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13.01.2023, 08:14 Uhr
Alexander Kratochvil
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Alexander Kratochvil © Mila Pavan

Lesenswerte ukrainische Literatur

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Gruppenbild ukrainischer Literaten bei der Eröffnung eines Denkmals für den Dichter Iwan Kotljarewskyj (1769-1838) in Poltawa 1903. V. l. n. r.: Mychajlo Kozjubynskyj, Wassyl Stefanyk, Olena Ptschilka, Lessja Ukrajinka, Mychajlo Staryzkyj, Hnat Chotkewytsch, Wolodymyr Samijlenko.

Dr. habil. Alexander Kratochvil, Literaturübersetzer aus dem Ukrainischen und Tschechischen sowie Slawist an der LMU München, stellt ukrainische Literatur in deutschsprachigen Übersetzungen seit den 2000ern vor. Feldforschungen über ukrainischen Sex, Graue Bienen und ein Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte: Für all das und mehr steht die Literatur des osteuropäischen Landes.

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Bereits die Titel der genannten Romane zeugen exemplarisch von der Vielfalt der ukrainischen Gegenwartsliteratur in deutschen Übersetzungen. Die Leser können dabei Bücher von einem guten Dutzend Autorinnen und Autoren verschiedener Generationen und aus verschiedenen Regionen der Ukraine entdecken, sie können in deren Geschichten eintauchen, die zu historisch dramatischen, friedlichen, aber auch kriegerischen Zeiten spielen, und sie werden dabei einer ganzen Galerie von Romanfiguren begegnen, die die europäische Literatur mit einzigartigen Charakteren bereichern. Da ich hier nicht alle Autorinnen und Autoren und schon gar nicht alle Bücher vorstellen kann, will ich exemplarisch auf eine Autorin und zwei Autoren eingehen, die auf jeden Fall zum europäischen Literaturkanon gehören. Zusätzlich gebe ich einige Lesetipps zu einigen unbedingt lesenswerten Romanen.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es in der Bundesrepublik nur sehr wenige Übersetzungen ukrainischer Literatur. Dies hing großteils mit der Wahrnehmung der Ukraine als Teil der Sowjetunion zusammen, wobei die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt wurde. In der DDR wurden einige Titel mehr übersetzt, wobei auch Klassiker des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zugänglich wurden. Außerdem müssen genannt werden: Anna-Halja Horbatsch, die mit ihrem 1995 gegründeten Brodina Verlag fast im Alleingang die ukrainische Literatur des 20. Jahrhunderts für deutschsprachige Leser mit eigenen Übersetzungen erschloss, sowie Irena Katschaniuk-Spiech, die die Klassiker des 19. Jahrhunderts oft in bibliophilen, zweisprachigen Ausgaben übersetzte und herausgab. Anfang der 2000er-Jahre beginnt eine neue Phase der Übersetzung ukrainischer Literatur.

 

Andruchowytsch

Den Auftakt für die Übersetzungen ukrainischer Literatur ins Deutsche machten vor gut zwanzig Jahren die Romane und Essays von Juri Andruchowytsch – eine der wichtigsten literarischen und intellektuellen Stimmen der Ukraine. Der Autor aus der Westukraine entwirft in seinen Texten einen mitteleuropäischen Kulturraum, zu dem die Ukraine aufgrund ihrer kulturellen, historischen und sprachlichen Verwicklungen einiges beigetragen hat. Auf geistreiche und unterhaltsame Weise werden diese Verwicklungen in drei Essaybänden entwirrt. Der Band Das letzte Territorium (dt. 2003) entwirft skizzenhaft eine literarische Reise durch die Ukraine der 1990er-Jahre. Sie führt durch Kyjiw, Lwiw, aber auch Tschornobyl oder die Karpaten. Dabei nimmt der Autor die Klischees über die Ukraine auseinander und reißt Mauern in den Köpfen der Europäer ein – ein Rezensent rechnete die Essays in der Hinsicht gar den „bewusstseinserweiternden Drogen zu“ (M. Jeismann, FAZ, 8. September 2003). Diese Texte verdeutlichen, warum sich dieses Land, das vom Westen gesehen bestenfalls als äußerste Peripherie wahrgenommen wurde, doch eigentlich im Zentrum Europas befindet. Nur haben wir in Deutschland die Ukraine nie gesehen, weil wir immer zu weit nach Osten starrten. Ganz nebenbei veranschaulicht Andruchowytsch in seinen Essays auf amüsante Art, wie erkenntnisfördernd postmoderne Ästhetik zu sein vermag.

