Bayerisch-tschechisches Netzwerktreffen 2022: „Das ß mittendrin“. Von Ulrike Anna Bleier
Unter dem Motto „Grenzen, Nachbarschaften, neue Stimmen“ setzte sich im Juni 2022 der Austausch zwischen tschechischen und bayerischen Autorinnen und Autoren fort, der 2011 auf gemeinsame Initiative des Literaturhauses Oberpfalz und des Prager Literaturhauses begann und sich Themen wie „Heimat“ und „Gewalt und Gedächtnis“ widmete. Das Treffen fand erstmals als Kooperationsveranstaltung des Adalbert Stifter Vereins (München), des Ceské Literarní Centrum (CLC) / Tschechischen Literaturzentrums (Prag) und des Literaturhauses Oberpfalz statt. In Sulzbach-Rosenberg trafen sich Ulrike Anna Bleier, Dora Kaprálová, Sophia Klink, Markus Ostermair, Markéta Pilátová, Jan Štifter und Jonáš Zbořil, unterstützt von den Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen Julia Miesenböck und Lenka Hošová.
Im Zentrum des dreitägigen Treffens standen Gespräche über aktuelle Schreibprojekte und Veröffentlichungen. Wir veröffentlichen im Folgenden den Bericht über das Treffen von Ulrike Anna Bleier.
*
Das ß mittendrin
Im April kommt eine Einladung zum Netzwerktreffen tschechischer und deutscher Autorinnen und Autoren nach Sulzbach-Rosenberg, und ich weiß gar nicht genau, was das ist, ein Netzwerktreffen, und was man da eigentlich macht. Ich sage aber sofort zu, weil ich mich so freue, erstens wieder im Literaturarchiv sein und zweitens Tschechisch in hohen Dosen hören zu können. Und tatsächlich, als wir uns dann treffen beim Netzwerktreffen ist es wieder so, wie es immer ist, wenn ich die Sprache höre, von der ich nur Bruchstücke verstehe, aber immerhin Bruchstücke: Ich erinnere mich wieder, wie es war, das Sprechen gelernt zu haben und wie aus Sprache eine Stimme wurde.
Das Netzwerktreffen dauert zweieinhalb Tage, und während der ganzen Zeit möchte ich immer sofort nach Prag fahren und nach Brünn und nach Olmütz und ins Altvatergebirge, wo Markéta Pilátová wohnt und einen riesigen Gemüsegarten besitzt, und gleich hinter dem riesigen Gemüsegarten wachsen auf grünen Wiesen wilde Blumen. Und hinter den wilden Blumen geht das Gebirge auf wie eine Sonne. So stelle ich mir das Altvatergebirge vor. Ich war noch nie da. Ich war vor ein paar Jahren in der Nähe, an einem Wasserfall, und in der Nähe des Wasserfalls ging ich durch ein Dorf, das aus der Zeit gefallen schien. An den Zäunen hingen Schuhe, aus denen Pflanzen wuchsen. Ein paar Jahre später sah ich auch in Deutschland Gärten, in denen Schuhe als Blumentöpfe dienten, es war, als seien die Schuhe aus dem Altvatergebirge mir hinterhergelaufen bis nach Deutschland.
Das Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg ist ein fast feierlicher Ort der Literatur und des Erinnerns und gleichzeitig ein Ort, vor dessen Tür ein Straßenfest vorbereitet wird. Als wir ankommen, werden gerade die Buden aufgebaut. Beim Abendspaziergang erfahre ich, dass in Sulzbach-Rosenberg die heutige Schreibweise des Eszett erfunden worden ist, nämlich das ß in BookAntiqua, und zwar von der Druckerei Johann Esaias von Seidel. Das ß ist ein queerer Hybrid aus S und Z, eine Art Superposition, weder ein Weder-Noch noch ein Sowohl-als-Auch.
