Produktionstagebücher (4): Gastland-Ableger
Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
*
+++ Mitteilungsblatt, Logbucheintrag +++ Schlechtes Wetter, wütende See +++ Zerbrechliche Habseligkeiten vorsorglich angurten! +++ Aller Ausfahrt ist schwer +++ Sail away, dream your dreams! +++
Schrottstrudel auf südwestbayrischen Almwiesen entdeckt.
Und wer macht des jetzt weg?
Bürgerinitiative Green Seas: Übersteigt unsere Kapazitäten.
Der Wind machte sich schwerer, als man erwartet hatte. Die Oberfläche des Wassers verwandelte sich in ein zerklüftetes Gebirge. Milchige Ströme gepeitschter Flüssigkeit jagten von den Kämmen und Gipfeln zutal, verdichteten sich zu der Materie, die sie waren und überfluteten das Schiff. Allmählich war eine unbändige Bewegung in den hölzernen Bau gekommen. Die Landschaft der Kräfte war nicht mehr zu überschauen. Ohne jedes Schamgefühl kam die See über die Reling. Das Gebirge floß heran. Oder das Schiff tauchte sich anspringend hinein. Es gab Schläge, gegen die die Menschen den Willen zur Erhaltung nicht aufbrachten. Das war, wenn das Wasser blank sich auf das Schiff warf und es hinein drückte in die unheimliche Dichte der flüssigen Urwelt. Niemand erinnerte sich hinterher, daß die Wasserstürze mit prustendem, trommelndem Lärm herangeritten kamen. Das Zittern des mißhandelten Fahrzeuges spürte man nur wie einen züngelnden Strom im Mark der Knochen. Die Haut war eisig, die Lungen hatten Mühe, gegen den gewaltigen Sog der Luft zu atmen… Die Berechnungen eines unbarmherzigen Geistes waren zunichte gemacht. Die Natur war da. Allüberall. Die Bewegung verdichtete sich zu einem ehernen Schöpfungsablauf… Der Kapitän genoß die Freiheit, ohne Vormund Führer des Schiffes zu sein. Er wünschte sich, der Sturm möchte andauern.
KAPITEL EINS – It is time, oh ho, it is time...
Ein schwerer Sturm wirft Regen und Gischt gegen die zugeschraubten Fenster des Landgastschreiberzimmers und verunklart die Sicht auf die grüngrauen Hügel draußen. Den ganzen Tag über muss unter Kunstlicht geschrieben werden. Der LGS denkt, extremes Wetter müsste doch auch extreme Gedanken begünstigen. Er muss aber feststellen, dass in ihm vor allem eine extreme Abwesenheit von Sprache ist. Von Sinn und Form. Eher ein Überlassungswunsch, eine gefährliche Verlockung, sich dem, was da draußen tobt und gurgelt und das Gebäude, in dem der Landgastschreiber sitzt, hin und her stößt, ohne Gegenwehr hinzugeben.
Auf dem Außenbalkon vor dem Landgastschreiberzimmer rollen schaumige Pfützen über den grünlackierten Stahl. Der Schreiber hört das hektische Läuten von Kuhglocken und glaubt, ihm soll ein Signal gegeben werden. Aufwachen? Aufstehen? Sitzenbleiben? Immersionsanzug anlegen und zum Sammelpunkt? Abandon Ship!? An Konzentration ist nicht zu denken. Der Landgastschreiber erhebt sich, durchmisst den Raum mit weichen Knien, öffnet die Tür auf den fensterlosen Flur und tritt hinaus ins kalte Licht der Leuchtstoffröhren. Er riecht Industrieputzmittel auf Linoleumfußboden, sieht die Bewegung, in die der mächtige Sturm das Gebäude versetzt, an den Bilderrahmen an den Wänden, die synchron und sehr rhythmisch von der einen Seite auf die andere schiefgerückt werden. Er denkt, dass hier draußen wirklich gar keine tageszeitliche Verortung mehr möglich ist. Eine Weile ist es still bis auf das dumpfe Fauchen des Sturms und das tief aus dem Gebäudeinneren herauftönende Wimmern der Wände, Schrauben und Schweißnähte. Kein weiteres Signal ist zu vernehmen.
