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02.01.2023, 15:26 Uhr
Christopher Bertusch
Rezensionen
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(c) Allitera Verlag

Rezension zu „München 1972“ von Karl Stankiewitz

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Olympia-Werbekarte, 1970. Aus: Karl Stankiewitz: München 1972. Wie Olympia eine Stadt veränderte. Sachbuch. Allitera Verlag, München, S. 79.

Zum 50. Jubiläum der Olympischen Sommerspiele in München bleibt das Jahr 1972 vor allem in negativer Erinnerung. Am 5. September verschaffen sich acht maskierte Terroristen Zutritt zum israelischen Wohnquartier im olympischen Dorf und nehmen mehrere Sportler gefangen. Die lange Nacht endet am nächsten Morgen mit dem Tod aller Geiseln. Aber nicht nur infolge dieses Schreckens, sondern auch durch die Olympischen Spiele selbst hat sich München als Stadt tiefgreifend weiterentwickelt und verändert. In Karl Stankiewitz‘ kürzlich erschienenem Sachbuch München 1972 (Allitera) wirft der Autor und Journalist insbesondere einen Blick auf die anderen, oft vergessenen Facetten dieser monumentalen Spiele, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Christopher Bertusch hat dieses Buch für uns gelesen.

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In seiner Monographie publiziert der seit 1937 in München lebende Autor Karl Stankiewitz neu überarbeitete Artikel, die er als Journalist bereits zur Zeit der Olympischen Spiele in München verfasst hat. Das Buch ist in mehrere Teile gegliedert, welche jeweils die Jahre vor, während und kurz nach den Spielen von 1972 untersuchen. Stankiewitz erzählt dabei, wie er selbst sagt, von allen „erstaunlichen, großartigen, lächerlichen, traurigen und bedenklichen Nebensächlichkeiten“.

Als am 28. April 1966 Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und andere Politiker aus Rom nach München zurückreisen, bringen sie freudige Nachrichten mit sich: München ist als neue Austragungsstätte der Olympischen Sommerspiele gewählt worden. Fortan beginnen eifrige Überlegungen, Planungen und Konzepte, die nicht nur die Personen hinter den Kulissen, sondern eine ganze Stadt auf Trab halten. Es ist das erste Mal seit 1932, dass die Olympischen Spiele in Deutschland stattfinden, und die Bundesrepublik möchte sich von den früheren, durch die Nationalsozialisten inszenierten Spiele deutlich abgrenzen. 1972 soll sich München als „Weltstadt mit Herz“ präsentieren und „heitere Spiele“ veranstalten, die für Demokratie, Verständnis, Toleranz und Offenheit stehen.

Um die Spiele in München veranstalten zu können, soll die gesamte Großstadt umgekrempelt werden. Es müssen schnellstens neue Spielstätten her, denn die bisherigen Gebäude sind alt und marode. Da die Olympischen Spiele so gut wie möglich im Freien und Grünen stattfinden sollen, konzipiert die Stadt den Olympiapark als eine weitflächige Gesamtanlage, die bis heute Anlaufstelle für Festivals, Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen ist. Architekten machen sich prompt an die Arbeit, eine Olympiahalle, ein Stadion und weitere Gebäude zu entwerfen. 1967 veranstaltet die Stadt einen Architektenwettbewerb, bei dem insgesamt 104 Entwürfe eingereicht werden. Ein Stuttgarter Architekturbüro gewinnt mit der Idee eines Hängedachs aus Acrylglas, angelehnt an Spielstätten aus dem antiken Griechenland, in denen transparente Tierhäute über die Sitzplätze gespannt wurden. So entsteht das berühmte Olympiadach, liebevoll „das größte Dach Europas“ genannt. Dieses Dach soll auch in Zukunft als Inspiration für andere Gebäude in Wüsten oder anderen unwirtlichen Lebensräumen dienen. Ein gewisser utopischer Idealismus liegt in der Luft. Doch viele Zukunftsträume erfüllen sich nicht.

Die Kosten für die Olympischen Spiele werden zuerst auf 220 Millionen DM geschätzt, steigen jedoch immer weiter an und werden schließlich zur Eröffnung der Spiele mit einer symbolischen Summe von 1,972 Milliarden DM versehen. 1973 erscheint der erste vollständige Kostenbericht mit einem satten Gesamtbetrag von 1,35 Milliarden DM. In Anbetracht dieser astronomischen Summen häuft sich die Kritik an den Spielen. In späteren Jahren muss der Kulturetat der Stadt drastisch gestrichen werden, viele Projekte fallen aus. Stankiewitz beleuchtet die Frage, ob die Olympischen Spiele ein Gewinn oder eher ein Verlust für München waren.

