Winnetou forever. Betrachtungen zum Ungeist der Zeit
Christian Schüle, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg und München. Er studierte Philosophie, Soziologe und Politikwissenschaft in München und Wien und lehrt seit 2015 Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman Das Ende unserer Tage sowie die Essays Deutschlandvermessung, Heimat. Ein Phantomschmerz, In der Kampfzone sowie zuletzt Vom Glück, unterwegs zu sein (Siedler-Verlag) zu nennen.
*
Ja, wirklich wahr, als junger Kerl, mit 10, 11 oder 12 Jahren, stand ich mindestens einmal, vielleicht sogar mehrmals, auf dem kleineren Gipfel einer bescheidenen Bergkuppe in den österreichischen Alpen und war für einen Moment Winnetou. Ich sah ins Tal hinab, wo die Siedler westwärts fuhren, ich hörte das Hufgetrappel der Pferde auf steingesäter Prärie, auf dem Rücken der Tiere erkannte ich die Banditen, die ihr mieses Geschäft betrieben: skrupellose weiße Männer, die den Indianern ihr Land nahmen, ihre Schätze raubten, sie mit Alkohol bestachen und, wenn sie gerade einen Vorwand brauchten, hinterrücks die Häuptlingssöhne töteten.
Für einen Moment poetischer Wahrhaftigkeit war ich also Winnetou und solidarisierte mich spielend mit den Stämmen der Apachen und der Assiniboine. Ich verachtete jene Rassisten und Mörder, die ungerufen ins Land kamen und die Jagdgründe der Indianer kolonisierten. Wirklich wahr, mein Gefühl für Rechtschaffenheit, für das Gute und Böse wurde auch durch Karl May und seine aus dem Geist des 19. Jahrhunderts kommenden Abenteuererzählungen geschärft, weswegen ich, vierzig Jahre später, nachhaltig erschüttert bin über die Selbstanklage eines Verlages, dessen Sitz, die Stadt Ravensburg, in meiner alten oberschwäbischen Heimat liegt. Als sofortige Reaktion auf den Shitstorm einer kleinen Gruppe redlicher Kämpfer via Instagram nahm, in einer Art Panikreaktion mit geradezu devoter Entschuldigung, der Ravensburger Verlag am 22. August zwei bereits gedruckte und – zuvor folglich für korrekt befundene – Begleitkinderbücher zum Film Der junge Winnetou vom Markt. Wegen „verharmlosender Klischees“ über die Behandlung der indigenen Bevölkerung, wie die Selbstkritik lautete, da der vom Kolonialismus des 19. Jahrhunderts geprägte Autor Karl May, so hatten es Kritiker moniert, ein überholtes rassistisches Weltbild vertrete und den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas verschweige oder aus eurozentrischer Perspektive romantisiere. Mit leichter Verzögerung sprangen Karl-May-Forscher ihrem längst toten und nun symbolisch getöteten Autor bei: Überhebliche Verachtung außereuropäischer Kulturen, rassistische Sprache und religiöse Intoleranz seien bei May durchgehend Merkmale negativ gezeichneter Antagonisten; über mehrere Generationen hinweg habe er, May, der sich selbst als Märchen- und Geschichtenerzähler bezeichnete, als Erzieher zu Toleranz und Weltoffenheit gewirkt.
Die Abwägung des moralisch erpressten Verlages mag als Ausdruck politischer Korrektheit erscheinen, ist mutmaßlich aber rein ökonomischer Natur: Lieber nimmt man Umsatzeinbußen in Kauf als Image-Einbuße durch Vorwürfe rassistischer Stereotype, die im kollektiven Gedächtnis immer und weit dauerhafter hängen bleiben.
