Interview mit Dr. Florian Schleburg, Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft
Vom 6.-9. Oktober 2022 fand im Münchner Amerikahaus der 26. Kongress der Karl-May-Gesellschaft statt. Am Rande des Kongresses konnte sich das Literaturportal Bayern mit Dr. Florian Schleburg, dem Vorsitzenden der Gesellschaft, treffen und mit ihm über Karl May, dessen literarische Bedeutung und die seit dem Sommer 2022 neu aufgekommene „Winnetou-Debatte“ um die kulturellen Stereotypen im Werk Mays sprechen.
*
LITERATURPORTAL BAYERN: Wenn es um Karl May geht, da ist die erste Frage immer: Wie war Ihr persönlicher Weg zu Karl May?
FLORIAN SCHLEBURG: Das war noch der typische Weg, wie er fast ein Jahrhundert lang für mitteleuropäische Jungen galt. Das heißt, es gab ein Buch im Haus, das war grün-golden und abgegriffen; mein Vater hatte es in seiner Jugend gelesen und sagte: lies! Und ich habe es eines regnerischen Nachmittags zu lesen begonnen. Diese Weitergabe von Generation zu Generation ist, glaube ich, ein Mechanismus, der Karl May lange zum Selbstläufer gemacht hat, vor allem unter männlichen Kindern und Jugendlichen. Mit dem Medienverhalten der heutigen jungen Menschen funktioniert das nicht mehr so gut. Auch die Fantasie- und Fluchtwelten sind andere geworden. Aber in meiner Generation hat das noch funktioniert.
Das war auch bei mir [Friedrich Ulf Röhrer-Ertl, Anm. d. Red.] noch ähnlich. Nun, wenn ich da an meine Tochter denke, die ich nicht für Karl May begeistern konnte, da stellt sich für mich immer die Frage, ob ein Teil der Problematik nicht auch daran liegt, dass wir unser visuelles Gedächtnis zu May zu stark eingeschränkt haben. Wir haben dieses übermächtige Bild der Karl May-Filme der 1960er-Jahre – Pierre Brice oder Lex Barker, der seinen Shatterhand so anders anlegt, als er in den Büchern beschrieben ist. Wäre es da nicht Zeit für neue Bilder?
Wir sind da sehr, sehr aufgeschlossen. Erst gestern haben wir den Regisseur Philipp Stölzl, der Karl May kreativ und ganz anders aufgefasst hat, mit der Marah-Durimeh-Medaille ausgezeichnet. Es gibt in unserer Karl-May-Gesellschaft eine große Zahl von Mitgliedern, übrigens auch jüngere Menschen, die sich für die Filme aus den 60er-Jahren noch begeistern können. Ich selber finde sie eher kurios. Ich kann sie mir aus der deutschen Kultur kaum wegdenken: Sie haben unsere Vorstellungswelt dauerhaft geprägt, aber ich kann keine kongeniale Verarbeitung des May'schen Werkes darin erkennen.
Ich mache aber die Beobachtung, zum Beispiel an meiner Tochter, die jetzt elf ist, dass die Begegnung mit diesen Winnetou-Filmen, den klassischen Winnetou-Filmen, noch immer durchaus anregend wirken kann: Sie hat sich danach Winnetou I aus dem Regal geholt. Ich glaube tatsächlich, dass es wichtig ist, jungen Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, irgendwie überhaupt auf Karl May zu stoßen – denn dann wirkt er immer noch. Es ist nur nicht mehr selbstverständlich, dass sie überhaupt auf die Idee kommen, Karl May zu lesen, weil er in den Buchhandlungen nicht mehr vorrätig ist, aus den Schulen komplett verschwunden ist und eben auch aus den Familien, wo sich das Leseverhalten insgesamt sehr stark verändert hat.
Wo wir hier in München stehen, wie würden Sie Karl May hierher, nach Bayern, verorten?