Am anderen Ende des Flurs öffnet sich die Tür eines anderen Landgastschreiberzimmers. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov erscheint aus der Öffnung, in knielangen Shorts, beigefarbener Polyesterjacke, einer leuchtend weißen Schirmmütze und mit einem Schmetterlingsnetz unter dem Arm, setzt vorsichtige Schritte auf das Linoleum und geht so bis an die schmale Außentür heran, die den Flur mit dem umlaufenden Stahlbalkon verbindet. Er blickt durch das kleine, von Regen und Spritzwasser sicherlich vollkommen undurchsichtig gewordene Bullauge in der Tür und sagt:
„Aujourd'hui je n'attraperai rien.“
Der Landgastschreiber versteht leider kein Französisch und weiß nicht, was er dem Schriftsteller antworten soll. Er entscheidet sich für den Gang hinab in die unteren Stockwerke des Stahlgebäudes, um nach weiteren Zeichen Ausschau zu halten.
Im Maschinenraum begegnet der Landgastschreiber dem üblichen Geschrei und Hantieren an Hebeln, dem Geruch von heißem Schweröl und Schmierfett. Er wird gar nicht bemerkt von den schwitzenden Arbeiterinnen mit den Gehörschützern über den Ohren und weiß schon nach wenigen Sekunden, dass seine Anwesenheit hier keinen Unterschied macht.
Ganz vorn, im spitz zulaufenden Rumpf unter Deck, zwischen den massiven Ankerketten und im Lärm der außen aufschäumenden Bugwellen, sieht der LGS den Schriftsteller W.G. Sebald eine hoffnungslose Partie Tischtennis gegen einen hochroutinierten Öler spielen, auf einer beständig hin und her wankenden Platte, die jeden Ball unberechenbar macht. Der Landgastschreiber denkt, dass es auf dem Meer keine Bewegung gibt, die sich nicht in der nachfolgenden auflöst, und dass diejenigen, die auf ihm nach Spuren der Geschichte suchen, auf der Verliererseite der Platte stehen müssen, wo ihnen beständig die Bälle um die Ohren gehauen werden.
Weiter oben im Gebäude, bei vor die Fenster gezogenen Vorhängen und ebenfalls unter Kunstlicht, sieht der LGS ein paar Crewmitglieder auf dem schwankenden blauen Teppichboden im Aufenthaltsraum ein völlig unsinniges Murmelspiel spielen, in dem alles laufend durcheinanderrollt und nie lange genug an einer Stelle verbleibt, um anvisiert zu werden. Ein paar Anstreicher sitzen aufgereiht auf einem der Sofas an der Wand, mit zerknautschten Pappbechern in den Händen, beobachten das Spiel und lachen ein betäubt betrunkenes, erschütternd lebloses Lachen in den Raum hinein. Der Landgastschreiber erinnert sich an den Lyriker, Leser und weisen Lehrer Seymour Glass, der als Zehnjähriger an einem frühen Abend in New York, bei besonders goldenem Licht und milder Luft, aus dem Haus auf dem Bürgersteig tritt und seinem gegen ein Nachbarskind um Murmeln spielenden Bruder Anweisung gibt, zu versuchen, „nicht so sehr zu zielen“. Weil der Bruder, wenn er sich so auf das Zielen konzentriere und darauf, die Murmel des anderen treffen zu wollen, am Ende sehr froh darüber sein würde, wenn er die Murmel wirklich traf und also insgeheim davon ausgegangen sei, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass er sie nicht treffen würde, dass er vielleicht grundsätzlich jemand sei, der nicht so gut werfen könne oder beim Murmelspielen eher auf der Verliererseite stehen müsse.