Wir sitzen auf Bierbänken hinterm Haus und sind, so scheint mir, sofort miteinander vernetzt. Das Hybride als Zustand und der Ort als Dazwischen zieht sich durch die Gespräche, das Zwischen-zwei-Orten-sein, zwischen zwei Sprachen und wie man übersetzt von einem Ort zum anderen, von einer Sprache in die andere. Wie man beim Übersetzen an zwei Orten gleichzeitig ist. Die Übersetzerinnen Lenka Hošová und Julia Miesenböck sind die Dreh- und Angelpunkte der Gespräche, flüsternd sitzen sie bald hier bald da, tanzende Sprachkörper, die ein Netz weben zwischen uns, das fragil und stabil zugleich ist. Wir sprechen über unsere Texte; woran wir arbeiten, was gerade fertig geworden ist und was nie fertig sein wird. Bei Markus Ostermair gehen die Orte verloren und übrigbleibt die Frage, wie es sich anfühlt, einen Ort zu verlieren, als Sandler zum Beispiel, oder als Bauer, der seinen Hof aufgeben muss. In den kurzen Erzählungen von Dora Kaprálová gehen die Zustände des Körpers ineinander über, sie verschränken sich und verunschärfen die Grenzen wie die von Mensch und Kuh und selbstverständlich kann ein solches Wesen auch ein Ort sein. In seinen Gedichten erforscht Jonáš Zbořil, was den Menschen außerhalb seiner Emotion ausmacht, und ich stelle mir seine Poetik wie einen Orbit vor, der jenseits limitierter Gefühlskörper kreist und sie immer wieder anstupst und in neue Zusammenhänge setzt. Sophia Klink schreibt im Zwischenraum von Biologie und Literatur, über Wesen, die da sind und gleichzeitig unsichtbar, Schnecken und Pilze zum Beispiel, und was wir mit ihnen gemeinsam haben. Vielleicht gibt es gar keine Grenzen zwischen ihnen und uns, wie Donna Haraway meint, die das Zeitalter des Chtuluzän einläutet – also das Zeitalter, in dem der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern sich als symbiotisch mit seiner Umwelt begreift. Im Grenzland bewegen sich auch die Protagonisten von Markéta Pilátovás (soeben auf Deutsch erschienenem) Roman Die dunkle Seite, die mit parapsychologischen Fähigkeiten ausgestattet sind und für das Institut zur Erforschung paranormaler Erscheinungen arbeiten – das hat es tatsächlich gegeben! Und auch Jan Štifter, der in Budweis lebt und mit Adalbert Stifter tatsächlich verwandt ist, schreibt über das Vergangene, das so flüchtig ist, wie der Schnee, den einer seiner Protagonisten sammelt, und wie es sein kann, dass dieses Flüchtige uns so beeinflusst.
Kaum hat das Netzwerktreffen angefangen, ist es schon wieder vorbei. Die Zeit, die Orte, die Gespräche, die Sprachen sind ineinander verschmolzen. War es ein Netzwerktreffen? Oder schon der Beginn des Chtuluzäns? Nach zweieinhalb Tagen brechen wir wieder ins Ortlose auf, allerdings nicht mehr als dieselben, als die wir gekommen sind. Das Straßenfest kann beginnen, und das ß mittendrin.
**
Ulrike Anna Bleier lebt in Köln und in der Oberpfalz als Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin. 2016 erschien im lichtung verlag ihr Debütroman Schwimmerbecken, der 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gelistet wurde. Der Roman Bushaltestelle (2018) über eine tragische Mutter-Tochter-Beziehung vor dem Hintergrund der deutsch-tschechischen Historie folgte 2018. Ihr aktueller Roman Spukhafte Fernwirkung (2022) erzählt von den Verschränkungen und den Orten des Dazwischen.
Bayerisch-tschechisches Netzwerktreffen 2022: „Das ß mittendrin“. Von Ulrike Anna Bleier>
Unter dem Motto „Grenzen, Nachbarschaften, neue Stimmen“ setzte sich im Juni 2022 der Austausch zwischen tschechischen und bayerischen Autorinnen und Autoren fort, der 2011 auf gemeinsame Initiative des Literaturhauses Oberpfalz und des Prager Literaturhauses begann und sich Themen wie „Heimat“ und „Gewalt und Gedächtnis“ widmete. Das Treffen fand erstmals als Kooperationsveranstaltung des Adalbert Stifter Vereins (München), des Ceské Literarní Centrum (CLC) / Tschechischen Literaturzentrums (Prag) und des Literaturhauses Oberpfalz statt. In Sulzbach-Rosenberg trafen sich Ulrike Anna Bleier, Dora Kaprálová, Sophia Klink, Markus Ostermair, Markéta Pilátová, Jan Štifter und Jonáš Zbořil, unterstützt von den Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen Julia Miesenböck und Lenka Hošová.
Im Zentrum des dreitägigen Treffens standen Gespräche über aktuelle Schreibprojekte und Veröffentlichungen. Wir veröffentlichen im Folgenden den Bericht über das Treffen von Ulrike Anna Bleier.
*
Das ß mittendrin
Im April kommt eine Einladung zum Netzwerktreffen tschechischer und deutscher Autorinnen und Autoren nach Sulzbach-Rosenberg, und ich weiß gar nicht genau, was das ist, ein Netzwerktreffen, und was man da eigentlich macht. Ich sage aber sofort zu, weil ich mich so freue, erstens wieder im Literaturarchiv sein und zweitens Tschechisch in hohen Dosen hören zu können. Und tatsächlich, als wir uns dann treffen beim Netzwerktreffen ist es wieder so, wie es immer ist, wenn ich die Sprache höre, von der ich nur Bruchstücke verstehe, aber immerhin Bruchstücke: Ich erinnere mich wieder, wie es war, das Sprechen gelernt zu haben und wie aus Sprache eine Stimme wurde.