All das ist keine Farce. Der Fall Winnetou ist real und fügt sich nahtlos ein in die Kriegserklärung von Aktivisten in einem verstörenden Kulturkampf um kulturelle Hegemonie, psychische Hypersensibilität und politische Repräsentation. Die Geisteshaltung, die hinter der kleinen, für den gegenwärtigen Stand der Diskurskultur symptomatischen Affäre steckt, ist Ausdruck einer machtvollen Re-Ideologisierung von Kunst und Kultur. Im Fahrwasser der seit den 1990er-Jahren immer zahlreicher werdenden Lehrstühle für Postcolonial Studies ist ein Missionarismus entstanden, der mit teils vernichtungswilligem Eifer historische Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht durch die Vorfahren betreiben will und immer dort, wo sich die Ankläger heute unwohl oder betroffen fühlen, eminenten sozialmedialen Druck ausübt. Es geht ja nicht um materielle Befreiungskämpfe versklavter Völker, sondern um den eingebildeten Auftrag, im Namen möglicherweise sich unterdrückt fühlender Angehöriger bestimmter Kulturen wo auch immer, mittels der moralischen Kategorien von Scham und Sünde, quasireligiöse Rechtfertigung abzufordern. Shitstürme – das Dümmste, was die Kommunikationskultur des 21. Jahrhunderts bisher hervorgebracht hat – sind als machtvolles Disziplinierungs- und Zuchtinstrument ohne weiteres in der Lage, in kurzer Zeit jede und jeden mundtot zu machen, die oder der sich auf die Logik der Kritik und Selbstkritik nicht einlässt. Der Gesinnungsjakobinismus aktivistischer Antirassisten verfügt über eine inquisitorische Säuberungsmoral, die die Illusion nährt, es handele sich um objektive Verantwortungsethik. Kunst und Kultur eignen sich bestens für die Unterstellung vermeintlich und angeblich falscher, verletzender und herabwürdigender Stereotype und Klischees, weil die Maßeinheit politischer Relevanz in zunehmendem Maße persönliche Befindlichkeit und subjektive Betroffenheit ist. Betrieben wird ein Revisionismus der Geschichte, indem Geschichten von ihrer historischen Genese entkoppelt und von jenen, die Sensibilität einfordern, ohne ihrerseits Sensibilität für Kontexte und die Autonomie eines Kunstwerks einzufordern, unters Brennglas der Selbstgerechtigkeit gelegt werden.
Die Dekonstruktion des europäischen Selbstverständnisses
Seit der Kampfbegriff „kulturelle Aneignung“ seine erstaunliche Karriere angetreten hat, wird in so gut wie jede soziale, künstlerische und kulturelle Beziehung zwischen Werk und Gesellschaft ein angenommenes Verletzungspotential hineinkonstruiert. Mit einem Kommentar, einem Vorwort, einem wertneutralen Begleittext ließe sich jedes Buch, jedes Gemälde, jedes Drama in den Geist der jeweiligen Zeit, der es entstammt, einordnen. Das Konzept der Kritik an kultureller Aneignung reduziert den Menschen auf biologische Merkmale einer Gruppenzugehörigkeit etwa qua Hautfarbe, die doch gerade überwunden werden sollen. Indem man die Angehörigen einer sozialen Gruppe nachträglich zu Opfern erklärt, viktimisiert man sie dauerhaft und reduziert sie auf ihren Status als vermeintliches Opfer. Warum sollte sich ein aus Jamaika stammender oder in Jamaika lebender Rastafari in seiner Identität verletzt fühlen, wenn ein weißer Schweizer Musiker Dreadlocks trägt? Äußerte sich jemals auch nur ein Vertreter indigener Stämme der Vereinigten Staaten negativ über die Figur des Winnetou? Und hat nicht, im Gegenteil, der Sioux-Häuptling Big Snake auf den Stufen des Grabmals von Karl May in Radebeul in der Sprache der Lakota im Januar 1928 während der „Indianer-Huldigung“ dem toten Schriftsteller zugerufen: „Du großer toter Freund! ... Du hast unserem sterbenden Volk im Herzen der Jugend aller Nationen ein bleibendes Denkmal errichtet ... In jedem Wigwam sollte Dein Bild hängen, denn nie hat der rote Mann einen besseren Freund gehabt als Dich!“ Zwar gibt es Stimmen, die infragestellen, ob die Worte des Häuptlings von Herzen kamen, wie der Verein Mimikama – der Beobachtungsstelle für Aufklärung und Desinformationen – einwendet. Warum? Weil die Sioux 1928 beim Zirkus Sarrasani unter Vertrag gestanden hätten und im selben Jahr für weitere Werbeauftritte engagiert worden seien.
Trotzdem und anders gefragt: Erweist kulturelle Aneignung einer anderen Kultur nicht vielmehr eine Ehre, die diese sonst womöglich gar nicht erführe?