Juri Andruchowytschs hat zudem zahlreiche Romane verfasst, die inzwischen komplett auf Deutsch zugänglich sind: Da fällt die Wahl schwer – einen möchte ich hier herauspicken, der verdeutlicht, dass Literatur nicht nur unterhalten kann, sondern auch ernstzunehmende Zeitdiagnosen stellt und Perspektiven eröffnet. In diesem Fall ist es die unterhaltsame, aber auch beklemmende Geschichte, die im Roman Moskoviada (dt. 2006) erzählt wird. Es handelt sich um einen Höllentrip durch das Moskau am Ende aller Zeiten, also 1991. Der ukrainische Literat und Stipendiat am Gorki-Literaturinstitut in Moskau Otto von F. (an dem sich Andruchowytsch gerade zu jener Zeit aufhielt), gerät in einer Abwärtsspirale durch schäbige Kantinen und Trinkhallen in die Moskauer Unterwelt (in mehrfacher Wortbedeutung), wo in einem Showdown der KGB mit einer Monstershow die Sowjetpotentaten wieder auferstehen lässt, um mit Hilfe von Rattensoldaten, das Sowjetimperium wiederzuerrichten – die Aktualität der Protagonisten, ihr pseudohistorisches Gefasel, ihre Inhumanität und ihr imperialistischer Wahn sind düster, oder wie es in einer damaligen Rezension hieß, mit „einer Art Schock-Collage entsteht das Sittengemälde einer zutiefst brutalisierten, vulgarisierten Gesellschaft“ (D. Graf, republik.ch). Auch in den weiteren Romanen des Autors sind Anspielungen auf den europäischen literarischen Kanon, die europäische Geschichte zentral. Bei all den sprachlichen Feuerwerken, bizarren Situationen und grotesken Bildern, den in diverse Abenteuer und Liebschaften verwickelten Protagonisten merkt man jedoch stets die ästhetische Verantwortung für die geschichtlichen Kontexte der Ukraine und Europas an, was eine äußerst inspirierende Lektüre ist.

 

Sabuschko

Die historischen Kontexte des imperialen und totalitären Europas im 20. Jahrhundert und deren Nachwirkungen sind ein tragendes Thema in Oksana Sabuschkos Werk. Dies gilt auch für Feldforschungen über ukrainischen Sex (dt. 2006), wobei man wegen des Titels erst einmal in eine andere Richtung denken wird, vielleicht auch ein Grund, weshalb dieser Roman der erste ukrainische Bestseller wurde. Jedenfalls ist es ein „ziemlich wüstes Stück Literatur“ (S. Zekri, SZ, 2. März 2006). Das Manuskript kursierte als Raubdruck in mehreren „Auflagen“, bis sich die Autorin entschied, eine legale Version in Buchform zu publizieren. In dem Roman präsentiert eine autobiographisch inspirierte Ich-Erzählerin in einem atemlosen Bewusstseinsstrom, wie das weibliche Erzähler-Ich durch das Fegefeuer einer scheiternden Liebe geht. Diese Ich-Erzählerin ist auf ihre Art als sehr quirlige Personifizierung der postimperialen und postsowjetischen ukrainischen Kultur und Gesellschaft angelegt. Infolge des etwa drei Jahrhunderte andauernden russischen Bestrebens die Ukraine zu kolonisieren und zu russifizieren, sie zu einem gefügigen Teil des russischen Imperiums zu machen, war die Ukraine gegen Ende der Sowjetära auf dem traurigen Weg zu einem mentalen und territorialen Kleinrussland zu werden: so wie Russland die Ukraine gerne hätte und tatsächlich seit dem 18. Jahrhundert auch bezeichnete. Während die Erzählerin über die sexuellen, existentiellen, aber auch kulturellen und nationalen Kontexte der gescheiterten russisch-ukrainischen Beziehungen nachdenkt, entwirft sie für ihre Leser ein Panorama der Ukraine des 20. Jahrhunderts aus einer pointiert weiblichen Sicht. Diese übersetzt Fragen der nationalen und kulturellen Identität in die Sprache des weiblichen Körpers und verknüpft damit kollektive und individuelle Traumata. Damit werden in einer für die Autorin typischen Schreibtechnik soziale und historische Zusammenhänge der ukrainischen Identität umkreist. Der Sex im Titel des Romans wird zu einer Projektionsfläche vielfachen Strebens und Scheiterns in individuellen, kollektiven und nationalen Zusammenhängen.

