„Vorladungen“. Von Natalka Sniadanko

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Natalka Sniadanko © Kateryna Slipchenko

Natalka Sniadanko (*1973 in Lwiw) ist Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin. 2001 präsentierte sie ihr Romandebüt Sammlung der Leidenschaften, die deutsche Übersetzung kam 2007 heraus. 2016 folgte ihr Roman Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen (ukr. 2013) und 2021 der die jüngere ukrainische Geschichte bis zur Gegenwart umfassende Roman Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde (ukr. 2017). Im Mittelpunkt steht Wilhelm von Habsburg, der König der Ukraine werden wollte. Natalka Sniadanko verließ nach der Ausweitung des Krieges gegen die Ukraine Ende Februar 2022 zusammen mit ihren beiden Kindern ihre Heimatstadt Lwiw. Zurzeit lebt sie in Marbach als Gastautorin des Deutschen Literaturarchivs. Seit 2022 ist sie korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, im Herbst nahm sie an den Tagungen des Netzwerks Eine Brücke aus Papier in Weimar teil.

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Vorladungen

 

der erste tag der familie nach erhalt eines einberufungsbescheids
dauert unnatürlich lange
so wie die letzte nacht mit dem verstorbenen opa
in der dorfhütte
jene nacht verbrachtest du nicht mit allen gemeinsam
fuhrst wieder heim nach der totenwache
erschöpft davon
und von den schlaflosen nächten im zug
du wirst nicht erfahren wie der morgen anbrach
worüber gesprochen wurde worüber geschwiegen
wie sich herausstellte
dass die frauen der dorfschänke
kein geld für den leichenschmaus nehmen wollten
hatte opa zu lebzeiten doch genug geld dort gelassen
opa war im krieg gewesen
er ging im alter von fünfzehn
brachte eine verwundung zurück
gingen ihm schnaps und geld aus
trank er kölnisch wasser und benzin
fast ist der tag schon rum
und dich schmerzt es noch
von all dem erst von der nachbarin erfahren zu haben
dein mann fasste sich kurz beim skypen
bei ihm sei alles soweit ok
ja den bescheid habe er entgegengenommen obwohl die briefträgerin
vorschlug so zu tun als wäre er nicht zu hause gewesen
keiner nimmt ihn beim ersten mal sagte sie
danach rief er nicht einmal an
hielt es wohl nicht für nötig
verschwendete keinen gedanken daran
was er dir sagen soll und wie
damit es weniger schmerzt
abends gab er sich bemüht zwanglos
als sei nichts gewesen
scherzte bereitete abendbrot zu
winkte ab wenn die fragen unbequem wurden
was ist mit der urlaubsplanung
was wird jetzt aus dem kredit
wie für die wohnung im winter zahlen
wer hilft der kranken mutter
deren rente vorne und hinten nicht reicht
und beide söhne sind fort
und ließen je zwei kinder zurück
du verstehst mich nicht wiederholte er
mein patenonkel versteht mich
aber sicher dachtest du dir
der patenonkel versteht
beleidigt schwieg er sich aus
dann fuhr er auf
lass dir was einfallen
so ist nun mal die situation in unserem land
du hast kein recht das zu sagen
du versuchst dir vorzustellen
wie sich die situation ändern würde
bringt auch er vom krieg
eine verwundung zurück und eine PTBS
die mit schnaps und benzin gegossen werden muss
wenn der arzt
diagnosen von ihm übergehen wird
und dass er auf einem auge nichts sieht
vielleicht wird er sagen
das stört sie ja nicht beim autofahren
und denken
wird also auch beim schießen nicht stören
du hast versucht die situation
in einem anderen licht zu sehen
wie er geraten hatte etwas darin zu finden
das positiv ist
dir vorzustellen wie eure kinder sich umdrehen
nach männern die an ihren papa erinnern
und den nachbarn bitten das rad aufzupumpen
wie sie sich wegducken wie gegen steine
gegen die worte dass dieses jahr nichts aus dem strandurlaub wird
obwohl schon alles gepackt ist
dir vorzustellen wie die kinder aufwachsen
wenn sie viel zu früh
verstehen dass es im leben
der eltern wichtigeres gibt
als ihre kindheit

 

(Aus dem Ukrainischen von Irina Bondas)