Die ohne jeden Zweifel dem Wohlstand Europas zugrundeliegenden ausbeuterischen Strukturen des westlichen Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert auszuleuchten, Verbrechen zu benennen und Kausalitäten und Konsequenzen aufzuzeigen ist eine wissenschaftshistorisch wichtige und verdienstvolle akademische Aufklärungsarbeit. Die Brutalität des Kolonialherrentums europäischer Mächte seit Jahrhunderten steht außer Frage und ist von der Geschichtswissenschaft bestens dokumentiert. Im Fall Winnetous aber, der pars pro toto für einen immer stärker um sich greifenden „Cancel Culture“-Eifer steht, geht es um eine neue und ganz andere Agenda: die Dekonstruktion des europäischen Selbstverständnisses. Aktivistische Gruppen und Kollektive operieren mit einem Absolutismus des Authentischen, der als Ausschlusskriterium zum Instrument sozialer Ächtung wird und um die Bringschuld immer auf den zum Täter Erklärten zu verlagern. Ihre teils aggressive Arbeit an der Auflösung des Begriffs von Norm und Normalität führt auf Dauer zu einer Auflösung und Verlagerung von Machtstrukturen zu ihren Gunsten. Zurückgezogene Bücher, abgesagte Lehrveranstaltungen, ausgeladene Vortragsredner, umbenannte Straßen, abgesetzte Theaterstücke und gestrichene Lesungen sind Resultate einer Radikalisierung im Namen einer höheren Moral, die sich durch sich selbst rechtfertigt und Feindbilder am laufenden Band produziert. Um Meinungsfreiheit geht es schon nicht mehr, sondern um Moral und Gehorsam gegenüber dem Korrekten.
Sollten sich die Vorwürfe der kulturellen Aneignung von der Masche eines Minoritäten-Moralismus zur politischen Intervention ausweiten, hätten liberal-pluralistische Gesellschaften es mit einem bedenklichen Regress zu tun. Westliche Yogalehrer beispielsweise müssten sofort zu praktizieren aufhören, da sie mit ihrer Arbeit indische Weisheit wie Lehre kommerzialisieren. Weiße Personen dürften keine Reggae-Musik, keinen Blues und keinen Jazz mehr spielen. Im Umkehrschluss dürften in Europa von weißen Europäern komponierte Symphonien und Opern nicht mehr von Schwarzafrikanern und Asiaten gesungen oder gespielt werden, weil dies die Gefühle von Deutschen verletzen könnte. Alle Nichtdeutschen müssten aus deutschen Orchestern eliminiert werden, wie auch alle Gemälde des weißen Franzosen Paul Gauguin, der sich jahrelang in Tahiti aufhielt, ein Fall für den Moral-Index wären. Lawrence von Arabien müsste aus allen Programmen verbannt, Ben Hur gecancelt und des weiteren jeder Film verboten werden, in dem ein nichtdementer Schauspieler einen Demenzkranken oder ein Heterosexueller einen Schwulen spielt. Des Weiteren hätte man die Literatur von Robert Louis Stevenson, Daniel Defoe oder Joseph Conrad vom Markt zu nehmen, weil sie das Leben fremdländischer Völker als Vertreter europäischer Mächte beschrieben haben (auf diese Weise aber überhaupt erst ins Bewusstsein europäischer Leser brachten). Schließlich müsste man die Bibel einstampfen und den Kirchen Gottesdienste untersagen, weil sich deutsche Priester und Bischöfe den aramäischen Kulturkreis im historischen Palästina aneignen. Überhaupt hätte man in Europa das Christentum abzuschaffen (und somit die gesamte auf ihm basierende Geschichte), da dessen Wurzeln im Boden einer nahöstlichen Wüstenreligion liegen. Eminent viel Arbeit für die nachträgliche Zensur, nach deren Erledigung kaum noch ein Kunstwerk oder Kulturgut ungeschoren bleiben dürfte.