Idealerweise, denkt der LGS im Aufenthaltsraum der Crew, lautet der Subtext der Anweisung Seymours, sollten die Murmeln ganz unverkrampft, unbewusst, beiläufig und ohne Selbstbeobachtung und Selbstbewertung geworfen werden. Das Treffenwollen des Bewusstseins, das sich belohnen möchte mit dem Selbstbild eines richtig guten Werfers, steht dem guten Wurf im Weg und verhindert, dass die Hand einfach so tut, was sie kann. Der Landgastschreiber denkt, dass auch der Gedanke, der unter Selbst- und Fremdbeobachtung verfertigt wird, unter der Frage, ob er ein kluger Gedanke ist, der den Denker als schlauen Schreiber ausweisen würde, nie wirklich treffen kann, weil ihn das Wollen vom Ziel abgelenkt hat.
Als das Wasser an den Fensterscheiben des Landgastschreiberzimmers hinabgeronnen ist und die Regenwolken weitergewandert sind, wird der Blick wieder frei vom Haus am Hang auf die Mühlstraße, die alte Säge, den Forstanger und die Marktstraße, auf der die Busse der Verkehrsgesellschaft Kirchweihtal ihre Passagiere nach Kaufbeuren, Kleinkemnat und Obergünzburg bringen. Das Dorf ist kein Schiff, denkt der LGS, als er sich von seinem Schreibtisch erhebt, die Balkontür öffnet und nach draußen tritt, wo es frisch nach Regen riecht, nach nassem Gras und nassen Dachziegeln, die in der Sonne trocknen. Auch wenn es in seiner unausweichlichen Enge eine Art Fortführung ist von Familie, Schule, Arbeit, also von den anderen sozialen Räumen, in denen man sich auch nicht aussuchen kann, mit wem man sie teilt und mit wem man sich auseinandersetzen und arrangieren muss, ist es doch in alle Richtungen von der Freiheit umgeben, auszufahren und wieder heimzukommen.
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Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
*
+++ Mitteilungsblatt, Logbucheintrag +++ Schlechtes Wetter, wütende See +++ Zerbrechliche Habseligkeiten vorsorglich angurten! +++ Aller Ausfahrt ist schwer +++ Sail away, dream your dreams! +++
Schrottstrudel auf südwestbayrischen Almwiesen entdeckt.
Und wer macht des jetzt weg?
Bürgerinitiative Green Seas: Übersteigt unsere Kapazitäten.
Der Wind machte sich schwerer, als man erwartet hatte. Die Oberfläche des Wassers verwandelte sich in ein zerklüftetes Gebirge. Milchige Ströme gepeitschter Flüssigkeit jagten von den Kämmen und Gipfeln zutal, verdichteten sich zu der Materie, die sie waren und überfluteten das Schiff. Allmählich war eine unbändige Bewegung in den hölzernen Bau gekommen. Die Landschaft der Kräfte war nicht mehr zu überschauen. Ohne jedes Schamgefühl kam die See über die Reling. Das Gebirge floß heran. Oder das Schiff tauchte sich anspringend hinein. Es gab Schläge, gegen die die Menschen den Willen zur Erhaltung nicht aufbrachten. Das war, wenn das Wasser blank sich auf das Schiff warf und es hinein drückte in die unheimliche Dichte der flüssigen Urwelt. Niemand erinnerte sich hinterher, daß die Wasserstürze mit prustendem, trommelndem Lärm herangeritten kamen. Das Zittern des mißhandelten Fahrzeuges spürte man nur wie einen züngelnden Strom im Mark der Knochen. Die Haut war eisig, die Lungen hatten Mühe, gegen den gewaltigen Sog der Luft zu atmen… Die Berechnungen eines unbarmherzigen Geistes waren zunichte gemacht. Die Natur war da. Allüberall. Die Bewegung verdichtete sich zu einem ehernen Schöpfungsablauf… Der Kapitän genoß die Freiheit, ohne Vormund Führer des Schiffes zu sein. Er wünschte sich, der Sturm möchte andauern.