Zunächst einmal hat Karl May natürlich einen speziellen Bezug zu Sachsen, wo er heute auch einen ganz anderen Stellenwert hat als in anderen Bundesländern. Persönlich aber hatte er durchaus eine besondere Vorliebe für den Alpenraum: für Österreich und auch ganz speziell für München, wo er früh eine große Fangemeinde besaß. Da gibt es diese schöne Geschichte, dass er auf den Balkon seines Hotels trat und seine jubelnden Anhänger auf der Straße mit der Feuerspritze auseinandergetrieben werden mussten, damit die Straßenbahn durchkam. Es gab hier auch einen Karl-May-Club, und beim bayerischen Königshaus ging er als Westmann ein und aus. Ein Bezug zu Bayern ist also vorhanden. Er hat auch einen Kolportageroman von zweieinhalbtausend Seiten geschrieben, der längst nicht so bekannt ist wie seine Winnetou- und Old Shatterhand-Abenteuer: Der Weg zum Glück – einen „Roman aus dem Leben Ludwigs II.“, dessen Figuren, man könnte jetzt sagen, bizarrer- oder bezaubernderweise, ein frei erfundenes Bairisch sprechen. Wer bairische Dialekte kennt, der wird sich krümmen vor Lachen, aber genauso wie er sein eigenes Türkisch und seine Apatschensätze erfunden hat, so hat sich Karl May auch bemüht, Bairisch zu schreiben, und vor der Kulisse der bayerischen Alpen ein großes Kriminal-, Künstler- und Liebesdrama entfaltet.
Karl May als Old Shatterhand (um 1896) (c) Karl-May-Gesellschaft 2022
Karl May war ja neben und noch vor dem japanischen Schriftsteller Mori Ôgai der erste, der den Tod König Ludwigs II. literarisch verarbeitet hat. Worin besteht für Sie das Moderne an Karl May? Was können uns heute seine Figuren und auch er selbst, der sich ja aus ärmsten Verhältnissen gegen alle Widrigkeiten hochgearbeitet hat und mit unbändiger Fantasie zu einem Starschriftsteller wurde, mitteilen?
Modern an ihm ist der Riecher für aktuelle Themen, für zugkräftige Sujets, zum Beispiel eben den mysteriösen Tod Ludwigs II. oder auch den Mahdi-Aufstand im Sudan: Die hat er sofort aufgegriffen, aus seiner Fantasie angereichert und ein Projekt für ein ganz bestimmtes Publikum daraus gemacht. Er schrieb für katholische Familienzeitschriften völlig anders als in seinen anonymen Kolportageschinken. Als freischaffender Schriftsteller stellte er sich chamäleonartig auf die Erwartungen seiner Leserschaft ein. Das halte ich für sehr modern, wie auch die Fähigkeit, sich durch Vermischung von Literatur und Realität zum „Popstar“ zu stilisieren. Wir sehen das an seinen Briefen, vor allem im Briefwechsel mit seinem Verleger Fehsenfeld, wo er Werbekampagnen plant und den Markt analysiert. Er sagt dem Verleger: So etwas kommt an, das zieht, das müssen wir für Weihnachten herausbringen.
Dazu kommen moderne Erzähltechniken, bis hin zur Fantasy im Spätwerk. Und was Sie gerade sagten, zum Aufstieg des Individuums: In diesem Motiv liegt ein wichtiger Teil von Mays überzeitlicher Bedeutung. Dass ein zurückgesetzter, sozial benachteiligter, körperlich benachteiligter Mensch, vielleicht mit einer Behinderung – was in seinen Erzählungen häufig vorkommt –, sich im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, durch Integrität und Tüchtigkeit, Respekt und Liebe erwirbt und letztlich sogar die nicht Benachteiligten in mancher Hinsicht zu übertreffen vermag, das ist eine zeitlos anrührende Geschichte. Da wirken Karl Mays Texte genau wie Märchen oder auch moderne Mythen, Star Wars und dergleichen, durch ihre archetypischen Motive.
Ich bin zum ersten Mal auf einem Kongress der Karl-May-Gesellschaft. Im Vergleich zu anderen, oft sehr steifen literaturwissenschaftlichen Tagungen hat mich diese Mischung aus familiärem Zusammensein unter Karl-May-Freunden einerseits und dem hohen wissenschaftlichen Niveau der Vorträge und Diskussionen andererseits überrascht.