Die Stadt ist einer der wenigen Austragungsorte, die positive Erfahrungen mit der Wiederverwendung ihrer Olympischen Spielstätten macht: Der Olympiapark mitsamt seinen Einrichtungen wird bis heute aktiv genutzt. Im Olympiastadion finden bereits kurz nach 1972 ARD-Programme, Hundeshows und Fußballspiele statt. Im Olympiadorf tummeln sich nach Abzug der Sportler zunächst wahllos Touristen, aber in späteren Jahren werden die Bungalows im Süden an das Studentenwerk München verkauft. Und heute ist das Dorf ein Wohngebiet mit rund 6.100 Bewohner*innen, das die höchste Akademiker*innendichte der Stadt aufweist. Weitere Neuerungen, die die Olympischen Spiele veranlassen, sind ein radikaler Ausbau des bis heute aktiven, unterirdischen Schnellbahn-Systems oder 1972 die Eröffnung der ersten großen Fußgängerzone der Bundesrepublik. Das Stadtbild München als „Fußgänger-City“ geht maßgeblich auf diese Spiele zurück. Weitere Unikate der Stadt, wie der Kaufhof am Marienplatz, das vierzylindrige BMW-Hochhaus oder das Europäische Patentamt, entstehen ebenfalls in den Jahren 1967 bis 1973.

Stankiewitz‘ Buch thematisiert darüber hinaus weitere Facetten der Olympischen Spiele fernab architektonischer Neuerungen. Dabei sammelt der Autor allerlei Eindrücke: Er erzählt von der Entstehung des Olympia-Maskottchens „Waldi“ (ein Dackel) oder den weniger bekannten „Olympia-Leo“ (ein Löwe), aber auch von den Problemen fehlender Hotelbetten, dem Verkauf der Olympiatickets und einer Vielzahl unbekannter Kuriositäten. Beispielsweise die Geschichte eines alten russischen Ehepaars, das sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs illegal am Rande des Oberwiesenfelds ansiedelt. Der Mann, von allen nur „Väterchen“ genannt, baut hier ein kleines Kloster, seinen eigenen „Miniatur-Kreml“. Seine Frau sorgt sich hingegen um den Garten. Stankiewitz erarbeitet auf wenigen Seiten die persönliche Geschichte zweier Einsiedler, auch im Angesicht der erfolglosen Räumungsversuche der Stadt. Während der Olympischen Spiele stoßen hunderte Touristen in die „Gemächer“ der beiden Russen vor. Sie tragen sich in das Besucherbuch ein, betrachten das Klösterchen und können für ein paar Mark Blumen aus dem Garten kaufen. „Väterchen“ und seine Frau werden zu inoffiziellen „Maskottchen“ der Spiele.

Auch die Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Freiern und Prostituierten finden in München 1972 ihren Platz. Kurz vor den Spielen geht die Stadt immer stärker gegen Geschäfte vor, die nicht in das Weltbild einer familienfreundlichen Stadt passen. So unternimmt die Polizei 1972 Razzien gegen alle 25 Pornoläden in München. Am 10. April 1972 kommt es schließlich zur berühmten „Bordell-Blockade“: Streitkräfte der Polizei errichten eine Sperrzone rund um die Bordelle der Stadt und verwehren allen männlichen Freiern den Zutritt. Inmitten dieses Münchner „Dirnenkrieges“ steht auch das heute noch existierende Freudenhaus Leierkasten. Zwischen den hier angestellten Prostituierten und der Polizei entwickelt sich ein regelrechter Schlagabtausch. Die Prostituierten demonstrieren auf der Straße und rufen aus den Fenstern, wer den Kreis durchbreche, erhalte 50 Prozent Rabatt; die Polizei hingegen möchte „die Damen aushungern“ lassen und bleibt trotz Regen und Nässe mehrere Nächte lang standhaft. Freier, Studenten und andere Demonstranten solidarisieren sich mit den Prostituierten. Schließlich müssen die Bordelle ihren Platz räumen und ziehen in die Außenbezirke der Stadt. In den Folgejahren wird der Sperrbezirk immer weiter ausgebaut. Aber auch sonst rüstet die Münchner Polizei auf. In den Jahren der Olympischen Spiele wird an neuen Waffen wie „Nervenkampfstoffen, chemischen Knüppeln, Injektionsprojektilen, Laserpistolen“ geforscht, während neue Pistolen und ein intensiveres Schießtraining eingeführt werden.

Stankiewitz kommt nicht umhin, auch über den Anschlag der Terrorgruppe „Schwarzer September“ zu berichten. Es ist nicht das erste oder letzte Mal, dass München eine schwere Zeit erlebt. Das schreckliche Ende des 5. Septembers 1972 sowie das Versagen der damaligen Polizei lasten auch 50 Jahre später noch auf der Stadt. Dennoch sind die Olympischen Sommerspiele mehr als nur ein Schreckensszenario, denn sie haben ein Stadtbild geprägt, das bis heute hochaktuell ist. Stankiewitz beschreibt umfassend, fokussiert und detailliert, wie diese Spiele München tiefgreifend veränderten, in großen wie in kleinen Dingen.

 

Karl Stankiewitz: München 1972. Wie Olympia eine Stadt veränderte. Sachbuch. Allitera Verlag, München, 256 S., € 25,00.