Das Netzwerktreffen dauert zweieinhalb Tage, und während der ganzen Zeit möchte ich immer sofort nach Prag fahren und nach Brünn und nach Olmütz und ins Altvatergebirge, wo Markéta Pilátová wohnt und einen riesigen Gemüsegarten besitzt, und gleich hinter dem riesigen Gemüsegarten wachsen auf grünen Wiesen wilde Blumen. Und hinter den wilden Blumen geht das Gebirge auf wie eine Sonne. So stelle ich mir das Altvatergebirge vor. Ich war noch nie da. Ich war vor ein paar Jahren in der Nähe, an einem Wasserfall, und in der Nähe des Wasserfalls ging ich durch ein Dorf, das aus der Zeit gefallen schien. An den Zäunen hingen Schuhe, aus denen Pflanzen wuchsen. Ein paar Jahre später sah ich auch in Deutschland Gärten, in denen Schuhe als Blumentöpfe dienten, es war, als seien die Schuhe aus dem Altvatergebirge mir hinterhergelaufen bis nach Deutschland.
Das Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg ist ein fast feierlicher Ort der Literatur und des Erinnerns und gleichzeitig ein Ort, vor dessen Tür ein Straßenfest vorbereitet wird. Als wir ankommen, werden gerade die Buden aufgebaut. Beim Abendspaziergang erfahre ich, dass in Sulzbach-Rosenberg die heutige Schreibweise des Eszett erfunden worden ist, nämlich das ß in BookAntiqua, und zwar von der Druckerei Johann Esaias von Seidel. Das ß ist ein queerer Hybrid aus S und Z, eine Art Superposition, weder ein Weder-Noch noch ein Sowohl-als-Auch.
Wir sitzen auf Bierbänken hinterm Haus und sind, so scheint mir, sofort miteinander vernetzt. Das Hybride als Zustand und der Ort als Dazwischen zieht sich durch die Gespräche, das Zwischen-zwei-Orten-sein, zwischen zwei Sprachen und wie man übersetzt von einem Ort zum anderen, von einer Sprache in die andere. Wie man beim Übersetzen an zwei Orten gleichzeitig ist. Die Übersetzerinnen Lenka Hošová und Julia Miesenböck sind die Dreh- und Angelpunkte der Gespräche, flüsternd sitzen sie bald hier bald da, tanzende Sprachkörper, die ein Netz weben zwischen uns, das fragil und stabil zugleich ist. Wir sprechen über unsere Texte; woran wir arbeiten, was gerade fertig geworden ist und was nie fertig sein wird. Bei Markus Ostermair gehen die Orte verloren und übrigbleibt die Frage, wie es sich anfühlt, einen Ort zu verlieren, als Sandler zum Beispiel, oder als Bauer, der seinen Hof aufgeben muss. In den kurzen Erzählungen von Dora Kaprálová gehen die Zustände des Körpers ineinander über, sie verschränken sich und verunschärfen die Grenzen wie die von Mensch und Kuh und selbstverständlich kann ein solches Wesen auch ein Ort sein. In seinen Gedichten erforscht Jonáš Zbořil, was den Menschen außerhalb seiner Emotion ausmacht, und ich stelle mir seine Poetik wie einen Orbit vor, der jenseits limitierter Gefühlskörper kreist und sie immer wieder anstupst und in neue Zusammenhänge setzt. Sophia Klink schreibt im Zwischenraum von Biologie und Literatur, über Wesen, die da sind und gleichzeitig unsichtbar, Schnecken und Pilze zum Beispiel, und was wir mit ihnen gemeinsam haben. Vielleicht gibt es gar keine Grenzen zwischen ihnen und uns, wie Donna Haraway meint, die das Zeitalter des Chtuluzän einläutet – also das Zeitalter, in dem der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern sich als symbiotisch mit seiner Umwelt begreift. Im Grenzland bewegen sich auch die Protagonisten von Markéta Pilátovás (soeben auf Deutsch erschienenem) Roman Die dunkle Seite, die mit parapsychologischen Fähigkeiten ausgestattet sind und für das Institut zur Erforschung paranormaler Erscheinungen arbeiten – das hat es tatsächlich gegeben! Und auch Jan Štifter, der in Budweis lebt und mit Adalbert Stifter tatsächlich verwandt ist, schreibt über das Vergangene, das so flüchtig ist, wie der Schnee, den einer seiner Protagonisten sammelt, und wie es sein kann, dass dieses Flüchtige uns so beeinflusst.
Kaum hat das Netzwerktreffen angefangen, ist es schon wieder vorbei. Die Zeit, die Orte, die Gespräche, die Sprachen sind ineinander verschmolzen. War es ein Netzwerktreffen? Oder schon der Beginn des Chtuluzäns? Nach zweieinhalb Tagen brechen wir wieder ins Ortlose auf, allerdings nicht mehr als dieselben, als die wir gekommen sind. Das Straßenfest kann beginnen, und das ß mittendrin.
**
Ulrike Anna Bleier lebt in Köln und in der Oberpfalz als Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin. 2016 erschien im lichtung verlag ihr Debütroman Schwimmerbecken, der 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gelistet wurde. Der Roman Bushaltestelle (2018) über eine tragische Mutter-Tochter-Beziehung vor dem Hintergrund der deutsch-tschechischen Historie folgte 2018. Ihr aktueller Roman Spukhafte Fernwirkung (2022) erzählt von den Verschränkungen und den Orten des Dazwischen.