Ja, das hat die Karl-May-Gesellschaft schon immer ausgezeichnet. Wir sind keine ganz gewöhnliche literarische Gesellschaft. Ich glaube, wir können durchaus den Anspruch erheben, dass wir wissenschaftlich sehr solide arbeiten. Aber wir haben auch eine große Basis von Mitgliedern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, unterschiedlichen Berufen und Interessen, die einfach nur das eine eint, dass sie irgendwann einmal diesem Autor gewissermaßen verfallen sind.
Die Karl-May-Gesellschaft ist ja kein Fanclub. Aber die ungeheure Leserbindung, die Karl May erzeugt, ist unser Kapital. Und deswegen sind die Kongresse der Karl-May-Gesellschaft – da gibt es ein altes Zitat – „fröhliche Wissenschaft“. Das heißt, es geht um Wissenschaft, vom Anspruch her, aber gleichzeitig herrscht eine familiäre Atmosphäre und Freude an der Sache – schauen Sie sich diese Sammler an den Büchertischen an, die sich jetzt nach drei Jahren Pause endlich wieder in die alten Bände hineinwühlen können ... das ist ein ganz wichtiger Faktor.
Winnetou III – Nachauflage mit Deckelbild des Jugendstilmalers Sascha Schneider (um 1905) (c) Karl-May-Gesellschaft 2022
Lassen Sie uns zum Schluss noch auf die sogenannte „Winnetou-Debatte“ zu sprechen kommen. Nach einem Aufschrei in den sozialen Medien hatte ja ein Verlag mehrere Publikationen zum Kinderfilm Der kleine Häuptling Winnetou zurückgezogen. Im Zentrum stand dabei der Vorwurf, dass sich in den Werken Karl Mays „kulturelle Aneignung“ ebenso findet wie kolonialistische Stereotypen.
Der Anlass war eigentlich eine ganz banale, kommerziell motivierte Entscheidung eines einzelnen Unternehmens. Wir haben uns auch ganz bewusst herausgehalten aus der Diskussion über den Film beziehungsweise den Wert der betreffenden Bücher. Natürlich rezipieren unsere Mitglieder das und diskutieren darüber, aber für uns stellt sich eine viel grundsätzlichere Frage: Wie gehen wir als Gesellschaft mit historischen Texten um? Wollen wir einen Dialog zulassen, auch in Schulen, in Universitäten, in der Öffentlichkeit, über Texte, die aus unserer heutigen Sicht problematisch erscheinen, oder verweigern wir uns diesem Dialog, indem wir die Texte verfälschen oder gar unterschlagen? Winnetou ist erstaunlicherweise jetzt der Kristallisationspunkt geworden, aber im Prinzip hat fast jeder Autor, jeder Denker des 19. Jahrhunderts und der vorausgehenden Jahrhunderte irgendwo Stellen, an denen er, oder manchmal auch sie, koloniale Vorurteile transportiert. Das ist nun einmal der Zeitgeist. Darüber kann sich ein Individuum normalerweise auch mit noch so viel eigener Reflexion nicht vollständig hinausarbeiten. Karl May hat es, um von ihm persönlich zu sprechen, in sehr respektabler Weise versucht. Er hat sich tatsächlich nicht über alle, aber über sehr viele Vorurteile seiner Zeit herausgearbeitet – als Autodidakt: Er hat ja nicht studiert und auch nicht wirklich am philosophischen Diskurs seiner Zeit teilgenommen. Und in seinen letzten zehn Lebensjahren fand er zu einer utopistischen, universalen Vision von Frieden und Toleranz.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass es vielen radikalen Gegnern Karl Mays gar nicht so sehr um diese persönliche Einstellung geht: Die bloße Erzählsituation – da ist ein weißer Held, der in ferne Länder zieht, den Einheimischen die Welt erklärt, missioniert und am Ende immer gewinnt – genügt schon für das Verdikt „struktureller Rassismus“. Das kann man diskutieren, da sind wir sofort dabei: Wir wollen Karl May in keiner Weise verklären. Aber wir dürfen, glaube ich, nicht zulassen, dass man ganze Kapitel aus der europäischen Kulturgeschichte streicht und festlegt: So etwas kann man auf die Leute nicht mehr loslassen.
