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06.02.2023, 12:00 Uhr
Michaela Meßner
Literarische Notizen aus Québec
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„Le moment fugitif“

Into the wild. Bericht aus Québec (3)

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Die Plaines d’Abraham, bester Ort für stille Lektüre. Alle Bilder © Michael Meßner

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Für einen Aufenthalt im Jahr 2022 wurde die Münchner Übersetzerin Michaela Meßner ausgewähltIm Literaturportal Bayern berichtet sie darüber in sechs Folgen. Alle Folgen finden Sie HIER.

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Laut dem gängigen Kanadaklischee befand ich mich im Land der endlosen Wälder und der unberührten Wildnis. Als in Bayern die Schwammerlsaison begann, zog es mich in die Natur hinaus, der Wald leuchtete mittlerweile in allen Farben, doch ich konnte ihn bisher nur aus der Ferne bewundern. Ohne Auto gelangte ich allenfalls in Parks, davon gibt es in Québec sehr viele. Schön gestaltete, aber sehr domestizierte Anlagen wie die Domaine Maizeret oder den Park bei der Chute Montmorency: überall kilometerweit gestutzte Rasenflächen.

Hier bin ich spontan aus dem Bus ausgestiegen, nur wo war das?

Alles schön, aber nicht ganz, was ich suchte. Dank Vanessa Hebding vom Literaturhausteam wurde der Kontakt zu Jean Désy hergestellt, der spontan bereit war, die neue Résidente aus Deutschland in die Natur zu entführen. Besser hätte ich es nicht treffen können! Jean Désy ist Schriftsteller, Arzt und Literaturdozent – abenteuerlustig, belesen und von entwaffnender Herzlichkeit. Er hat jahrelang an der Côte Nord bei den Innu, bei den Cree im Baie-James-Gebiet und bei den Inuit in Nunavik als Arzt gewirkt und viele Geschichten zu erzählen. Ich sollte meine tuque (Mütze auf Québecois) und Gummistiefel mitnehmen, meine Trail Runner gingen auch durch. Wir stapften auf der Île d’Orléans an der menschenleeren Nordküste durch den Schlamm, dort, wo sich die Kanadagänse sammeln und die Luft nach Meer riecht. Das war auch noch keine Wildnis, aber schon näher dran. Wir sprachen über tausend Dinge, auch den Krieg, der hier immer als verdrängtes Hintergrundrauschen mit dabei war, über Literatur, Albert Camus, Jean Désys Arbeit mit Jugendlichen, die Autochthonen, unser Verhältnis zur Natur – die Themen wären uns auch nach Tagen nicht ausgegangen. Dann machten wir an der einsamsten Stelle Halt, tranken frischen heißen Tee und schauten aufs Wasser hinaus zu den Kanadagänsen. Ein unvergesslicher Tag!

 

 

V.l.o.n.r.u.: Île d‘Orléans // Ahornsirupernte // Jean Désy // Kanadagänse // L‘envol.

Tags zuvor hatten mir bereits Marc und Marie vom Stammtisch Allemand ein nicht minder schönes Erlebnis bereitet und mich zum Cap Tourmente gebracht, einem geschützten Naturreservat, wo sich die Schneegänse sammeln, bevor sie zu ihrem großen Flug aufbrechen, ein grandioser Anblick. Leider waren die meisten schon weggeflogen, aber es war immer noch ein imposantes Schauspiel. Es gibt dort eine Beringungsstation für Wildvögel, ein Mitarbeiter des dortigen Naturschutzverbands steht den Besuchern zur Beantwortung all ihrer neugierigen Fragen zur Verfügung. Marie lief mit mir noch zum Gipfel hinauf, von dort hatte man eine herrliche Aussicht auf die sich verfärbenden Wälder.

 

V.l.n.r.: Schneegänse // Specht // indian summer // Cap Tourmente.

