Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (3)
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Theaterpracht und Sperlinge
Herr Möwenferns zweite Woche in München ist ihm kaum ein paar Worte wert. Seine fünf Einträge nehmen kaum mehr als eine Seite in der Übersetzung ein.
Am Anfang, sonntags, steht ein Mittagessen im Kreise von Militärärzten und anderen Medizinern an. Es geht durchaus formal zu, Herr Möwenfern sitzt zur Linken der Gattin des Augenarzts August von Rothemund (1830-1906). Ihren Namen notiert er nicht – wie übrigens auch die Wikipedia, die sogar verschweigt, dass Herr Professor von Rothemund überhaupt verheiratet war.
Wichtiger ist sowieso der Theaterbesuch am Abend. Stabsarzt Dr. Weber und sein finnlandschwedischer Freund Wahlberg haben ihn dazu eingeladen. Dr. Webers Vorname ist noch unbekannt, aber er ist nicht irgendwer. Seit 1881 ist er der Sanitätsoffizier der Hartschiere, der Leibgarde des Königs, nachdem er davor im 1. Infanterie-Regiment „König“ gedient hatte.
Man darf vermuten, dass mindestens der Ort der Einladung auf ihn zurückgeht. Es handelt sich um das „Residenztheater“, das heutige Cuvilliés-Theater, damals noch am Ort des (Neuen) Residenztheaters. Ôgai ist begeistert: „Das Theater befindet sich gleich neben dem Hoftheater. Es ist sehr klein und bietet Platz für nur 800 Zuschauer. Aber in der Schönheit seiner Architektur steht es dem Hoftheater um nichts nach.“ Gespielt wurde Calderóns La dama duende.
Seine Begeisterung kann man nachvollziehen, auch wenn das heutige Cuvilliés-Theater in Teilen einen anderen Eindruck hinterlässt als der damals noch historistisch überformte Theaterraum mit Deckenbild und gewaltigem Kronleuchter.
Die Aufführung von Calderóns Dame Kobold, wie das Stück in Deutschland meistens benannt wird, ist die einzige Calderón-Aufführung, die Ôgai in seinem Tagebuch notiert. Bezeichnenderweise handelt es sich um eine Komödie, während der große Calderón, den er später, 1889, ins Japanische übertragen wird, eine Tragödie ist, der Richter von Zalamea / El alcalde de Zalamea.
Überhaupt, kein quantifizierbares Messergebnis, aber ein Eindruck: Mori Ôgai übersetzte vor allem „erhabene“ Werke (selbst wenn manches, was ihm wichtig erschien, heute eher zu vergessenen Texten oder Autoren zu zählen ist). Auch sein Lesepensum, und er hat ein gewaltiges, tendiert zum „Erhabenen“ zum „Kanon“.
Aber er geht auch sehr gerne in Komödien. Ôgai, der staatstragende Dichter und Modernisierer sowie Herr Möwenfern, der junge neugierige Mensch in München, zwei sehr unterschiedliche Facetten derselben Person.
Auch am Montag geht es mit Weber und Wahlberg abermals ins Theater, allerdings in Kil's Colosseum, einem Vergnügungstempel am Rande des Gärtnerplatzviertels.
„Es war unanständig und nicht wert, angesehen zu werden“. Zu gerne wüsste man, was gegeben wurde, aber auch in den (digitalisierten) Zeitungen der Woche ist es nicht notiert. Vielleicht war es eine Burleske oder einfach nur eine schlechte Komödie.
**
Am Mittwoch ergibt sich für Herrn Möwenfern dagegen ein idyllisches Bild: „Das Zimmermädchen hatte das Fenster geöffnet und die Sperlinge gefüttert. Als ich zufällig nach draußen schaute, sah ich das helle Grün der Theresienwiese im Sonnenschein schimmern, und die Statue der Bavaria ragte weit in den Himmel hinein. Südlich der Wiese, weit in der Ferne erblickte ich die Berge. Als ich in dieses Haus einzog, hatte ich gar nicht gemerkt, wie einzigartig schön hier die Landschaft ist. Ich musste über meine Unaufmerksamkeit lächeln“.
Kaum eine Textstelle verrät so sehr, wie weit 1886 von heute entfernt ist. Damals begann München erst, sich wie ein steinernes Korsett um die Theresienhöhe und die davorliegenden Wiesen zu legen. Schön kann man das etwa in der Online-Ausstellung auf bavarikon nachvollziehen.