Wir wollen darüber reden, und wir müssen darüber reden dürfen, um es zu kontextualisieren. Die Karl-May-Gesellschaft engagiert sich sehr für den wissenschaftlichen Dialog. Wir sind, wie gesagt, kein Fanclub; wir sind bereit, in den Veranstaltungen, die wir jetzt dazu planen, Symposien, Arbeitsgruppen, über Karl May auch kritisch zu sprechen. Aber wir verwahren uns dagegen, dass man Karl May kurzerhand als „erledigt“ bezeichnet. Das widerspricht unserem Satzungsziel, und damit können wir uns einfach nicht abfinden.
Es wäre ja auch eine Verarmung ...
Selbstverständlich – und wo würden wir aufhören? Warum verbieten wir nicht die lutherische Kirche, und warum sagen wir nicht die Richard-Wagner-Festspiele ab? Welcher Klassiker hätte sich aus heutiger – sensibilisierter – Sicht nicht irgendwo in irgendeiner Weise unqualifiziert oder auch gefährlich geäußert? Richard Wagner hat wirklich heikle Dinge geschrieben. Auch Karl May hat hier und da bedenkliche Dinge gesagt, das leugnen wir nicht – aber er hat eben auch sehr viel sehr Beherzigenswertes gesagt. Und wenn wir uns mal unser Publikum dort im Saal anschauen, ich kenne die meisten von ihnen: Fast alle sind sie durch Karl May zu irgendetwas inspiriert worden in ihrem Leben, beruflich oder persönlich, aber dass jemand zum Rassisten geworden wäre durch Karl May, das habe ich noch nie erlebt. Es sind so viele Menschen darunter, die sich für die indianischen Kulturen oder für den Orient interessieren, sich mit Geschichte und Literatur und Quellen beschäftigen, auch wenn sie vielleicht keinen akademischen Hintergrund haben – sie wissen unglaublich viel über diese Themen und bringen Sympathie mit, und der Auslöser war irgendwann mal dieser Karl May: ein fehlbares Individuum, aber eine sehr anregende und, wenn man sie in den richtigen Zusammenhang stellt, zeitlose Lektüre.
Ein schönes Schlusswort. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Die Fragen stellte Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
Interview mit Dr. Florian Schleburg, Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft>
Vom 6.-9. Oktober 2022 fand im Münchner Amerikahaus der 26. Kongress der Karl-May-Gesellschaft statt. Am Rande des Kongresses konnte sich das Literaturportal Bayern mit Dr. Florian Schleburg, dem Vorsitzenden der Gesellschaft, treffen und mit ihm über Karl May, dessen literarische Bedeutung und die seit dem Sommer 2022 neu aufgekommene „Winnetou-Debatte“ um die kulturellen Stereotypen im Werk Mays sprechen.
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LITERATURPORTAL BAYERN: Wenn es um Karl May geht, da ist die erste Frage immer: Wie war Ihr persönlicher Weg zu Karl May?
FLORIAN SCHLEBURG: Das war noch der typische Weg, wie er fast ein Jahrhundert lang für mitteleuropäische Jungen galt. Das heißt, es gab ein Buch im Haus, das war grün-golden und abgegriffen; mein Vater hatte es in seiner Jugend gelesen und sagte: lies! Und ich habe es eines regnerischen Nachmittags zu lesen begonnen. Diese Weitergabe von Generation zu Generation ist, glaube ich, ein Mechanismus, der Karl May lange zum Selbstläufer gemacht hat, vor allem unter männlichen Kindern und Jugendlichen. Mit dem Medienverhalten der heutigen jungen Menschen funktioniert das nicht mehr so gut. Auch die Fantasie- und Fluchtwelten sind andere geworden. Aber in meiner Generation hat das noch funktioniert.
Das war auch bei mir [Friedrich Ulf Röhrer-Ertl, Anm. d. Red.] noch ähnlich. Nun, wenn ich da an meine Tochter denke, die ich nicht für Karl May begeistern konnte, da stellt sich für mich immer die Frage, ob ein Teil der Problematik nicht auch daran liegt, dass wir unser visuelles Gedächtnis zu May zu stark eingeschränkt haben. Wir haben dieses übermächtige Bild der Karl May-Filme der 1960er-Jahre – Pierre Brice oder Lex Barker, der seinen Shatterhand so anders anlegt, als er in den Büchern beschrieben ist. Wäre es da nicht Zeit für neue Bilder?