Angenommen, man nähme die Vorwürfe kultureller Aneignung ernst – was wäre die Konsequenz? Niemand würde mehr irgendetwas über nichteigene Kulturen sagen und schreiben; jede Form der Einfühlung in das Andere und Fremde wäre von vornherein unterbunden, jeder Versuch einer Annäherung für Verbindlichkeit und Verständnis passé. Jede Gruppe müsste sich in der Echokammer ihrer eigenen Selbstreferentialität anderen Stimmen verschließen; niemand würde interkulturelle Brücken zu konstruieren versuchen, keiner über das Fremdländische staunen, die Fantasie würde beschnitten, die Vorstellungskraft abgewürgt, und immerzu wäre strikt darauf zu achten, der akademisch dokumentierten Authentizität zu entsprechen. Dürfte dann irgendwer anderes als die Betroffenen selbst Erhellendes über die Nazizeit schreiben? Dürfen im Film nur noch Nazis Nazis spielen? Hätte es so jemals Charlie Chaplin als herrlichen Hitlerparodisten gegeben? Müssten wir deutschen Kindern Struwwelpeter und Heidi vorenthalten, weil die Bücher ADHS-Personen und Schweizer verletzen könnten?
Die Politisierung von Scham und Sünde
Nur Deutsche dürften Beethoven und Wagner spielen: Erkennt man den Wahnsinn, der darin steckt? Gerade in der Interpretation und Anverwandlung durch Musiker aus anderen Kulturkreisen wird Musik völkerverbindend. Durch Reduktion auf homogene Volks-, Stamm- oder Kulturkreis-Identitäten, die nur für sich selbst sprechen, wird jener Rassismus erst erschaffen, der angeblich verhindert werden soll. Mit der Ächtung der kulturellen Aneignung werden gerade die Grenzen neu errichtet, die die Aktivisten ja einzureißen vorgeben. Aneignung, notiert die Kulturwissenschaftlerin und Islamforscherin Susanne Schröter, beinhalte immer eine gewisse Wertschätzung. „Wenn man eine Gruppe von Menschen ablehnt, wird man von ihnen nichts übernehmen.“ Kurz: Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte. Als Grundlage jeder Kultur diente kulturelle Aneignung immer schon zu interkultureller Verständigung, da Imitation seit jeher eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Lernens ist.
Wohin treibt die Moral der Moralpädagogen eine liberale Demokratie, deren strukturelle Schwäche darin besteht, sich gegen autoritative Dekonstruktion nicht wehren zu können? Diejenigen, die Kultur canceln und zwischen Erkenntnis und Haltung nicht mehr unterscheiden, beschneiden den Pluralismus einer auf Diversität basierenden Kultur mit all ihren widerstreitenden und in sich berechtigten Interessen. Wer diese Freiheit nur den Gefälligen und Gleichgesinnten zuspricht, ist im gefährlichsten Sinne intolerant. Durch den Vorwurf der kulturellen Aneignung entsteht ein von Misstrauen und permanenter pauschaler Verdächtigungen geprägtes Klima.
Der anmaßende, antiaufklärerische, geradezu autoritär sich gerierende Gestus dieses Kulturkampfs gerät zum veritablen Ärgernis, wenn Verantwortliche in den entsprechenden Institutionen – Theater-, Festival- oder Universitätsleitungen etwa – kuschen, einknicken und den Diskurs des wilden und freien Denkens beschneiden, den sie qua Selbstverständnis doch gerade führen sollten. Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnte Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. Letztlich würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden.
Nicht die Demokratie als solche ist in Gefahr, sondern die liberale Demokratie: die auf Aushandlung, Ambivalenz, Pluralität und Prozess basierende beste und anspruchsvollste Gesellschaftsordnung, die es gibt.
Ja, ich habe Winnetou geliebt. Wir kämpften für das Gute und Gerechte, gegen Schurkerei, Gier und weiße Männlichkeit. Wir waren eins, weil ich mir Winnetou angeeignet hatte, ohne jede Ahnung von den kulturellen Traditionen seines Stammes, warum auch. „Hörst Du die Glocken von Santa Fe, mein Bruder?“, fragt Pierre Brice, der weißhäutige Franzose, im legendären Film seinen Gefährten Old Shatterhand auf dem Totenbett im kroatischen Velebitgebirge. Ich nicke jedes Mal: Ja, mein Bruder, ich höre sie. Dann erklingen die Glocken von fern, der Häuptling haucht ein letztes Mal aus, Winnetou ist tot. Ich habe heute noch Schwierigkeiten, dem italienischen Schauspieler Rik Battaglia in anderen Filmen Sympathie entgegenzubringen, war er doch der Darsteller des alten weißen Banditen Rollins, der Winnetou (und mir) im dritten Teil der Trilogie ins Herz schoss.