Als Herr Möwenfern in München ist, liegt das Institut Pettenkofers an der Ecke Findlingstraße/Heustraße (heute: Ecke Pettenkoferstraße / Paul-Heyse-Straße) noch ganz am Rande der Bebauung, auf der anderen Seite der Kreuzung befinden damals noch Wiesen. Auch Ôgais Wohnung in der Heustraße 16, was heute in etwa dem Gebäude Paul-Heyse-Straße 37 entspricht, hatte damit eine Aussicht am Hygieneinstitut vorbei direkt auf die Theresienwiese und Theresienhöhe. (St. Paul und die ganze Bebauung zwischen Herzog-Heinrich-Straße / Kaiser-Ludwig-Platz im Osten und Bavariaring im Westen existierten damals noch nicht.)
So sind nicht nur Spatzen möglich, die sich 2022 wohl kaum noch in die Steinwüste der Paul-Heyse-Straße verirren, wo wie sonst nur selten Autoren- und Straßeninhalt so diametral voneinander abweichen; auch die „Wiesn“ ist längst nicht mehr sichtbar oder sonderlich grün, und auch die Alpen dürften von der Paul-Heyse-Straße nur noch von den Dachterrassen aus erkennbar sein. Als Münchener muss man sowieso über Ôgais Lächeln lächeln – dass er die Berge vorher nicht wahrnehmen konnte, dürfte gut und gerne damit zusammengehangen haben, dass der 17. März seine erste Begegnung mit dem Föhnwind gewesen sein mag, der die Alpen erst so richtig im Stadtraum sichtbar macht.
Ein Gemälde, das Adolf Heinrich Lier (1826-1882) 1882 gemalt hat und das heute in der Neuen Pinakothek hängt – bzw. dort einmal wieder hängen wird – könnte fast vom Standpunkt der Wohnung Ôgais aus entstanden sein, auch wenn die Berge fehlen. Es war halt kein Föhn ...
Donnerstag verabschiedet sich Herr Möwenfern von seinem Freund Wahlberg, der nach Berlin weiterreist. Damit und mit einem Besuch beim Physiologen und Ernährungswissenschaftler Carl Voit (1831-1908) endet die Woche. „Etwas steif und eckig“ wirkt Voit auf Ôgai, der aber wohl seinen Begegnungen mit Voit die Idee für seinen kuriosesten Artikel verdankt, in dem es um die Wirkung des Biers auf den Körper geht – doch davon ein andermal mehr ...
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Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
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Theaterpracht und Sperlinge
Herr Möwenferns zweite Woche in München ist ihm kaum ein paar Worte wert. Seine fünf Einträge nehmen kaum mehr als eine Seite in der Übersetzung ein.
Am Anfang, sonntags, steht ein Mittagessen im Kreise von Militärärzten und anderen Medizinern an. Es geht durchaus formal zu, Herr Möwenfern sitzt zur Linken der Gattin des Augenarzts August von Rothemund (1830-1906). Ihren Namen notiert er nicht – wie übrigens auch die Wikipedia, die sogar verschweigt, dass Herr Professor von Rothemund überhaupt verheiratet war.
Wichtiger ist sowieso der Theaterbesuch am Abend. Stabsarzt Dr. Weber und sein finnlandschwedischer Freund Wahlberg haben ihn dazu eingeladen. Dr. Webers Vorname ist noch unbekannt, aber er ist nicht irgendwer. Seit 1881 ist er der Sanitätsoffizier der Hartschiere, der Leibgarde des Königs, nachdem er davor im 1. Infanterie-Regiment „König“ gedient hatte.
Man darf vermuten, dass mindestens der Ort der Einladung auf ihn zurückgeht. Es handelt sich um das „Residenztheater“, das heutige Cuvilliés-Theater, damals noch am Ort des (Neuen) Residenztheaters. Ôgai ist begeistert: „Das Theater befindet sich gleich neben dem Hoftheater. Es ist sehr klein und bietet Platz für nur 800 Zuschauer. Aber in der Schönheit seiner Architektur steht es dem Hoftheater um nichts nach.“ Gespielt wurde Calderóns La dama duende.
Seine Begeisterung kann man nachvollziehen, auch wenn das heutige Cuvilliés-Theater in Teilen einen anderen Eindruck hinterlässt als der damals noch historistisch überformte Theaterraum mit Deckenbild und gewaltigem Kronleuchter.
Die Aufführung von Calderóns Dame Kobold, wie das Stück in Deutschland meistens benannt wird, ist die einzige Calderón-Aufführung, die Ôgai in seinem Tagebuch notiert. Bezeichnenderweise handelt es sich um eine Komödie, während der große Calderón, den er später, 1889, ins Japanische übertragen wird, eine Tragödie ist, der Richter von Zalamea / El alcalde de Zalamea.