KAPITEL EINS – It is time, oh ho, it is time...
Ein schwerer Sturm wirft Regen und Gischt gegen die zugeschraubten Fenster des Landgastschreiberzimmers und verunklart die Sicht auf die grüngrauen Hügel draußen. Den ganzen Tag über muss unter Kunstlicht geschrieben werden. Der LGS denkt, extremes Wetter müsste doch auch extreme Gedanken begünstigen. Er muss aber feststellen, dass in ihm vor allem eine extreme Abwesenheit von Sprache ist. Von Sinn und Form. Eher ein Überlassungswunsch, eine gefährliche Verlockung, sich dem, was da draußen tobt und gurgelt und das Gebäude, in dem der Landgastschreiber sitzt, hin und her stößt, ohne Gegenwehr hinzugeben.
Auf dem Außenbalkon vor dem Landgastschreiberzimmer rollen schaumige Pfützen über den grünlackierten Stahl. Der Schreiber hört das hektische Läuten von Kuhglocken und glaubt, ihm soll ein Signal gegeben werden. Aufwachen? Aufstehen? Sitzenbleiben? Immersionsanzug anlegen und zum Sammelpunkt? Abandon Ship!? An Konzentration ist nicht zu denken. Der Landgastschreiber erhebt sich, durchmisst den Raum mit weichen Knien, öffnet die Tür auf den fensterlosen Flur und tritt hinaus ins kalte Licht der Leuchtstoffröhren. Er riecht Industrieputzmittel auf Linoleumfußboden, sieht die Bewegung, in die der mächtige Sturm das Gebäude versetzt, an den Bilderrahmen an den Wänden, die synchron und sehr rhythmisch von der einen Seite auf die andere schiefgerückt werden. Er denkt, dass hier draußen wirklich gar keine tageszeitliche Verortung mehr möglich ist. Eine Weile ist es still bis auf das dumpfe Fauchen des Sturms und das tief aus dem Gebäudeinneren herauftönende Wimmern der Wände, Schrauben und Schweißnähte. Kein weiteres Signal ist zu vernehmen.
Am anderen Ende des Flurs öffnet sich die Tür eines anderen Landgastschreiberzimmers. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov erscheint aus der Öffnung, in knielangen Shorts, beigefarbener Polyesterjacke, einer leuchtend weißen Schirmmütze und mit einem Schmetterlingsnetz unter dem Arm, setzt vorsichtige Schritte auf das Linoleum und geht so bis an die schmale Außentür heran, die den Flur mit dem umlaufenden Stahlbalkon verbindet. Er blickt durch das kleine, von Regen und Spritzwasser sicherlich vollkommen undurchsichtig gewordene Bullauge in der Tür und sagt:
„Aujourd'hui je n'attraperai rien.“
Der Landgastschreiber versteht leider kein Französisch und weiß nicht, was er dem Schriftsteller antworten soll. Er entscheidet sich für den Gang hinab in die unteren Stockwerke des Stahlgebäudes, um nach weiteren Zeichen Ausschau zu halten.
Im Maschinenraum begegnet der Landgastschreiber dem üblichen Geschrei und Hantieren an Hebeln, dem Geruch von heißem Schweröl und Schmierfett. Er wird gar nicht bemerkt von den schwitzenden Arbeiterinnen mit den Gehörschützern über den Ohren und weiß schon nach wenigen Sekunden, dass seine Anwesenheit hier keinen Unterschied macht.