Winnetou forever. Betrachtungen zum Ungeist der Zeit>
Christian Schüle, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg und München. Er studierte Philosophie, Soziologe und Politikwissenschaft in München und Wien und lehrt seit 2015 Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman Das Ende unserer Tage sowie die Essays Deutschlandvermessung, Heimat. Ein Phantomschmerz, In der Kampfzone sowie zuletzt Vom Glück, unterwegs zu sein (Siedler-Verlag) zu nennen.
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Ja, wirklich wahr, als junger Kerl, mit 10, 11 oder 12 Jahren, stand ich mindestens einmal, vielleicht sogar mehrmals, auf dem kleineren Gipfel einer bescheidenen Bergkuppe in den österreichischen Alpen und war für einen Moment Winnetou. Ich sah ins Tal hinab, wo die Siedler westwärts fuhren, ich hörte das Hufgetrappel der Pferde auf steingesäter Prärie, auf dem Rücken der Tiere erkannte ich die Banditen, die ihr mieses Geschäft betrieben: skrupellose weiße Männer, die den Indianern ihr Land nahmen, ihre Schätze raubten, sie mit Alkohol bestachen und, wenn sie gerade einen Vorwand brauchten, hinterrücks die Häuptlingssöhne töteten.
Für einen Moment poetischer Wahrhaftigkeit war ich also Winnetou und solidarisierte mich spielend mit den Stämmen der Apachen und der Assiniboine. Ich verachtete jene Rassisten und Mörder, die ungerufen ins Land kamen und die Jagdgründe der Indianer kolonisierten. Wirklich wahr, mein Gefühl für Rechtschaffenheit, für das Gute und Böse wurde auch durch Karl May und seine aus dem Geist des 19. Jahrhunderts kommenden Abenteuererzählungen geschärft, weswegen ich, vierzig Jahre später, nachhaltig erschüttert bin über die Selbstanklage eines Verlages, dessen Sitz, die Stadt Ravensburg, in meiner alten oberschwäbischen Heimat liegt. Als sofortige Reaktion auf den Shitstorm einer kleinen Gruppe redlicher Kämpfer via Instagram nahm, in einer Art Panikreaktion mit geradezu devoter Entschuldigung, der Ravensburger Verlag am 22. August zwei bereits gedruckte und – zuvor folglich für korrekt befundene – Begleitkinderbücher zum Film Der junge Winnetou vom Markt. Wegen „verharmlosender Klischees“ über die Behandlung der indigenen Bevölkerung, wie die Selbstkritik lautete, da der vom Kolonialismus des 19. Jahrhunderts geprägte Autor Karl May, so hatten es Kritiker moniert, ein überholtes rassistisches Weltbild vertrete und den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas verschweige oder aus eurozentrischer Perspektive romantisiere. Mit leichter Verzögerung sprangen Karl-May-Forscher ihrem längst toten und nun symbolisch getöteten Autor bei: Überhebliche Verachtung außereuropäischer Kulturen, rassistische Sprache und religiöse Intoleranz seien bei May durchgehend Merkmale negativ gezeichneter Antagonisten; über mehrere Generationen hinweg habe er, May, der sich selbst als Märchen- und Geschichtenerzähler bezeichnete, als Erzieher zu Toleranz und Weltoffenheit gewirkt.
Die Abwägung des moralisch erpressten Verlages mag als Ausdruck politischer Korrektheit erscheinen, ist mutmaßlich aber rein ökonomischer Natur: Lieber nimmt man Umsatzeinbußen in Kauf als Image-Einbuße durch Vorwürfe rassistischer Stereotype, die im kollektiven Gedächtnis immer und weit dauerhafter hängen bleiben.
