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14.12.2022, 12:48 Uhr
Peter Winkler
Text & Debatte
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Prof. Dr. Peter Winkler, Foto: 2016 (c) privat

Il ritorno della memoria, oder: Die Reise zu W. G. Sebalds Grab (2)

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Ordensburg von Sonthofen vor alpinem Hintergrund (Bildmontage)

Die 148. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Freundschaft. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich der ehemalige Ärztliche Direktor des Radiologischen Instituts im Olgahospital Stuttgart Prof. Dr. Peter Winkler mit dem in Wertach geborenen und in Norwich (UK) bei einem Autounfall verunglückten Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald (1944-2001). Heute, am 14. Dezember, jährt sich dessen Todestag zum 21. Mal. Das Literaturportal Bayern präsentiert Winklers Erzählung in einer Langfassung in drei Folgen

 

II.

 

Geschichte einer Reise

Eine Woche später konnte Eckehart sich wieder einigermaßen orientieren, hatte aber noch erhebliche Gedächtnislücken. „Du bekommst Besuch von Magnus“, sagte seine Frau. Welcher Magnus? „Der Magnus, der Physiker, der immer so erstaunliche Geschichten erzählt!“ Meine Frau sah mich freudig und hoffnungsvoll an. Ich wollte sie nicht enttäuschen und sagte: „Prima, ja, der erzählt uns bestimmt was Schönes.“ Magnus? Da gab es doch mehrere? War nicht Magnus der Apostel des Allgäus? Er hatte keine Ahnung und beschloss, einfach abzuwarten.

Es klopfte kurz. Herein kam ein Mann mit prominenter glatter Stirn und einem aufgeschlossenen, interessierten und direkt auf mich gerichteten Blick, der Sympathie zeigte und erzeugte. Er mochte um die dreißig Jahre alt sein. Das Gesicht war mir auf angenehme Weise vertraut. Jetzt erkannte ich Magnus Steinhauser, der mir bei der Begrüßung ein dunkelgrünes Buch gab. Ich betrachtete den Buchrücken: W. G. Sebald, Schwindel. Gefühle. Magnus sagte: „Ich habe dir dieses Exemplar besorgt, da ich deine Vorliebe für Erstausgaben kenne.“ Während ich mit großer Freude in dem Buch blätterte, begann er folgende Geschichte zu erzählen:

Schon lange hatte er beabsichtigt, seinen Allgäuer Freund, den Astrophysiker Manfred Walter wieder in England zu besuchen. Dieses Mal wollten sie einen lang bestehenden gemeinsamen Wunsch in die Tat umzusetzen: den Besuch des Grabes von W. G. Sebald auf dem kleinen Friedhof der St. Andrew Church bei Framingham Earl. Magnus wollte für seinen Freund etwas aus der Heimat mitbringen. Er entschied sich für den steingutummantelten Edel-Gebirgs-Enzian der Firma Turra in S. (In der Geschichte, die Magnus jetzt erzählte, sprach er den Namen seiner Heimatstadt S. natürlich aus. Für Interessierte ist der Ort leicht zu identifizieren, da es im Allgäu nur eine Stadt gibt, die mit „S“ anfängt und weithin sichtbar durch eine Ordensburg charakterisiert ist.)

Winfried Georg Sebald – dozierte Magnus und schaute mich dabei erwartungsvoll an – habe, wie ich sicher wisse, ab 1952 einen Teil seiner Kindheit in S. verbracht und dort später auch als Ausgewanderter seine Eltern besucht. Sebald habe sich damals mit der für ihn erschreckend präsenten, von seinen Eltern und der Bevölkerung von S. jedoch verdrängten und in seiner Brutalität weitgehend ignorierten und verschwiegenen Vergangenheit auseinandergesetzt.

So habe er von seiner Mutter 1984 erfahren, dass sich sein geliebter Volksschullehrer Armin Müller vor einem heranfahrenden Zug, der aus Altstätten kam, auf die Schienen gelegt habe. Armin Müller, so hätten Sebalds Recherchen ergeben, habe jüdische Vorfahren gehabt. Ihm sei es deshalb während des Nationalsozialismus verboten worden, deutsche Kinder zu unterrichten. Sebalds Eltern hätten dies gewusst, aber konsequent verschwiegen. Das habe Sebald – wie ich jetzt leicht erkennen könne – in der Erzählung Paul Bereyter verarbeitet. Magnus zog Die Ausgewanderten aus seinem Rucksack und las:

„Es wundert mich nicht, sagte Mme. Landau, nicht im allergeringsten wundert es mich, daß Ihnen die Gemeinheiten und Mesquinerien verborgen geblieben sind, denen eine Familie wie die Bereyters ausgesetzt war in einem solch miserablen Nest, wie S. es damals war und es, allem sogenannten Fortschritt zum Trotz, unverändert ist; es wundert mich nicht, denn es liegt ja in der Logik der ganzen Geschichte.“

Außerdem habe sich Sebald kurz vor seinem Tod mit seinem ehemaligen Kunstlehrer Franz Meier getroffen, um von letzterem gesammelte Dokumente über die Ordensburg von S. im Dritten Reich durchzusehen. Magnus las aus einem der Blätter vor, die er zwischen verschiedene Seiten der Ausgewanderten gelegt hatte.