Wir sind da sehr, sehr aufgeschlossen. Erst gestern haben wir den Regisseur Philipp Stölzl, der Karl May kreativ und ganz anders aufgefasst hat, mit der Marah-Durimeh-Medaille ausgezeichnet. Es gibt in unserer Karl-May-Gesellschaft eine große Zahl von Mitgliedern, übrigens auch jüngere Menschen, die sich für die Filme aus den 60er-Jahren noch begeistern können. Ich selber finde sie eher kurios. Ich kann sie mir aus der deutschen Kultur kaum wegdenken: Sie haben unsere Vorstellungswelt dauerhaft geprägt, aber ich kann keine kongeniale Verarbeitung des May'schen Werkes darin erkennen.
Ich mache aber die Beobachtung, zum Beispiel an meiner Tochter, die jetzt elf ist, dass die Begegnung mit diesen Winnetou-Filmen, den klassischen Winnetou-Filmen, noch immer durchaus anregend wirken kann: Sie hat sich danach Winnetou I aus dem Regal geholt. Ich glaube tatsächlich, dass es wichtig ist, jungen Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, irgendwie überhaupt auf Karl May zu stoßen – denn dann wirkt er immer noch. Es ist nur nicht mehr selbstverständlich, dass sie überhaupt auf die Idee kommen, Karl May zu lesen, weil er in den Buchhandlungen nicht mehr vorrätig ist, aus den Schulen komplett verschwunden ist und eben auch aus den Familien, wo sich das Leseverhalten insgesamt sehr stark verändert hat.
Wo wir hier in München stehen, wie würden Sie Karl May hierher, nach Bayern, verorten?
Zunächst einmal hat Karl May natürlich einen speziellen Bezug zu Sachsen, wo er heute auch einen ganz anderen Stellenwert hat als in anderen Bundesländern. Persönlich aber hatte er durchaus eine besondere Vorliebe für den Alpenraum: für Österreich und auch ganz speziell für München, wo er früh eine große Fangemeinde besaß. Da gibt es diese schöne Geschichte, dass er auf den Balkon seines Hotels trat und seine jubelnden Anhänger auf der Straße mit der Feuerspritze auseinandergetrieben werden mussten, damit die Straßenbahn durchkam. Es gab hier auch einen Karl-May-Club, und beim bayerischen Königshaus ging er als Westmann ein und aus. Ein Bezug zu Bayern ist also vorhanden. Er hat auch einen Kolportageroman von zweieinhalbtausend Seiten geschrieben, der längst nicht so bekannt ist wie seine Winnetou- und Old Shatterhand-Abenteuer: Der Weg zum Glück – einen „Roman aus dem Leben Ludwigs II.“, dessen Figuren, man könnte jetzt sagen, bizarrer- oder bezaubernderweise, ein frei erfundenes Bairisch sprechen. Wer bairische Dialekte kennt, der wird sich krümmen vor Lachen, aber genauso wie er sein eigenes Türkisch und seine Apatschensätze erfunden hat, so hat sich Karl May auch bemüht, Bairisch zu schreiben, und vor der Kulisse der bayerischen Alpen ein großes Kriminal-, Künstler- und Liebesdrama entfaltet.
Karl May als Old Shatterhand (um 1896) (c) Karl-May-Gesellschaft 2022
Karl May war ja neben und noch vor dem japanischen Schriftsteller Mori Ôgai der erste, der den Tod König Ludwigs II. literarisch verarbeitet hat. Worin besteht für Sie das Moderne an Karl May? Was können uns heute seine Figuren und auch er selbst, der sich ja aus ärmsten Verhältnissen gegen alle Widrigkeiten hochgearbeitet hat und mit unbändiger Fantasie zu einem Starschriftsteller wurde, mitteilen?