Oksana Sabuschko gehört bis heute zu den streitbarsten Intellektuellen in der Ukraine und auch in ihren Essays, auf Deutsch zusammengefasst im Band Planet Wermut (dt. 2012), sowie im Essay Der lange Abschied von der Angst (dt. 2018) werden die vielen Schattierungen von Gewaltausübung, die das Denken und Handeln deformieren, überzeugend und anschaulich dargestellt. Sowohl die Essays als auch der Roman Feldstudien machen den westlichen Lesern ihren von Russland unreflektiert übernommenen imperialen Blick auf die Ukraine deutlich.

Oksana Sabuschko © Aleksandra Pawloff (Literaturverlag Droschl)

Der Erzählband Schwestern (dt. 2020) bietet einen Querschnitt der Kurzprosa der Autorin aus den Neunzigerjahren. Der gemeinsame Nenner der vier thematisch unterschiedlich gelagerten Geschichten sind Rolle und Wahrnehmung der Frau in gesellschaftlichen Zwängen und die Rebellion dagegen. Die Titelgeschichte Schwestern erzählt aus weiblicher Sicht von der totalitären Durchdringung und der Vernichtung der Privatsphäre durch das Sowjetregime. Besonders reizvoll ist die Langerzählung „Das Märchen von der Weidenflöte“. Hier zeigt sich, dass schwesterliche Beziehungen durchaus zu handfesten Konflikten mit tödlichem Ausgang führen können. Die Geschichte gründet auf einem ukrainischen Volksmärchen, sprengt freilich die Genregrenze des Märchens und verknüpft das Sujet mit dem alttestamentarischen Stoff von Kain und Abel, hinzu kommen Elemente der ukrainischen Folklore und Motive der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts. Der Text ist ein fantastischer Genremix, der an die magisch-realistische Texttradition der ukrainischen Literatur anknüpft.

Der große Roman von Sabuschko folgte dann 2010, mit dem vielsagenden Titel Museum der vergessenen Geheimnisse. Es handelt sich um einen Roman, der die Grenzen der Ukraine in Raum und Zeit, aber auch zwischenmenschlicher Beziehungen überschreitet und nicht zuletzt im Wechsel der Generationen die Grenzen von Leben und Tod verwischt. Es ist ein „großer Geschichtsroman, eine berührende Liebesgeschichte und eine scharfe Gegenwartsanalyse“, wie die Rezensentin Ilma Rakusa (NZZ, 4. November 2010) schreibt. In dem Roman schneidet Sabuschko alle gesellschaftlich und kulturell relevanten Themen der gegenwärtigen Ukraine an: die durch Stalin künstlich erzeugte Hungersnot der Jahre 1932/33 („Holodomor“), der Millionen Ukrainer vor allem auf dem Land zum Opfer fielen, die deutsche Besatzung der Ukraine, die Rolle der UPA (Ukrainische Aufstandsarmee), die innere Kolonisierung der Ukraine während der Sowjetzeit und schließlich die Korruption in Politik und Wirtschaft, die Entstehung des Oligarchentums und dessen mafiöse Machenschaften. Dies ist die historische Folie, vor der die „kleinen Geschichten“ der Menschen erzählt werden, die sich in der „großen Geschichte“ und ihren Verwerfungen zurechtfinden müssen. Die Autorin versteht es dabei meisterhaft, die verschiedenen Geschichten und Zeitebenen souverän miteinander zu verschränken, ohne den Leser zu verwirren. Der Roman heißt nicht zufällig Museum der vergessenen Geheimnisse. Er ist wie ein Museum aufgebaut, statt einzelner Kapitel finden sich Säle, durch die der Leser zusammen mit der Erzählerin schreitet. Das Museum ist ein symbolhafter Ort, er ist verbunden mit dem kulturellen Konzept der Aufbewahrung und Archivierung, aber auch Präsentation und Vermittlung von Wissensbeständen. Vor dem Hintergrund des historischen Gedächtnisses und seiner Bedeutung für die Gegenwart wird auch Kritik an gesellschaftlichen und politischen Missständen formuliert – es ist somit auch ein gesellschaftskritischer Roman, in dem die Gegenwart auf die Vergangenheit verweist, und die Vergangenheit zur dramatischen und oft tragischen Vorwegnahme aktueller, heutiger Konstellationen wird.