Ganz vorn, im spitz zulaufenden Rumpf unter Deck, zwischen den massiven Ankerketten und im Lärm der außen aufschäumenden Bugwellen, sieht der LGS den Schriftsteller W.G. Sebald eine hoffnungslose Partie Tischtennis gegen einen hochroutinierten Öler spielen, auf einer beständig hin und her wankenden Platte, die jeden Ball unberechenbar macht. Der Landgastschreiber denkt, dass es auf dem Meer keine Bewegung gibt, die sich nicht in der nachfolgenden auflöst, und dass diejenigen, die auf ihm nach Spuren der Geschichte suchen, auf der Verliererseite der Platte stehen müssen, wo ihnen beständig die Bälle um die Ohren gehauen werden.
Weiter oben im Gebäude, bei vor die Fenster gezogenen Vorhängen und ebenfalls unter Kunstlicht, sieht der LGS ein paar Crewmitglieder auf dem schwankenden blauen Teppichboden im Aufenthaltsraum ein völlig unsinniges Murmelspiel spielen, in dem alles laufend durcheinanderrollt und nie lange genug an einer Stelle verbleibt, um anvisiert zu werden. Ein paar Anstreicher sitzen aufgereiht auf einem der Sofas an der Wand, mit zerknautschten Pappbechern in den Händen, beobachten das Spiel und lachen ein betäubt betrunkenes, erschütternd lebloses Lachen in den Raum hinein. Der Landgastschreiber erinnert sich an den Lyriker, Leser und weisen Lehrer Seymour Glass, der als Zehnjähriger an einem frühen Abend in New York, bei besonders goldenem Licht und milder Luft, aus dem Haus auf dem Bürgersteig tritt und seinem gegen ein Nachbarskind um Murmeln spielenden Bruder Anweisung gibt, zu versuchen, „nicht so sehr zu zielen“. Weil der Bruder, wenn er sich so auf das Zielen konzentriere und darauf, die Murmel des anderen treffen zu wollen, am Ende sehr froh darüber sein würde, wenn er die Murmel wirklich traf und also insgeheim davon ausgegangen sei, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass er sie nicht treffen würde, dass er vielleicht grundsätzlich jemand sei, der nicht so gut werfen könne oder beim Murmelspielen eher auf der Verliererseite stehen müsse.
Idealerweise, denkt der LGS im Aufenthaltsraum der Crew, lautet der Subtext der Anweisung Seymours, sollten die Murmeln ganz unverkrampft, unbewusst, beiläufig und ohne Selbstbeobachtung und Selbstbewertung geworfen werden. Das Treffenwollen des Bewusstseins, das sich belohnen möchte mit dem Selbstbild eines richtig guten Werfers, steht dem guten Wurf im Weg und verhindert, dass die Hand einfach so tut, was sie kann. Der Landgastschreiber denkt, dass auch der Gedanke, der unter Selbst- und Fremdbeobachtung verfertigt wird, unter der Frage, ob er ein kluger Gedanke ist, der den Denker als schlauen Schreiber ausweisen würde, nie wirklich treffen kann, weil ihn das Wollen vom Ziel abgelenkt hat.
Als das Wasser an den Fensterscheiben des Landgastschreiberzimmers hinabgeronnen ist und die Regenwolken weitergewandert sind, wird der Blick wieder frei vom Haus am Hang auf die Mühlstraße, die alte Säge, den Forstanger und die Marktstraße, auf der die Busse der Verkehrsgesellschaft Kirchweihtal ihre Passagiere nach Kaufbeuren, Kleinkemnat und Obergünzburg bringen. Das Dorf ist kein Schiff, denkt der LGS, als er sich von seinem Schreibtisch erhebt, die Balkontür öffnet und nach draußen tritt, wo es frisch nach Regen riecht, nach nassem Gras und nassen Dachziegeln, die in der Sonne trocknen. Auch wenn es in seiner unausweichlichen Enge eine Art Fortführung ist von Familie, Schule, Arbeit, also von den anderen sozialen Räumen, in denen man sich auch nicht aussuchen kann, mit wem man sie teilt und mit wem man sich auseinandersetzen und arrangieren muss, ist es doch in alle Richtungen von der Freiheit umgeben, auszufahren und wieder heimzukommen.