All das ist keine Farce. Der Fall Winnetou ist real und fügt sich nahtlos ein in die Kriegserklärung von Aktivisten in einem verstörenden Kulturkampf um kulturelle Hegemonie, psychische Hypersensibilität und politische Repräsentation. Die Geisteshaltung, die hinter der kleinen, für den gegenwärtigen Stand der Diskurskultur symptomatischen Affäre steckt, ist Ausdruck einer machtvollen Re-Ideologisierung von Kunst und Kultur. Im Fahrwasser der seit den 1990er-Jahren immer zahlreicher werdenden Lehrstühle für Postcolonial Studies ist ein Missionarismus entstanden, der mit teils vernichtungswilligem Eifer historische Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht durch die Vorfahren betreiben will und immer dort, wo sich die Ankläger heute unwohl oder betroffen fühlen, eminenten sozialmedialen Druck ausübt. Es geht ja nicht um materielle Befreiungskämpfe versklavter Völker, sondern um den eingebildeten Auftrag, im Namen möglicherweise sich unterdrückt fühlender Angehöriger bestimmter Kulturen wo auch immer, mittels der moralischen Kategorien von Scham und Sünde, quasireligiöse Rechtfertigung abzufordern. Shitstürme – das Dümmste, was die Kommunikationskultur des 21. Jahrhunderts bisher hervorgebracht hat – sind als machtvolles Disziplinierungs- und Zuchtinstrument ohne weiteres in der Lage, in kurzer Zeit jede und jeden mundtot zu machen, die oder der sich auf die Logik der Kritik und Selbstkritik nicht einlässt. Der Gesinnungsjakobinismus aktivistischer Antirassisten verfügt über eine inquisitorische Säuberungsmoral, die die Illusion nährt, es handele sich um objektive Verantwortungsethik. Kunst und Kultur eignen sich bestens für die Unterstellung vermeintlich und angeblich falscher, verletzender und herabwürdigender Stereotype und Klischees, weil die Maßeinheit politischer Relevanz in zunehmendem Maße persönliche Befindlichkeit und subjektive Betroffenheit ist. Betrieben wird ein Revisionismus der Geschichte, indem Geschichten von ihrer historischen Genese entkoppelt und von jenen, die Sensibilität einfordern, ohne ihrerseits Sensibilität für Kontexte und die Autonomie eines Kunstwerks einzufordern, unters Brennglas der Selbstgerechtigkeit gelegt werden.
Die Dekonstruktion des europäischen Selbstverständnisses
Seit der Kampfbegriff „kulturelle Aneignung“ seine erstaunliche Karriere angetreten hat, wird in so gut wie jede soziale, künstlerische und kulturelle Beziehung zwischen Werk und Gesellschaft ein angenommenes Verletzungspotential hineinkonstruiert. Mit einem Kommentar, einem Vorwort, einem wertneutralen Begleittext ließe sich jedes Buch, jedes Gemälde, jedes Drama in den Geist der jeweiligen Zeit, der es entstammt, einordnen. Das Konzept der Kritik an kultureller Aneignung reduziert den Menschen auf biologische Merkmale einer Gruppenzugehörigkeit etwa qua Hautfarbe, die doch gerade überwunden werden sollen. Indem man die Angehörigen einer sozialen Gruppe nachträglich zu Opfern erklärt, viktimisiert man sie dauerhaft und reduziert sie auf ihren Status als vermeintliches Opfer. Warum sollte sich ein aus Jamaika stammender oder in Jamaika lebender Rastafari in seiner Identität verletzt fühlen, wenn ein weißer Schweizer Musiker Dreadlocks trägt? Äußerte sich jemals auch nur ein Vertreter indigener Stämme der Vereinigten Staaten negativ über die Figur des Winnetou? Und hat nicht, im Gegenteil, der Sioux-Häuptling Big Snake auf den Stufen des Grabmals von Karl May in Radebeul in der Sprache der Lakota im Januar 1928 während der „Indianer-Huldigung“ dem toten Schriftsteller zugerufen: „Du großer toter Freund! ... Du hast unserem sterbenden Volk im Herzen der Jugend aller Nationen ein bleibendes Denkmal errichtet ... In jedem Wigwam sollte Dein Bild hängen, denn nie hat der rote Mann einen besseren Freund gehabt als Dich!“ Zwar gibt es Stimmen, die infragestellen, ob die Worte des Häuptlings von Herzen kamen, wie der Verein Mimikama – der Beobachtungsstelle für Aufklärung und Desinformationen – einwendet. Warum? Weil die Sioux 1928 beim Zirkus Sarrasani unter Vertrag gestanden hätten und im selben Jahr für weitere Werbeauftritte engagiert worden seien.
Trotzdem und anders gefragt: Erweist kulturelle Aneignung einer anderen Kultur nicht vielmehr eine Ehre, die diese sonst womöglich gar nicht erführe?