 

Zhadan

Während Sabuschko und Andruchowytsch das imperiale und gewalttätige Erbe Russlands und dessen Auswirkungen in der Ukraine thematisieren, stellt Serhij Zhadan mit seinem Schaffen eine ukrainische Transitkultur dar. Ihre jugendlichen Vertreter entsorgen die postsowjetischen Relikte, indem sie sie auf kreative und unterhaltsame Art recyclen, was man als „post-proletarische Punk-Dichtung” bezeichnet hat. Dazu trägt die Topographie von Zhadans Dichtung und Prosa bei. Sie sind von einer Landschaft inspiriert, in der verrottende Industrieanlagen und Trabantenstädte wie Mahnmale und letzte Zeugen des gescheiterten Sowjetexperiments aufragen. In den Romanen Depeche Mode (dt. 2007) oder Die Erfindung des Jazz im Donbas (dt. 2012) durchstreifen die Protagonisten eine solche postsowjetische Ruinenlandschaft. Dabei wird man als Leser von der visuell-eindringlichen Sprache in Bann geschlagen. Sie hat Parallelen zu Zhadans Lyrik, die meist im freien Vers verfasst und stark rhythmisiert ist, so im Gedichtband Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts (dt. 2006).

Im Roman Die Erfindung des Jazz im Donbas kreiert der Autor aus einer postsozialistischen Landschaft des Donbas und ihren Bewohnern eine sehr poetische „neue Heimat Ostukraine“. In der durch den Krieg nun historisch gewordenen Darstellung des maroden Industriereviers wird der Donbas zu einer fantastischen Landschaft, in der Steppennomaden und andere Gespenster der Vergangenheit umhergeistern. In dem Roman wird auf faszinierende und unaufdringliche Weise ein postindustrieller Mythos von Humanität entfaltet, deren Träger zwar in materieller Hinsicht die Verlierer der Wende in den 1990er-Jahren zu sein scheinen, die aber Kraft und Zusammenhalt aus einem Heimatgefühl entwickeln, das über Lokalpatriotismus hinausgeht. Es ist vielleicht diese Kraft des Zusammenhalts, die die Ukrainer den Donbas im gegenwärtigen Krieg so tapfer verteidigen lassen. Diese „Geo-Poetik“ der Ostukraine hat sich mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine ab 2014 für Zhadan zur Geo-Politik gewandelt.

Der Autor engagierte sich für die Menschen in den sog. Separatistengebieten und thematisierte die Situation von Zivilisten zwischen den Fronten im vielfach ausgezeichneten Roman Internat (dt. 2017). Der Roman entfaltet eine Odyssee der beiden Protagonisten durch das Kampfgebiet. Hier präsentiert Zhadan seine meisterhafte Beherrschung sämtlicher stilistischen und sprachlichen Register mit einer alle Sinne ansprechenden Darstellung der „Atmosphäre der Apokalypse“ (K. Granzin, FR, 17. März 2018). Die Reise der beiden Helden (ein Vierzehnjähriger und sein Onkel) wird nicht in epischer Breite erzählt, sondern szenisch dargestellt. Zhadan erzählt den Krieg von unten, aus der Sicht derer, die sich vor dem gewalttätigen Geschehen wegducken und verstecken müssen, den zerstörerischen Auswirkungen hilflos gegenüberstehen: Frauen, Kinder, Alte und Invalide. Im Roman werden trotz des politisch und gesellschaftlich sensiblen Themas keine ideologisch unterlegten Schuldzuweisungen verhandelt. Und doch sind sie natürlich unausgesprochen da, denn der Roman lässt sich nicht denken ohne die politischen und historischen Kontexte der Akteure und Ideologien, die mit ihren omnipräsenten Ablegern in den Medien durch Propaganda, Slogans oder Fake News als wichtige Faktoren in diesem Krieg wirken. Diese Zusammenhänge lassen die Sinnlosigkeit jedweden Kriegs angesichts der ganz realen körperlichen und seelischen Verwundung von Soldaten und Zivilisten, der Brutalität gegenüber Frauen und Kindern, des Todes, der Verwüstung von Stadt und Land wie eine absurde und apokalyptische Inszenierung erscheinen. Und tatsächlich ist Serhij Zhadan ein „gefährliches Talent“ und zugleich „aktuell, hautnah, akut“ (K. Petrowskaja, FAS, 11. März 2018) – wie die aktuellen Ereignisse verdeutlichen.