Die Geheimrede

Am 23. November 1937 war der Besuch Hitlers in S. begeistert angekündigt worden: „Nun ist der große Tag gekommen, an dem das Oberallgäu zum erstenmal Adolf Hitler als Führer und Reichskanzler in seinen Bergen begrüßen darf. Wir haben seit langem auf diese Stunde gewartet und immer wieder gehofft, der Führer werde seinem grandiosen Werke, der Ordensburg in S., einen Besuch abstatten.“

„In diesem unbeholfenen Steinklotz,“ fuhr Magnus fort, „den viele Bewohner von S. noch immer als heimatliches und touristisch vermarktbares Wahrzeichen und keinesfalls als Mahnzeichen ansehen, hielt Heinrich Himmler am 21. Juni 1944 eine geheime Rede über die so genannte Judenfrage. Ich habe das Tondokument mit wachsendem Entsetzen angehört und mitgeschrieben.“ Magnus schien zu überlegen, ob er überhaupt lesen sollte. Er blickte mich an und sagte, er habe die Rede einem Freund vorgelesen, der sich bereits nach wenigen Sätzen die Ohren zugehalten habe. Wenn er, Magnus, den Text dennoch wieder lese, komme er zu dem Schluss, dass das Furchtbare die Mischung aus scheinbarer Logik, schamloser Offenheit und absoluter, unmenschlicher Grausamkeit sei. Diese Elemente würden in einer teuflischen Rede präsentiert, die nicht wenige unserer Vorfahren fasziniert und verführt habe. Magnus schaute mir in die Augen: „Gibt es nicht heute eine zunehmende Tendenz, ähnliche Argumentationen für politische Zwecke zu verwenden, bei denen zu Grausamkeiten und Missachtung der Menschenrechte aufgerufen wird?“

Magnus entschloss sich, nur beispielhafte Ausschnitte aus der damaligen Rede Himmlers zu lesen. Dieses wichtige und weitgehend unbekannte Tondokument hatte Magnus erstmals in einem denkwürdigen und herausragenden Vortrag des Geschichtslehrers und forschenden Historikers G. K. über die Ordensburg von S. gehört, in dem der Oberst K. W. S. als einer der Vorredner davon gesprochen habe, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee und das rechte Gesindel dort unerwünscht sei.

Er habe, führte Magnus aus, sich daraufhin aufgerafft, die Broschüre Streitkraft Bundeswehr des „Arbeitskreis Verteidigung der AfD“ von 2019 zu lesen, und darin in einigen Punkten eine Fortsetzung von Prinzipien des Dritten Reiches gefunden, wie sie auch im Lehrplan der Adolf-Hitler-Schule der Ordensburg in S. nachgewiesen werden könnten: „Auch das militärische Selbstverständnis und das Traditionsbild der deutschen Streitkräfte dienen der Befähigung und der Motivation jedes einzelnen Soldaten zum unerbittlichen Kampf im Gefecht.“ Magnus schwieg lange und schien tief in Gedanken versunken. Dann besann er sich auf meine Gegenwart: „Stevenson hat in Der seltsame Fall des Dr. Jekyll and Mr. Hyde 1886 die gesellschaftlich nach außen hellen und triebhaft nach innen dunklen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen in phantastischer und stellvertretender Weise herauskristallisiert. Gibt es,“ so fragte er, „Persönlichkeitsmerkmale, die einen zu einem Himmler oder Ley werden lassen, oder waren diese einfach wahnsinnig gewordene Verbrecher?“

Während sich Himmler der Untersuchung durch die Alliierten durch Selbstmord entzogen hatte, habe der amerikanische Psychiater Douglas McGlashan Kelley in Nürnberg ausführliche und wiederholte Gespräche mit Robert Ley, Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Rudolf Hess, Julius Streicher und weiteren Angeklagten geführt. Er sei dabei zu dem Schluss gekommen, dass zügelloser Ehrgeiz, schwach ausgebildete Moralvorstellungen und exzessiver Patriotismus gemeinsame Eigenschaften der Angeklagten gewesen seien.

„Sind es nicht genau diese Eigenschaften“, führte Magnus aus, „die derzeit weltweit zunehmend in der Politik erfolgreich sind? Auch in den Führungsriegen der Wirtschaft und speziell im Finanzsektor sehe ich solche Charakterzüge, wenn exzessiver Patriotismus durch exzessive Gehälter und Gratifikationen ersetzt wird“.

