Schullektüre und Junges Lesen (11). Von Leander Steinkopf

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Henri Rousseau (1844-1910): Spazierende Frau in einem exotischen Wald, 1905.

Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.

Im Interview: Nora Gomringer (*1980) ist eine schweizerisch-deutsche Dichterin und Direktorin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen gehören Gottesanbieterin und Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren, erschienen bei Voland & Quist. Nora Gomringer wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Bayerischen Verdienstorden, dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis.

Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation.

Mit der folgenden neunteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Wie kamst Du zum Schreiben?
Es war eine Form der Kommunikation mit meinen Eltern. Klingt komisch, aber meine Eltern waren sehr in ihren beruflichen Leben „verborgen“. Wenn ich einen guten Aufsatz oder schon ganz früh, kleine Bilder, Texte, Schreibmaschinen-Tippereien vorzeigte, fühlte ich mich am meisten von ihnen „gesehen“.

Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Lyrik?
Bestimmte Gedichte haben mich immer umgeben, weil ich ja in einem Haushalt von einem Dichter und einer leidenschaftlichen Lyrik-Lektorin groß wurde. In Mamas Arbeitszimmer hatte Ruhe zu walten und sie hatte eine so wunderbare Auswahl in ihrer Bibliothek, dass ich stundenlang bei ihr saß und gerne zu bestimmten Büchern immer wieder zurückkehrte. Gerne alle bunten Bücher.

Was kann Lyrik, was Serien und Filme nicht können?
Hm. Da ich mich besonders für Lyrik interessiere, die in Filmen und Serien verwendet wird, und es seit meiner Kindheit zu meinem Hobby gemacht habe, diese zu sammeln, wüsste ich das gar nicht zu sagen. Diese wunderbaren, eindrücklichen Kulturzeugnisse gehen oft fantastisch Hand in Hand. Das liegt natürlich auch an dem Genius so mancher Drehbuchautorinnen und -autoren.

Hast Du als Schülerin gern gelesen?
Generell nicht. Nur Lyrik. Am liebsten hatte ich, wenn man mir vorlas. Das tat meine Mutter jeden Abend: Märchen von Grimm und Bechstein, Dorothy Parker, Christine Nöstlinger, anthropologische Schriften, Gedichte von Heinrich Heine und anderen. Ich habe erst mit 16 richtig begonnen für mich zu lesen. Vorher nur sporadisch Prosa: Erich Kästner und die TKKG-Bücher von Stefan Wolf. Noch heute habe ich Phasen, in denen ich kaum lese, aber trotzdem Bücher kaufe – für den Moment, wenn es mich wieder packt. Gedichte aber „gehen immer“.

Hat Dir Schullektüre im Leben weitergeholfen?
Komischerweise muss ich immer wieder mal an Die Insel der bauen Delphine von Scott O'Dell denken. Das gefiel mir damals nicht, aber ein paar Kapitel darin waren eindrücklich. Und ich habe was übers Leben in Einsamkeit verstanden. Was wirklich half: Der Gallische Krieg von Julius Caesar und viele Texte im Altgriechisch-Unterricht, nicht nur Homers Odyssee. Das hilft mir halt jetzt oft, weil ich mich im Gespräch darüber austauschen kann. Und ich in meinem Job – den ja oft eher schon ältere Menschen ausführen: Direktorin oder Direktor sein – auf Menschen treffe, die es sehr schätzen, wenn man „ihre Sprache“ spricht, Dinge, die sie kennen und mögen, schätzt.

Gab es ein Gedicht, welches Du in der Schulzeit gelesen hast, das Dich in besonderer Weise geprägt hat?
Die Waldeinsamkeit von Heinrich Heine. Ich arbeitete intensiv daran, weil ich damit in einer Schauspielschule vorsprechen wollte. Bis ich erfuhr, dass man das an manchen Schulen nicht schätzte. Es mussten dramatische Texte sein. Wer hören will, wie ich den Text spreche, kann ihn in einem gleichnamigen YouTube-Clip finden.

Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Gedicht würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Ich würde so acht verschiedene zusammenstellen und die ein Jahr lang immer wieder den Unterricht begleiten lassen. Immer wieder darauf zurückkommen und bestimmte Dinge darin hervorheben. Auch die Biografien der Autorinnen und Autoren. Es ist wichtig, dass man später mal das Gefühl hat, wow, was ich damals seltsam fand, hat sich eingeprägt und ist mir jetzt nützlich. Jeder von uns muss mal an einem Mikro stehen oder überlegen, welche Zeilen auf eine Todesanzeige müssen. Es ist gut, wenn man dann etwas im Hintergrund hat und weiß: Ich weiß, wofür das steht. Und wer ich bin, wenn ich diesen Text, dieses Zitat nutze.

Warst Du ein eine gute Schülerin?
Ja. Die meiste Zeit. Ich hatte eine ziemliche Krise in der 10. Klasse. Meine Familie war auseinandergedriftet, ich war sehr viel allein, oft traurig und wir zogen um. Alles ziemlicher Horror damals. Aber auch spannende Dinge. Erster Kuss, große Gefühle, viel Theaterspielen (auf der Bühne) und viel Musik und Fahrrad fahren.

Welches Gedicht würdest Du heute Deinem jugendlichen Ich empfehlen?
Ich würde ihm empfehlen, seine englischen Lieblingslieder mit mehr Aufmerksamkeit zu lesen und zu übersetzen. Ich habe einfach nur immer mitgesungen und nahm gar nicht immer wahr, wie tief, wie doof oder wie wichtig für später viele Songs waren.

Wurde in Deiner Familie viel gelesen?
Ja. Vor allem aber war die Buchwelt nichts Fremdes. Bücher kaufen, sich lange Zeit in Buchläden aufhalten, in Bibliotheken und Archiven – ich fand das toll. Die Eltern Bücher kaufen sehen war sehr prägend. Man kann sich durch Lektüre Glück verschaffen.

Was war die frustrierendste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?
Bram Stokers Dracula hatte ich als Thema für mein erstes Referat gewählt. Ich glaube, ich tat dem tollen Buch keinen Gefallen in meiner Vorstellung. Es hat mich tief beeindruckt. Nur noch wichtiger und nachhaltiger ist Frankenstein von Mary Shelley.

Was war die schönste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?
Ich liebte mein American Literature-Schulbuch in der 11. Klasse meiner amerikanischen High School, die ich 1997 und '98 bis zur Graduation besuchte. Ich habe es aus der Schule geklaut und nach Deutschland mitgenommen. Darin ist das fantastische Gedicht Thanathopsis von William Cullen Bryant. Das ist mir so wichtig und ich halte es hoch wie einen Schatz. Und ich mochte ROMA 1-4 und Organon – die Schulbücher in Latein und Griechisch.

Hat Dir Lyrik im Leben weitergeholfen?
Immer wieder. Hat mich getröstet, angesprochen und mir geholfen, wenn ich allein war oder mich nur so fühlte. Außerdem mochte ich dieses Denken an mich als Dichterin schon früh. Ohne den Film An Angel at my Table (von Jane Campion) über die chronisch schüchterne, so beeindruckende Janet Frame, der sie fast einen Teil des Gehirns amputiert hätten, weil sie sie für dumm hielten, hätte ich es aber nie gewagt, Dichterin zu werden.

Nora Gomringer, danke für das Interview!

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