Die ohne jeden Zweifel dem Wohlstand Europas zugrundeliegenden ausbeuterischen Strukturen des westlichen Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert auszuleuchten, Verbrechen zu benennen und Kausalitäten und Konsequenzen aufzuzeigen ist eine wissenschaftshistorisch wichtige und verdienstvolle akademische Aufklärungsarbeit. Die Brutalität des Kolonialherrentums europäischer Mächte seit Jahrhunderten steht außer Frage und ist von der Geschichtswissenschaft bestens dokumentiert. Im Fall Winnetous aber, der pars pro toto für einen immer stärker um sich greifenden „Cancel Culture“-Eifer steht, geht es um eine neue und ganz andere Agenda: die Dekonstruktion des europäischen Selbstverständnisses. Aktivistische Gruppen und Kollektive operieren mit einem Absolutismus des Authentischen, der als Ausschlusskriterium zum Instrument sozialer Ächtung wird und um die Bringschuld immer auf den zum Täter Erklärten zu verlagern. Ihre teils aggressive Arbeit an der Auflösung des Begriffs von Norm und Normalität führt auf Dauer zu einer Auflösung und Verlagerung von Machtstrukturen zu ihren Gunsten. Zurückgezogene Bücher, abgesagte Lehrveranstaltungen, ausgeladene Vortragsredner, umbenannte Straßen, abgesetzte Theaterstücke und gestrichene Lesungen sind Resultate einer Radikalisierung im Namen einer höheren Moral, die sich durch sich selbst rechtfertigt und Feindbilder am laufenden Band produziert. Um Meinungsfreiheit geht es schon nicht mehr, sondern um Moral und Gehorsam gegenüber dem Korrekten.
Sollten sich die Vorwürfe der kulturellen Aneignung von der Masche eines Minoritäten-Moralismus zur politischen Intervention ausweiten, hätten liberal-pluralistische Gesellschaften es mit einem bedenklichen Regress zu tun. Westliche Yogalehrer beispielsweise müssten sofort zu praktizieren aufhören, da sie mit ihrer Arbeit indische Weisheit wie Lehre kommerzialisieren. Weiße Personen dürften keine Reggae-Musik, keinen Blues und keinen Jazz mehr spielen. Im Umkehrschluss dürften in Europa von weißen Europäern komponierte Symphonien und Opern nicht mehr von Schwarzafrikanern und Asiaten gesungen oder gespielt werden, weil dies die Gefühle von Deutschen verletzen könnte. Alle Nichtdeutschen müssten aus deutschen Orchestern eliminiert werden, wie auch alle Gemälde des weißen Franzosen Paul Gauguin, der sich jahrelang in Tahiti aufhielt, ein Fall für den Moral-Index wären. Lawrence von Arabien müsste aus allen Programmen verbannt, Ben Hur gecancelt und des weiteren jeder Film verboten werden, in dem ein nichtdementer Schauspieler einen Demenzkranken oder ein Heterosexueller einen Schwulen spielt. Des Weiteren hätte man die Literatur von Robert Louis Stevenson, Daniel Defoe oder Joseph Conrad vom Markt zu nehmen, weil sie das Leben fremdländischer Völker als Vertreter europäischer Mächte beschrieben haben (auf diese Weise aber überhaupt erst ins Bewusstsein europäischer Leser brachten). Schließlich müsste man die Bibel einstampfen und den Kirchen Gottesdienste untersagen, weil sich deutsche Priester und Bischöfe den aramäischen Kulturkreis im historischen Palästina aneignen. Überhaupt hätte man in Europa das Christentum abzuschaffen (und somit die gesamte auf ihm basierende Geschichte), da dessen Wurzeln im Boden einer nahöstlichen Wüstenreligion liegen. Eminent viel Arbeit für die nachträgliche Zensur, nach deren Erledigung kaum noch ein Kunstwerk oder Kulturgut ungeschoren bleiben dürfte.
