Gottschalk aus New Orleans (6)

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Das Liya String Quartet bei der Arbeit: Yevgeniy Dovgalyuk, Christi Salisbury, David Feldman und Luca Trombetta in der Mills Chapel am Sweet Briar College. Alle Fotos: Carola Gruber

Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.

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Beim Frühstück diese Woche taucht eine scherzhafte Überlegung mehrfach auf: Könnten wir Fellows unsere Aufenthalte am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) vielleicht etwas verlängern, zum Beispiel für immer bleiben?

Wir entwerfen fantastische Szenarien, in denen wir uns auf dem Gelände verstecken und mit Walkie-Talkies verständigen, an den abenteuerlichsten Orten übernachten und uns in kurzzeitig unbenutzte Ateliers einschleichen, um dort heimlich zu arbeiten (das alles müsste freilich gut organisiert sein, die Leitung des Künstlerhauses dürfte davon ja nichts erfahren).

Die nächsten Abschiede nahen. Doch so richtig wollen wir, die eingeschworene Frühstücksgruppe, das nicht wahrhaben.

Familientreffen mit Bariton

Links: José Alcántara bei der Lesung am Montag. Rechts: In Anlehnung an den derzeit hohen abendlichen Kartoffelchips-Konsum hat der Verfasser dieser Ankündigung den Gemeinschaftsbereich kurzerhand umgetauft in eine Konzerthalle, die den Namen eines Chips-Herstellers trägt.

Diese Woche habe ich dreimal Gelegenheit, die Arbeit anderer Fellows kennenzulernen – aus allen drei Sparten, die am VCCA vertreten sind.

Am Montag liest Ami Sands Brodoff eine gekürzte Fassung der Titelnovelle aus ihrem Erzählungsband The Sleep of Apples: Eine Frau kommt nach einer Krebsdiagnose mit dem Bringdienstfahrer ihres Supermarkts ins Gespräch. Der Beginn einer unwahrscheinlichen Freundschaft.

José Alcántara, den hier alle Tony nennen, liest Gedichte. Diese gehen von direkten Naturbeobachtungen aus – einem toten Frosch im Atelier, dem Nebel am Morgen – oder von einem aufgeschnappten Satz („Der Mann sieht aus wie ein Baum“) und entfalten eine starke narrative Qualität.

Robert Elhai spielt einen Auszug aus dem Musiktheaterstück, an dem er gerade arbeitet: A Song at Twilight. Es handelt von zwei Cousins. Der eine ist im Vietnamkrieg gestorben; der andere, Richard, hat studiert, geheiratet, ist erfolgreich. Als die sterblichen Überreste des Toten überführt werden, kommt es beim Familientreffen zu Aussprachen. Schuldgefühle, Vorwürfe, Trauer. Wieso wurde der eine eingezogen, der andere nicht? Robert singt alle Rollen, begleitet sich am Klavier und erklärt uns das Stück. Ein beeindruckendes Multitasking, bei dem er voll in seinem Element wirkt.

Ergreifende multidisziplinäre Kunst

Am Dienstag liest Monica West einen Ausschnitt aus ihrem Debütroman Revival Season: Die Ich-Erzählerin schildert einen Gottesdienst, den ihr Vater, ein berühmter Baptistenprediger und Wunderheiler, abhält. Dass hierbei vielleicht nicht alles mit rechten Dingen zugeht, wird in der vordergründig naiv erzählten Passage bereits deutlich.

Pedro Ponce liest den Beginn der Titelgeschichte seines Erzählbands The Devil and the Dairy Princess. Darin geht es um einen wahnwitzigen Pakt, den ein Reverend mit dem Teufel schließt. Eine zerstörerische Tradition nimmt ihren Lauf und wird zunächst kaum hinterfragt.

Besonders berührend finde ich die Arbeiten von Jessica Valoris. Sie beschäftigt sich mit ihrem Thema, der Flucht Schwarzer Sklavinnen und Sklaven aus der Gefangenschaft, in gleich mehreren Medien: in einer eindringlichen Rezitation, in einer Videoarbeit, die eine Tanzperformance zeigt, und in Gedichten, die als Text-Collagen bildnerisch umgesetzt sind. Räume herstellen, sich behaupten, aber auch das Versagen von Sprache tauchen als Motive in ihren Arbeiten immer wieder auf.

Am Samstag kann ich weitere neue Werke und Fortschritte in den offenen Ateliers von Heloisa Pomfret und von Christina Kirchinger ansehen.

Vergessener Superstar des 19. Jahrhunderts

„Enigmatic and Brillant 19th-Century Musical Superstar“: Der so angepriesene Komponist heißt Louis Moreau Gottschalk und wurde 1829 in New Orleans geboren. Stücke von ihm und Zeitgenossen sind am Samstag in der Mills Chapel am Sweet Briar College zu hören. Eine kleine Delegation von VCCA-Fellows ist dort (und ich mit dabei).

In ihren sehr kundigen Erläuterungen zeichnet Naomi Amos die Geschichte des romantischen Komponisten nach. Zu seiner Zeit wurde er als Wunderkind gepriesen und galt als „International Sensation on Three Continents“. Obwohl er sehr bekannt und beliebt wurde, konnte Gottschalk die hohen Erwartungen, die die damalige Musikkritik in ihn gesetzt hatte, nicht ganz erfüllen. Diese fand die Kompositionen, die seinen vielversprechenden frühen Werken folgten, zu einfach, zu eingängig und zu populär, gar sentimental.

Ort der Woche

Immer wieder einladend: der Sweet Briar Lake

Obwohl der Herbst schon deutlich vor sich hin herbstet (zu beobachten unter anderem an: Temperaturen, Blätterfarbe, Menge und Frequenz der Niederschläge), lässt es sich im See des benachbarten Sweet Briar College noch gut aushalten, zumindest für ein paar Minuten, finde ich. Gleich mehrmals diese Woche zieht es mich nachmittags dorthin.

Die mittlerweile deutlich fortgeschrittene Laubfärbung. Die kahlen Äste dazwischen. Das kühle Wasser auf der Haut. Irgendetwas daran kriegt mich immer wieder.

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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).