Modern an ihm ist der Riecher für aktuelle Themen, für zugkräftige Sujets, zum Beispiel eben den mysteriösen Tod Ludwigs II. oder auch den Mahdi-Aufstand im Sudan: Die hat er sofort aufgegriffen, aus seiner Fantasie angereichert und ein Projekt für ein ganz bestimmtes Publikum daraus gemacht. Er schrieb für katholische Familienzeitschriften völlig anders als in seinen anonymen Kolportageschinken. Als freischaffender Schriftsteller stellte er sich chamäleonartig auf die Erwartungen seiner Leserschaft ein. Das halte ich für sehr modern, wie auch die Fähigkeit, sich durch Vermischung von Literatur und Realität zum „Popstar“ zu stilisieren. Wir sehen das an seinen Briefen, vor allem im Briefwechsel mit seinem Verleger Fehsenfeld, wo er Werbekampagnen plant und den Markt analysiert. Er sagt dem Verleger: So etwas kommt an, das zieht, das müssen wir für Weihnachten herausbringen.
Dazu kommen moderne Erzähltechniken, bis hin zur Fantasy im Spätwerk. Und was Sie gerade sagten, zum Aufstieg des Individuums: In diesem Motiv liegt ein wichtiger Teil von Mays überzeitlicher Bedeutung. Dass ein zurückgesetzter, sozial benachteiligter, körperlich benachteiligter Mensch, vielleicht mit einer Behinderung – was in seinen Erzählungen häufig vorkommt –, sich im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, durch Integrität und Tüchtigkeit, Respekt und Liebe erwirbt und letztlich sogar die nicht Benachteiligten in mancher Hinsicht zu übertreffen vermag, das ist eine zeitlos anrührende Geschichte. Da wirken Karl Mays Texte genau wie Märchen oder auch moderne Mythen, Star Wars und dergleichen, durch ihre archetypischen Motive.
Ich bin zum ersten Mal auf einem Kongress der Karl-May-Gesellschaft. Im Vergleich zu anderen, oft sehr steifen literaturwissenschaftlichen Tagungen hat mich diese Mischung aus familiärem Zusammensein unter Karl-May-Freunden einerseits und dem hohen wissenschaftlichen Niveau der Vorträge und Diskussionen andererseits überrascht.
Ja, das hat die Karl-May-Gesellschaft schon immer ausgezeichnet. Wir sind keine ganz gewöhnliche literarische Gesellschaft. Ich glaube, wir können durchaus den Anspruch erheben, dass wir wissenschaftlich sehr solide arbeiten. Aber wir haben auch eine große Basis von Mitgliedern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, unterschiedlichen Berufen und Interessen, die einfach nur das eine eint, dass sie irgendwann einmal diesem Autor gewissermaßen verfallen sind.
Die Karl-May-Gesellschaft ist ja kein Fanclub. Aber die ungeheure Leserbindung, die Karl May erzeugt, ist unser Kapital. Und deswegen sind die Kongresse der Karl-May-Gesellschaft – da gibt es ein altes Zitat – „fröhliche Wissenschaft“. Das heißt, es geht um Wissenschaft, vom Anspruch her, aber gleichzeitig herrscht eine familiäre Atmosphäre und Freude an der Sache – schauen Sie sich diese Sammler an den Büchertischen an, die sich jetzt nach drei Jahren Pause endlich wieder in die alten Bände hineinwühlen können ... das ist ein ganz wichtiger Faktor.
Winnetou III – Nachauflage mit Deckelbild des Jugendstilmalers Sascha Schneider (um 1905) (c) Karl-May-Gesellschaft 2022
Lassen Sie uns zum Schluss noch auf die sogenannte „Winnetou-Debatte“ zu sprechen kommen. Nach einem Aufschrei in den sozialen Medien hatte ja ein Verlag mehrere Publikationen zum Kinderfilm Der kleine Häuptling Winnetou zurückgezogen. Im Zentrum stand dabei der Vorwurf, dass sich in den Werken Karl Mays „kulturelle Aneignung“ ebenso findet wie kolonialistische Stereotypen.