Angenommen, man nähme die Vorwürfe kultureller Aneignung ernst – was wäre die Konsequenz? Niemand würde mehr irgendetwas über nichteigene Kulturen sagen und schreiben; jede Form der Einfühlung in das Andere und Fremde wäre von vornherein unterbunden, jeder Versuch einer Annäherung für Verbindlichkeit und Verständnis passé. Jede Gruppe müsste sich in der Echokammer ihrer eigenen Selbstreferentialität anderen Stimmen verschließen; niemand würde interkulturelle Brücken zu konstruieren versuchen, keiner über das Fremdländische staunen, die Fantasie würde beschnitten, die Vorstellungskraft abgewürgt, und immerzu wäre strikt darauf zu achten, der akademisch dokumentierten Authentizität zu entsprechen. Dürfte dann irgendwer anderes als die Betroffenen selbst Erhellendes über die Nazizeit schreiben? Dürfen im Film nur noch Nazis Nazis spielen? Hätte es so jemals Charlie Chaplin als herrlichen Hitlerparodisten gegeben? Müssten wir deutschen Kindern Struwwelpeter und Heidi vorenthalten, weil die Bücher ADHS-Personen und Schweizer verletzen könnten?
Die Politisierung von Scham und Sünde
Nur Deutsche dürften Beethoven und Wagner spielen: Erkennt man den Wahnsinn, der darin steckt? Gerade in der Interpretation und Anverwandlung durch Musiker aus anderen Kulturkreisen wird Musik völkerverbindend. Durch Reduktion auf homogene Volks-, Stamm- oder Kulturkreis-Identitäten, die nur für sich selbst sprechen, wird jener Rassismus erst erschaffen, der angeblich verhindert werden soll. Mit der Ächtung der kulturellen Aneignung werden gerade die Grenzen neu errichtet, die die Aktivisten ja einzureißen vorgeben. Aneignung, notiert die Kulturwissenschaftlerin und Islamforscherin Susanne Schröter, beinhalte immer eine gewisse Wertschätzung. „Wenn man eine Gruppe von Menschen ablehnt, wird man von ihnen nichts übernehmen.“ Kurz: Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte. Als Grundlage jeder Kultur diente kulturelle Aneignung immer schon zu interkultureller Verständigung, da Imitation seit jeher eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Lernens ist.
Wohin treibt die Moral der Moralpädagogen eine liberale Demokratie, deren strukturelle Schwäche darin besteht, sich gegen autoritative Dekonstruktion nicht wehren zu können? Diejenigen, die Kultur canceln und zwischen Erkenntnis und Haltung nicht mehr unterscheiden, beschneiden den Pluralismus einer auf Diversität basierenden Kultur mit all ihren widerstreitenden und in sich berechtigten Interessen. Wer diese Freiheit nur den Gefälligen und Gleichgesinnten zuspricht, ist im gefährlichsten Sinne intolerant. Durch den Vorwurf der kulturellen Aneignung entsteht ein von Misstrauen und permanenter pauschaler Verdächtigungen geprägtes Klima.
Der anmaßende, antiaufklärerische, geradezu autoritär sich gerierende Gestus dieses Kulturkampfs gerät zum veritablen Ärgernis, wenn Verantwortliche in den entsprechenden Institutionen – Theater-, Festival- oder Universitätsleitungen etwa – kuschen, einknicken und den Diskurs des wilden und freien Denkens beschneiden, den sie qua Selbstverständnis doch gerade führen sollten. Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnte Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. Letztlich würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden.
Nicht die Demokratie als solche ist in Gefahr, sondern die liberale Demokratie: die auf Aushandlung, Ambivalenz, Pluralität und Prozess basierende beste und anspruchsvollste Gesellschaftsordnung, die es gibt.
Ja, ich habe Winnetou geliebt. Wir kämpften für das Gute und Gerechte, gegen Schurkerei, Gier und weiße Männlichkeit. Wir waren eins, weil ich mir Winnetou angeeignet hatte, ohne jede Ahnung von den kulturellen Traditionen seines Stammes, warum auch. „Hörst Du die Glocken von Santa Fe, mein Bruder?“, fragt Pierre Brice, der weißhäutige Franzose, im legendären Film seinen Gefährten Old Shatterhand auf dem Totenbett im kroatischen Velebitgebirge. Ich nicke jedes Mal: Ja, mein Bruder, ich höre sie. Dann erklingen die Glocken von fern, der Häuptling haucht ein letztes Mal aus, Winnetou ist tot. Ich habe heute noch Schwierigkeiten, dem italienischen Schauspieler Rik Battaglia in anderen Filmen Sympathie entgegenzubringen, war er doch der Darsteller des alten weißen Banditen Rollins, der Winnetou (und mir) im dritten Teil der Trilogie ins Herz schoss.