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04.11.2022, 08:45 Uhr
Kunstministerium
Text & Debatte
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© Angie Wolf

Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Ulrike Schäfer

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Ulrike Schäfer mit Kunstminister Markus Blume. © Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.

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Ulrike Schäfer, 1965 in München geboren, lebt in Würzburg. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Informatik war sie Dozentin für deutsche Sprachwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Würzburg, danach Softwareberaterin. Heute ist sie freie Autorin und Schreibcoach. Sie schreibt Prosa, Theaterstücke und Lyrik. Für ihre literarische Arbeit wurde sie u.a. mit dem Würth-Literaturpreis und dem Leonhard-Frank-Preis für Dramatik ausgezeichnet. 2015 erschien ihr Erzählband Nachts, weit von hier. Ihre Bühnenfassung des Romans Die Jünger Jesu von Leonhard Frank wurde 2015 am Mainfranken Theater Würzburg uraufgeführt, 2016 das musikalische Schauspiel Ein Widder mit Flügeln. Sie tritt u.a. mit der Autorengruppe liTrio und der Lesebühne Großraumdichten & Kleinstadtgeschichten auf und bietet Schreibwerkstätten und Beratung für Schreibende an.

Laudatio von Dr. Pia-Elisabeth Leuschner:

Behutsam und nuancenreich fangen die neun Erzählungen in Ulrike Schäfers Band Kritische Masse Alltagssituationen ein, die sich für die Figuren unerwartet als Extrem- und Umbruchsituationen erweisen. Erfahrungen wie Krebskrankheit, Demenz, Rechtsextremismus oder sexuelle Belästigung prägen ein Panorama versehrter Biographien, das die Fragilität von Glück und selbstbestimmter Existenz erfahrbar macht.

Auszug aus Kritische Masse Hans (Romanvorhaben)

Ihr Sohn interessiert sich für Wolken. Nicht in einem meteorologischen Sinn, sondern die Wolken an sich. Ihr durch und durch veränderliches Dasein am Himmel. So wie gerade eben: die große jenseits des Opernhauses überm Oslofjord.

Einem Eisblock nachempfunden sei sie, die Oper, steht in Nellis Reiseführer. An diesem Februartag, an dem der blauschimmernde Quader aus den schneebedeckten Dachschrägen aufragt, ist der Anblick so überwältigend, dass er ihr die Tränen in die Augen treibt. Auch Hans scheint das Gebäude zu mögen, aus anderen Gründen allerdings als sie: Es lässt ihm freien Blick auf die Wolkenkette überm Ekeberg. Wenn kein Gebäude im Weg stünde, wäre es noch besser, aber so, durch die riesigen Glasfronten hindurch, geht es auch. Aus der Perspektive ihres Sohnes ist die Welt ziemlich verrückt: so viel architektonischer Aufwand für eine Notlösung.

Es ist eine traurige, angstvolle, wütende und manchmal überraschend heitere Reise.

Vielleicht liegt es am Sekt. Dem Flirren, von dem sie gerade kommt. Vielleicht auch an den beschwingten Schritten ihres Sohnes. Nach einem blauen Osloer Himmel gestern ist der heutige Tag wie für ihn gemacht: locker bewölkt. Und seine Mutter nicht mehr so grimmig und innerlich verkrampft. Diese Verkrampfung hat er gespürt, Nelli bemerkte es am Wiegen seines Körpers und dem Klopfen seines Zeigefingers auf den Resopaltisch im Frühstücksraum. Sie sind wie ein altes Paar: Ihre Launen schwingen wortlos von einem zum anderen und zurück, und manchmal schwingen sie sich daran auf zu etwas Neuem.

Als er fünfzehn war, hat Nelli mit ihm zu üben versucht. Es war kein Versuch, ihr Kind in eine von der Welt vorgesehene Bahn zu lenken. Das lag hinter ihnen. Es hatte mehr mit ihr zu tun als mit ihm, mit dem untilgbaren Gefühl von Versäumnis. Wenn schon sein Interesse nach oben geht, dachte sie, soll er sich wenigstens die Begriffe einprägen, für irgendetwas mag es gut sein: Cumulus, Stratus, Nimbostratus. Altostratus. Cumulonimbus, hoch aufgetürmt über alle Schichten. Bis heute kann sie diese Vokabeln aufsagen, die durch Hans hindurchgingen wie durch Luft. Ihr Sohn hielt damals für abwegig, dass zwischen den Wörtern und dem, was er am Himmel wahrnahm, irgendein brauchbarer Zusammenhang bestehen könnte. Und natürlich hatte er Recht, denkt sie jetzt. Er hatte vollkommen Recht. Auch wenn die Frage bleibt und sich drängender stellt denn je: Was soll aus einem werden, der Wolken sammelt?