Der Anlass war eigentlich eine ganz banale, kommerziell motivierte Entscheidung eines einzelnen Unternehmens. Wir haben uns auch ganz bewusst herausgehalten aus der Diskussion über den Film beziehungsweise den Wert der betreffenden Bücher. Natürlich rezipieren unsere Mitglieder das und diskutieren darüber, aber für uns stellt sich eine viel grundsätzlichere Frage: Wie gehen wir als Gesellschaft mit historischen Texten um? Wollen wir einen Dialog zulassen, auch in Schulen, in Universitäten, in der Öffentlichkeit, über Texte, die aus unserer heutigen Sicht problematisch erscheinen, oder verweigern wir uns diesem Dialog, indem wir die Texte verfälschen oder gar unterschlagen? Winnetou ist erstaunlicherweise jetzt der Kristallisationspunkt geworden, aber im Prinzip hat fast jeder Autor, jeder Denker des 19. Jahrhunderts und der vorausgehenden Jahrhunderte irgendwo Stellen, an denen er, oder manchmal auch sie, koloniale Vorurteile transportiert. Das ist nun einmal der Zeitgeist. Darüber kann sich ein Individuum normalerweise auch mit noch so viel eigener Reflexion nicht vollständig hinausarbeiten. Karl May hat es, um von ihm persönlich zu sprechen, in sehr respektabler Weise versucht. Er hat sich tatsächlich nicht über alle, aber über sehr viele Vorurteile seiner Zeit herausgearbeitet – als Autodidakt: Er hat ja nicht studiert und auch nicht wirklich am philosophischen Diskurs seiner Zeit teilgenommen. Und in seinen letzten zehn Lebensjahren fand er zu einer utopistischen, universalen Vision von Frieden und Toleranz.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass es vielen radikalen Gegnern Karl Mays gar nicht so sehr um diese persönliche Einstellung geht: Die bloße Erzählsituation – da ist ein weißer Held, der in ferne Länder zieht, den Einheimischen die Welt erklärt, missioniert und am Ende immer gewinnt – genügt schon für das Verdikt „struktureller Rassismus“. Das kann man diskutieren, da sind wir sofort dabei: Wir wollen Karl May in keiner Weise verklären. Aber wir dürfen, glaube ich, nicht zulassen, dass man ganze Kapitel aus der europäischen Kulturgeschichte streicht und festlegt: So etwas kann man auf die Leute nicht mehr loslassen.
Wir wollen darüber reden, und wir müssen darüber reden dürfen, um es zu kontextualisieren. Die Karl-May-Gesellschaft engagiert sich sehr für den wissenschaftlichen Dialog. Wir sind, wie gesagt, kein Fanclub; wir sind bereit, in den Veranstaltungen, die wir jetzt dazu planen, Symposien, Arbeitsgruppen, über Karl May auch kritisch zu sprechen. Aber wir verwahren uns dagegen, dass man Karl May kurzerhand als „erledigt“ bezeichnet. Das widerspricht unserem Satzungsziel, und damit können wir uns einfach nicht abfinden.
Es wäre ja auch eine Verarmung ...
Selbstverständlich – und wo würden wir aufhören? Warum verbieten wir nicht die lutherische Kirche, und warum sagen wir nicht die Richard-Wagner-Festspiele ab? Welcher Klassiker hätte sich aus heutiger – sensibilisierter – Sicht nicht irgendwo in irgendeiner Weise unqualifiziert oder auch gefährlich geäußert? Richard Wagner hat wirklich heikle Dinge geschrieben. Auch Karl May hat hier und da bedenkliche Dinge gesagt, das leugnen wir nicht – aber er hat eben auch sehr viel sehr Beherzigenswertes gesagt. Und wenn wir uns mal unser Publikum dort im Saal anschauen, ich kenne die meisten von ihnen: Fast alle sind sie durch Karl May zu irgendetwas inspiriert worden in ihrem Leben, beruflich oder persönlich, aber dass jemand zum Rassisten geworden wäre durch Karl May, das habe ich noch nie erlebt. Es sind so viele Menschen darunter, die sich für die indianischen Kulturen oder für den Orient interessieren, sich mit Geschichte und Literatur und Quellen beschäftigen, auch wenn sie vielleicht keinen akademischen Hintergrund haben – sie wissen unglaublich viel über diese Themen und bringen Sympathie mit, und der Auslöser war irgendwann mal dieser Karl May: ein fehlbares Individuum, aber eine sehr anregende und, wenn man sie in den richtigen Zusammenhang stellt, zeitlose Lektüre.
Ein schönes Schlusswort. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Die Fragen stellte Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.