 

Kurkow

Aus der Vielzahl der weiteren Übersetzungen ukrainischer Literatur sei unbedingt Andrej Kurkow, der derzeitige Präsident des ukrainischen PEN-Clubs, genannt. Kurkow ist hierzulande wahrscheinlich der bekannteste ukrainische Autor mit einer Vielzahl übersetzter Romane. Unvergesslich ist sein Krimi Picknick auf dem Eis (dt. 2000) mit dem Pinguin Mischa, der mit dem etwas schrulligen Viktor in einer Kyjiwer Wohnung lebt. Viktor schreibt Romane für die Schublade und im Auftrag einer Mediengruppe auch Nekrologe über Promis, die noch nicht verstorben sind. Wie jeder Autor möchte Viktor seine Texte auch veröffentlicht sehen. Ein Wunsch, der überraschend schnell in Erfüllung geht... Kurkow hat den Krieg im Donbas und die Annexion der Krym im Roman Graue Bienen (dt. 2019) literarisch gestaltet. Und auch hier sind es keine Kämpfer, die im Mittelpunkt stehen, sondern „normale Menschen“. Diese sind durch ihre Haltung oder auch Enthaltung nicht ganz unschuldig an den Kämpfen, dem Chaos und der Zerstörung. Die Bienen erscheinen dagegen als Symbol natürlicher Ordnung und Wohlergehen.

Andrej Kurkow bei seiner Dankesrede zum Geschwister-Scholl-Preis 2022 im großen Saal der LMU München © Emanuel Klempa 

 

Irwanez, Wynntschuk, Matios

Oleksandr Irwanez ist ein hierzulande wenig bekannter Autor, dessen Roman Pralinen vom roten Stern (dt. 2017) es freilich in sich hat! Die Stadt Riwne, im Nordwesten der Ukraine gelegen, wird durch eine Mauer in zwei Zonen geteilt – in das zur Westukrainischen Republik gehörende Riwne und in Rowno. Rowno ist Teil der Ukrainischen Republik, in der man nicht nur politisch, sondern auch sprachlich ins russische Imperium zurückgekehrt ist. Hinzu kommt die fragwürdige Rolle des Deutschen namens Maulwurf bei der geplanten Wiedervereinigung der beiden Zonen. Reine Fiktion?

Jurij Wynnytschuk entwirft Im Schatten der Mohnblüte (dt. 2014) ein historisches Spektakel, ein kabbalistisches Traktat, eine Schelmengeschichte und Beschwörung der untergegangenen Stadtkultur des österreichischen Lembergs, des polnischen Lwóws und des ukrainischen Lwiws. Darüber hinaus ist es ein Roman über den Holocaust in Lemberg. Im Wechsel der Generationen kann man in diesem großen Epos das 20. und 21. Jahrhundert in der Westukraine durchleben. Als Binnenerzählung ist eine fantastische „Lesereise“ durch ein irres Bücherlabyrinth eingeflochten, die zugleich eine Hommage an die Weltliteratur ist.

Maria Matios' Roman Darina, die Süße (dt. 2014) erzählt die zutiefst traurige Geschichte von Darina, deren Schicksal die historischen Brüche in den Karpaten nachvollzieht, die die Menschen manchmal auch zerbrechen lassen. Der in fast alle europäischen Sprachen übersetzte Roman erzählt von Darina, die nicht spricht und scheinbar nicht ganz bei Verstand ist: Der Grund dafür liegt in der Vergangenheit. Der Roman führt tief hinein in die Kriegs- und Nachkriegswirren dieser Region, die plötzlich wieder so aktuell geworden sind und auch die Karpaten bedrohen.