Überhaupt, kein quantifizierbares Messergebnis, aber ein Eindruck: Mori Ôgai übersetzte vor allem „erhabene“ Werke (selbst wenn manches, was ihm wichtig erschien, heute eher zu vergessenen Texten oder Autoren zu zählen ist). Auch sein Lesepensum, und er hat ein gewaltiges, tendiert zum „Erhabenen“ zum „Kanon“.
Aber er geht auch sehr gerne in Komödien. Ôgai, der staatstragende Dichter und Modernisierer sowie Herr Möwenfern, der junge neugierige Mensch in München, zwei sehr unterschiedliche Facetten derselben Person.
Auch am Montag geht es mit Weber und Wahlberg abermals ins Theater, allerdings in Kil's Colosseum, einem Vergnügungstempel am Rande des Gärtnerplatzviertels.
„Es war unanständig und nicht wert, angesehen zu werden“. Zu gerne wüsste man, was gegeben wurde, aber auch in den (digitalisierten) Zeitungen der Woche ist es nicht notiert. Vielleicht war es eine Burleske oder einfach nur eine schlechte Komödie.
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Am Mittwoch ergibt sich für Herrn Möwenfern dagegen ein idyllisches Bild: „Das Zimmermädchen hatte das Fenster geöffnet und die Sperlinge gefüttert. Als ich zufällig nach draußen schaute, sah ich das helle Grün der Theresienwiese im Sonnenschein schimmern, und die Statue der Bavaria ragte weit in den Himmel hinein. Südlich der Wiese, weit in der Ferne erblickte ich die Berge. Als ich in dieses Haus einzog, hatte ich gar nicht gemerkt, wie einzigartig schön hier die Landschaft ist. Ich musste über meine Unaufmerksamkeit lächeln“.
Kaum eine Textstelle verrät so sehr, wie weit 1886 von heute entfernt ist. Damals begann München erst, sich wie ein steinernes Korsett um die Theresienhöhe und die davorliegenden Wiesen zu legen. Schön kann man das etwa in der Online-Ausstellung auf bavarikon nachvollziehen.
Als Herr Möwenfern in München ist, liegt das Institut Pettenkofers an der Ecke Findlingstraße/Heustraße (heute: Ecke Pettenkoferstraße / Paul-Heyse-Straße) noch ganz am Rande der Bebauung, auf der anderen Seite der Kreuzung befinden damals noch Wiesen. Auch Ôgais Wohnung in der Heustraße 16, was heute in etwa dem Gebäude Paul-Heyse-Straße 37 entspricht, hatte damit eine Aussicht am Hygieneinstitut vorbei direkt auf die Theresienwiese und Theresienhöhe. (St. Paul und die ganze Bebauung zwischen Herzog-Heinrich-Straße / Kaiser-Ludwig-Platz im Osten und Bavariaring im Westen existierten damals noch nicht.)
So sind nicht nur Spatzen möglich, die sich 2022 wohl kaum noch in die Steinwüste der Paul-Heyse-Straße verirren, wo wie sonst nur selten Autoren- und Straßeninhalt so diametral voneinander abweichen; auch die „Wiesn“ ist längst nicht mehr sichtbar oder sonderlich grün, und auch die Alpen dürften von der Paul-Heyse-Straße nur noch von den Dachterrassen aus erkennbar sein. Als Münchener muss man sowieso über Ôgais Lächeln lächeln – dass er die Berge vorher nicht wahrnehmen konnte, dürfte gut und gerne damit zusammengehangen haben, dass der 17. März seine erste Begegnung mit dem Föhnwind gewesen sein mag, der die Alpen erst so richtig im Stadtraum sichtbar macht.
Ein Gemälde, das Adolf Heinrich Lier (1826-1882) 1882 gemalt hat und das heute in der Neuen Pinakothek hängt – bzw. dort einmal wieder hängen wird – könnte fast vom Standpunkt der Wohnung Ôgais aus entstanden sein, auch wenn die Berge fehlen. Es war halt kein Föhn ...
Donnerstag verabschiedet sich Herr Möwenfern von seinem Freund Wahlberg, der nach Berlin weiterreist. Damit und mit einem Besuch beim Physiologen und Ernährungswissenschaftler Carl Voit (1831-1908) endet die Woche. „Etwas steif und eckig“ wirkt Voit auf Ôgai, der aber wohl seinen Begegnungen mit Voit die Idee für seinen kuriosesten Artikel verdankt, in dem es um die Wirkung des Biers auf den Körper geht – doch davon ein andermal mehr ...