassen könnte, statt ihn zu fassen? Elspaß verwischt die Grenzen zwischen Parodie, Ironie und Ernsthaftigkeit. Über viele Jahre gereifte, unbedingt bestaunenswerte Poesie. 

Empfehlung von Nora Bossong

 Christian Lehnert: opus 8. Im Flechtwerk

Suhrkamp, Berlin 2022, 117 Seiten, 22 Euro

Christian Lehnerts Gedichte sind Meditationen über die Schöpfung und über das, was die Natur uns offenbart, wenn wir es wagen, uns ihr unverstellt anzunähern. So streng die Texte in diesem Band durchkomponiert sind, so frei entfalten sie uns das Wunder des Seins und Werdens und schulen unsere Wahrnehmung unserer sich transformierenden Umwelt. Miteinander verflochten sind nicht nur die Zeilen, sondern das Leben selbst, das sich in Lehnerts an die Wurzel gehenden Betrachtungen in Sporen wie im Schwelbrand, im Walgesang wie in einem Schwarm Winterbienen zeigt. Sie scheinen dabei immer der Frage nachzugehen: »Was nährt den Lichtschein / den ich in mir trage?« opus 8 ist in seiner religiösen Zartheit und Zeitlosigkeit ein wohltuend stiller und versöhnender Gegenpol zu der lauten Meinungsmaschinerie der Gegenwart.

Empfehlung von Nico Bleutge:

Ferdinand Schmatz: Strand. Der Verse Lauf

Haymon, Innsbruck / Wien 2022, 122 Seiten, 22,90 Euro

Wie weit reicht die Realität? Wie nah kommt die Sprache? Oder umgekehrt. In diesen Versen geht alles »aus augen, nase, ohr, fuss, arm, / flügelnd über mich hinaus«. Auf dass sich »du, und ich und wir« und Orte und Bilder und Namen gleichsam ineinander spiegeln. Und ineinander diffundieren. Sich immer wieder anders zusammenfügen. In sechs großen Zyklen entfaltet Ferdinand Schmatz eine »Hybridsphäre« der Metamorphosen. Es ist eine Strand- und Meereswelt, in der er sich den Elementen widmet und ebenso mit der Idee des Elementaren spielt. Jede Düne ist hier zugleich ein Lautwirbel, das Geräusch der Brandung zugleich das Rauschen der Sprache. Langsam bewegt sich sein Sprecher durch die Gegend, mäandernd fast, hat mal Sand unter den Füßen, dann wieder Algen, immer aber »wider festen stand«. So dreht Ferdinand Schmatz Reime, schleust Zitate ein und findet nebenbei schöne Wörter wie »mildsummig« oder »beetfein«. Nach der Lektüre dieses Bandes ist man sattsam durchgespült und verwandelt. In sich selbst. Und in der Welt.

Empfehlung von Norbert Wehr

 Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du

Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022, 284 Seiten, 26,80 Euro

Mit einem Nachwort von Maren Jäger

»Außer dieser Trödelbude von Gedächtnis / gibt es nichts mehr auf der Welt, denkst du […]«. So beginnt Ernest Wichners Gedicht »Zwei Glockenschläge«, das den Freunden Gellu Naum und Oskar Pastior gewidmet ist, zwei Dichtern, mit denen Wichner ein lebenslanges Gespräch führte, als Übersetzer, als Herausgeber – und als Autor. »Zwei Glockenschläge« ist ein neues Gedicht in einem Band, der Gedichte aus mehr als dreißig Jahren versammelt. Wichner orchestriert darin einen Chor verschiedenster Formsprachen, mit einem großen Register an Motiven (und Referenzen unter anderem an Konrad Bayer, Gerald Bisinger, Adolf Endler, Elke Erb, Thomas Kling, Tristan Tzara). Und immer wieder kehrt er in den Hallraum seiner Kindheit in Guttenbrunn zurück, einem Dorf im Banat / Rumänien. Er habe, hat er sein Verfahren erklärt, oftmals Dinge aufgeschrieben, von denen er noch gar nicht wusste, dass er sich an sie erinnert habe, die Erinnerung daran habe selbstständig zu arbeiten begonnen … Das Ergebnis sind Gedichte von halluzinatorischer Kraft – und der gesamte Band: eine beeindruckende Lebens- und Arbeitssumme.

 

Alle Empfehlungen finden Sie hier.

Die Lyrik-Empfehlungen sind ein gemeinsames Projekt von: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Stiftung Lyrik Kabinett, Haus für Poesie, Deutscher Bibliotheksverband und Deutscher Literaturfonds.