Nie zweimal in denselben Fluss

Auf der Bahnreise von S. nach Stuttgart in dem überfüllten IC 2012 Allgäu habe er, Magnus, nach kurzem Zögern ein Abteil betreten, das mit verstreuten durchgehend roten Gepäckstücken einer zierlichen Frau von etwa vierzig Jahren vollgestellt war, und nach einem freien Platz gefragt. Er habe sich nach Wegrücken der Koffer gegenüber der Dame hingesetzt. Sie war ganz in ein Buch vertieft und er empfand ihre Gesichtszüge und ihr braunes Haar als harmonisch und angenehm. Vor allem gefiel ihm der von ihr ausgehende kaum wahrnehmbare Duft.

Er las den Buchtitel: Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Henning und sprach die Frau an. Sie stellte sich im Gespräch als Leiterin einer Werbeagentur und überzeugte AfD-Anhängerin heraus. Magnus fragte sie, ob mit dem Fluss der Rhein gemeint sei und ob sie schon einmal etwas von den „Rheinlandbastarden“ gehört hätte?

Ob demnach Björn Höcke nicht doch in den gleichen Fluss steige, der in Hass, Krieg und Katastrophe ende? Sie sah ihn aufmerksam und etwas ungläubig an. Ihr linkes Augenlid zuckte und zeigte für einen Augenblick einen spielerisch-kindlichen Ausdruck. Dann wurde sie ernst, straffte sich und sagte, genau diese Schwarzmalerei sei an der Misere schuld. „Nehmen Sie die ganze Klimahysterie, die jetzt sogar von einigen Jugendlichen verbreitet wird.“ Magnus konterte mit Europa- und Rassenhysterie der AfD, erklärte aber gleichzeitig betont ruhig, dass es sich dabei um ganz und gar unsinnige Wortverbindungen handle, die nur als Fangworte dienten.

Die Frau sagte, diese Schlagworte wie Energiewende würden nicht von der AfD gemacht, sondern von der völlig verfehlten merkelschen Politik erfunden und missbraucht, um die Bevölkerung zu täuschen. „Denken Sie nur an Willkommenskultur als Verzerrung der Wirklichkeit, die einer ...“ Magnus achtete nicht mehr auf den weiteren Monolog der roten Frau, sondern kam ins Grübeln. Wie hätte W. G. Sebald solche Wortzusammensetzungen zum Zweck der Manipulation betrachtet? Und wie die Wischbewegungen, die Wortfetzen und manipulierten Inhalte gedankenlos rauf- und runterrasen lassen? Als „Fortschritt“ der Menschheit in den Abgrund? Wie können Worte das fördern oder verhindern?

Sebald hätte, so argumentierte Magnus mit sich, mit seinem feingesponnenen, präzisen und bis ins Detail ausgeklügelten Wörternetz heute vermutlich wenig bremsende Wirkung auf einen Wettlauf des Konsums, der unseren Erdplaneten zu einem lebensfeindlichen Ort macht. Er hätte zwar ohne weiteres einen Dichterwettstreit mit Apoll gewonnen, läge aber dann nicht mehr in seinem Grab im St. Andrew Churchyard, sondern wäre als Mitglied der Spinnentiere in Hypaipa bei Ephesus wiedergeboren, oder aber sofort und mit seinem vollen Einverständnis in Nagelfluh verwandelt worden, der auch als Allgäuer Beton bezeichnet wird.

Mit dieser tröstlichen Selbstansprache näherte er sich dem Schlaf und ließ einige Fragen unbeantwortet, fühlte aber ein leichtes Bedauern, dass er keine zweite Flasche Edel-Gebirgs-Enzian mitgenommen hatte, die er jetzt probieren oder sogar ohne abzusetzen austrinken könne. In Stuttgart stiegen die rote Frau und er aus. Sie verabschiedeten sich, und er nahm den Zug nach Paris.

Im TGV besuchte er den Barwagen, um eine Kleinigkeit zu essen und ein Glas Wein zu trinken. Er stellte sich neben einen älteren, schlanken, weißhaarigen Herrn, mit dem er ein paar Worte wechselte. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen Physikprofessor im Ruhestand handelte, der den Begriff „Klimahysterie“ sehr treffend und richtig fand. Er sagte, er sei Beirat im Europäischen Institut für Klima & Energie. Oh je, dachte Magnus, schon wieder eine der massenhaft verbreiteten Verschwörungstrickkisten des Internets mit dem immer gleichen Schema: wissenschaftliche Unsicherheiten aufblähen, unbewiesene und industriefinanzierte Pseudowissenschaft als Tatsache propagieren. Langweiliger Taschenspielertrick. Und schon wieder die so harmlos klingende Alternative für Deutschland, die sich von diesem Institut in Klimafragen beraten ließ!

Magnus sprach mit dem freundlichen alten Herrn über Wein. Und als dieser über seine Lieblingsthemen monologisierte und ihm vorschlug, seine Forschungsprojekte großzügig zu unterstützen, sagte Magnus lächelnd: „Quantenphysikalisch unverschränkbar.“ Damit war das Gespräch beendet.

 

Letzte Folge morgen ...