À propos Stammtisch Allemand Québec: Ich war sehr glücklich darüber, dass Marc Lautenbacher, den es aus Herzensgründen nach Québec verschlagen hat und der auch als Stadtführer dort unterwegs ist (unbedingt ausprobieren!) mich über das Literaturhaus kontaktierte. Nicht allein, dass er und seine Marie ungemein sympathisch sind – auf diese Weise hatte ich auch jeden Mittwoch Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen.

Les Salons d'Edgar – Stammtisch Allemand Québec.

In der Fremde sein ist nämlich auch anstrengend. Was fehlt, sind nicht nur die Gewohnheiten, es ist auch und vor allem der vertraute Blick der Anderen, der einen definiert oder bestätigt. Hier bin ich eine Fremde, hier knirscht es manchmal in der Kommunikation, hier sind die kleinen Dinge nicht mehr ganz so selbstverständlich. Ich hatte von Anfang an den Entschluss gefasst: In diesem Land will ich neben der Arbeit nicht bloß touristische Highlights abklappern, sondern vor allem Menschen kennenlernen und auch an Orte gehen, die ich nicht schön finde oder die einfach nur gewöhnlich sind, viel Bus fahren und Leute beobachten, alles aufsaugen. Dabei den Kontakt zur alten Welt auf ein Minimum beschränken, Eindrücke nicht gleich zigfach berichten, sondern einfach mal sacken lassen. Heute sind wir alle so vernetzt, dass es schwerfällt, „einfach mal weg“ zu sein. Vor Jahrzehnten war ich für ein Unterrichtspraktikum ein paar Monate in Mexiko Stadt, und da war das noch anders – weg sein hieß damals wirklich weg sein, Telefonieren war viel zu teuer, Briefeschreiben viel zu langsam.

Das hier war anders, ich musste den Kontakt bewusst ausschalten. Ich musste immer wieder an die Worte von Roger Willemsen denken: „Seid Flaneure, lasst euch treiben, nutzt alle Verkehrsmittel, wohnt in jeder Klasse Hotel, redet mit allen, die auf euch zugehen, findet die weiche Stelle in der Fremde …“

Flanieren und sich treiben lassen geht am besten alleine. So hat der Zufall eine größere Chance, und man lernt viele Menschen kennen. Vorausgesetzt, man hält es aus, nicht wirklich dazuzugehören. Ein amerikanischer Besucher des Stammtischs Allemand sagte zu mir: „Wenn man es erst einmal akzeptiert hat, dass man in der Fremde immer irgendwie ein Alien bleibt, ist man frei.“ Recht hat er. Und diese Erfahrung ist heilsam. Ich wünsche sie jedem.

Kleiner Exkurs über Treppen

Québec ist keine Stadt für Fußkranke oder Menschen mit Kniearthrose. Ständig geht es entweder steil rauf oder steil runter. Ich habe mich immer gefragt, wie das wohl hier im Winter ist und was die Leute machen, wenn es mal Blitzeis gibt. Sich anseilen? Man muss runter zum Hafen und rauf in die Altstadt, runter in die Unterstadt und rauf in die schönen Viertel. Oder man bleibt, wo man ist. Hier eine kleine Bilderstrecke über die großen und die kleinen Treppen sowie die Außentreppen und -treppchen …

 

 

V.l.o.n.r.u.: Treppe zum Ufer // Escalier du Faubourg // Feuerleiter // Wendeltreppen im Quartier St-Jean // Himmelstreppchen.

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Michaela Meßner hat Romanistik und Ethnologie in Mainz und München studiert und arbeitet seit 1990 als freie Übersetzerin. 1993 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet. 2017 nahm sie im Magisterstudiengang Literarisches Übersetzen einen Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wahr. Sie hat bislang rund 60 Titel aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und Lateinischen übersetzt, darunter Klassiker wie Emily Brontës Wuthering Heights, Alexandre Dumas‘ La Dame aux camélias oder Les Trois Mousquetaires sowie Sachbuchtitel, Monographien, Unterhaltungsliteratur oder Anthologien zur spanischen, lateinamerikanischen oder kubanischen Literatur. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans Désorientale der französischen Autorin Négar Djavadi.