 

Maljartschuk, Snadianko

In Tanja Maljartschuks Roman Blauwal der Erinnerung (dt. 2019) verknüpft sich das Schicksal der Ich-Erzählerin in der Gegenwart mit der historischen Figur von Wjatscheslaw Lypynskyi, einem berühmt-berüchtigten ukrainischen Politiker und Historiker polnischer Herkunft, der nach dem Ersten Weltkrieg vehement für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine eintrat. Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Maljartschuk hat sich in Sekundärliteratur, Memoiren, Briefe und Schriften eingearbeitet und lässt ihre liebestraurige Erzählerin daraus eine fantasiereiche Biographie Lypynskyjs destillieren, die wiederum für sie eine Art Rettungsanker sein soll. Ein aufregendes literarisches Experiment.

Tanja Maljartschuk © Michael Schwarz

Einen thematisch und historisch verwandten literarischen Stoff präsentiert Natalka Sniadanko in ihrem Roman Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde (dt. 2021). Dieser barock ausufernde Titel lässt eine wilde Geschichte vermuten: Tatsächlich steht der historische Wilhelm von Habsburg und sein abenteuerliches Leben als Beinahe-Monarch der Ukraine, als sowjetisch-deutscher Doppelagent, als ungekrönter König des Lemberger Schwarzmarkts nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt. Letztlich ist auch dieser Roman eine turbulente Familiensaga, in der gekonnt mehrere Zeitebenen des 20. und 21. Jahrhunderts ineinandergeschoben werden, wodurch sich ungewohnte Perspektiven und unterhaltsame Kombinationen von Ereignissen und Protagonisten ergeben.

Natalka Sniadanko © Kateryna Slipchenko

 

Deresch, Babkina, Senzow

Liebhaber der Popkultur kommen bei Ljubko Deresch und seiner Romantrilogie Kult (dt. 2005) – Die Anbetung der Eidechse (dt. 2006) – Intent! (dt. 2008) auf ihre Kosten. Zum Einstieg eignet sich Kult, ein Buch das Anfang der 2000er auch in der Ukraine Kultstatus hatte. Eine weitere Autorin, die über Irrungen und Wirrungen in Liebe und Leben einer Künstlerin in ihren Zwanzigern auf humorvolle und unterhaltsame Weise schreibt, ist Kateryna Babkina mit ihrem Roman Heute fahre ich nach morgen (dt. 2016).

Abschließend seien noch zwei Bücher genannt, die aus dem Strom der Übersetzungen ukrainischer Gegenwartsliteratur ausbrechen. Bei dem einen handelt es sich um Oleg Senzows Aufzeichnung während seiner Haft in den Jahren 2014-2019 in einem sibirischen Lager, wohin der Ukrainer von der Krym wegen angeblichem pro-ukrainischen Terrorismus verbannt wurde. Es trägt den schlichten Titel Haft (dt. 2021). Die Beschreibungen des Lageralltags während seines Hungerstreiks sind trotz aller oberflächlicher Eintönigkeit fesselnd und authentisch, sie lassen die Leser mitfühlen, was der Autor durchlebt. Dies liegt an der bewussten Rauheit des Textes, der alles unmittelbar wiedergibt und ihn zu einem Leseabenteuer werden lässt.

 

Pidmohylnyj – ein Klassiker

Das andere Ausnahmebuch, Die Stadt (dt. 2022) von Valerjan Pidmohylnyj aus den 1920ern, ist eine Rarität, denn ukrainische Klassiker der Moderne wurden bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Zugleich ist das Buch hochaktuell, denn mit der Stadt ist Kyjiw gemeint. Pidmohylnyj schafft es in diesem Roman, die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen der ukrainischen Aufbruchsperiode in den 20er-Jahren erzählerisch sichtbar und begreifbar zu machen. Zugleich ist es auch ein literarischer Reiseführer in eine versunkene Stadt.

Eigentlich sind alle hier genannten Bücher aktuell – und nicht nur wegen des russischen Kriegs: Sie thematisieren, reflektieren, re-konstruieren, ironisieren, berichten, informieren über die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhänge, über die konfliktreichen Beziehungen der Ukraine zu seinem Nachbarn Russland, aber die Bücher verdeutlichen auch die historischen und kulturellen Verflechtungen der ukrainischen Kultur mit Mitteleuropa. Es ist ein Abenteuer, sich darauf einzulassen. Es lohnt sich.

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