Zum Tod der literarischen Übersetzerin Verena Reichel (1945-2022)
Mit Übersetzungen zu schwedischen Autoren wie Per Olov Enquist, Henning Mankell oder Lars Gustafsson war die in München lebende Verena Reichel eine feste literarische Größe. Vor Kurzem wurde bekannt, dass sie vor wenigen Wochen, am 9. Februar 2022, im Alter von 76 Jahren verstorben ist. Die Beerdigung findet am 25. Februar im engen Kreis der Familie in Königsfeld im Schwarzwald statt. Ein Nachruf von Gunna Wendt.
*
Mein erstes Treffen mit Verena Reichel fand Ende der 1980er-Jahre statt. Ich hatte sie in meine wöchentliche Literatursendung bei der Jazz Welle Plus eingeladen, um mit ihr über das Thema Übersetzen zu sprechen. Es war das erste Mal, dass wir uns trafen, aber ich kannte sie schon viel länger – war ich doch Lars Gustafsson-Leserin der ersten Stunde. Ich war mir bewusst, dass ich Verena Reichel eine der wichtigen Literaturbegegnungen meines Lebens zu verdanken hatte.
Verena Reichel wuchs zweisprachig auf, in Schweden und in Deutschland. Sie studierte Skandinavistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete ab 1972 als freie Übersetzerin. Unter den Autoren, die sie den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich machte, sind Per Olov Enquist, Henning Mankell und der schon erwähnte Lars Gustafsson, dem bewusst war, dass er in Verena Reichel mehr als eine Übersetzerin gefunden hatte. Sie war eine Dialogpartnerin, die ihn und seine Literatur auf verschiedenen Ebenen verstand. Was ihre Übersetzungen auszeichnet, ist nicht allein die hohe sprachlich-literarische Qualität, sondern vor allem ihre Nähe zu den Figuren Gustafssons. Beim Lesen der Erzählungen von glücklichen Menschen habe ich mich gefragt, ob wohl jemand anders als sie den zarten Zauber und das absurde Glück dieser eigenartigen Figuren zu würdigen gewusst hätte.
Das Leben in Widersprüchen, das nicht notwendigerweise Zerrissenheit, sondern das Zulassen von Möglichkeiten bedeutet, ist nicht nur in den Erzählungen von glücklichen Menschen ein Leitmotiv, sondern zieht sich durch das gesamte Werk Gustafssons. Verena Reichel war diese Ambivalenz genauso vertraut wie das Neben- und Miteinander zweier unterschiedlicher Kulturen in der Zweisprachigkeit, das zugleich Bereicherung und Irritation bedeutet.
Als ich Verena Reichel in meiner Sendung nach ihrem Verhältnis zu den beiden Sprachen ihres Lebens, Schwedisch und Deutsch, fragte, kam sie auf eine Aussage der Autorin Eva Hoffman aus deren autobiografischem Werk Lost in Translation. Life in a new language zu sprechen. Sie berichtete, Eva Hoffman, die im Alter von 13 Jahren von Polen nach Amerika emigriert war, habe sich als Studentin in einen Texaner verliebt und sich die Frage gestellt, ob sie ihn heiraten solle. Auf Englisch habe die Antwort „Ja“, auf Polnisch „Nein“ gelautet. Eine Erfahrung, die Verena Reichel sehr gut nachvollziehen konnte, und die für sie eindrücklich demonstrierte, dass die erste Sprache die der ursprünglichen, unzensierten Gefühle war und lebenslang bleiben würde. Für sie war das Schwedische diese erste Sprache: „Noch immer empfinde ich manche Ausdrücke aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, des Tastens, Schmeckens und Riechens auf Schwedisch als anschaulicher und sprechender als auf Deutsch. Das Begreifen im wörtlichen Sinn ist noch eins mit dem Begriff. Kein Preiselbeerkompott ist so süß wie lingonsylt, kein Brei so klebrig wie gröt, keine Haut so weich wie mjuk hud und keine Mutter so liebevoll wie mor“, erklärte sie 2008 in ihrer Dankesrede zum Johann Heinrich Voss-Preis.
Als die Sprache ihres Vaters, das Deutsche, sich zum Schwedischen gesellte, war für Verena Reichel damit eine Neuordnung ihrer Welt verbunden. Plötzlich hatte sie eine Wahl, konnte ihre Gedanken und Erfahrungen auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken: „Schwedisch und Deutsch sind für mich zwei Kontinente, Muttersprache und Vaterland.“ Miteinander verbunden wurden sie erst durch die Tätigkeit des Übersetzens, zu der Verena Reichel über Umwege gelangte: In ihrer Funktion als Literaturscout für skandinavische Literatur lernte sie die Werke des schwedischen Autors Lars Gustafsson kennen. Dabei machte sie eine unerwartete Erfahrung: „Ich wage mich an die Übersetzung und spüre bei dieser Arbeit, wie etwas in mir zur Ruhe kommt. Zwei Widersacher hören auf, in meinem Kopf zu streiten, zwei Bilder schieben sich übereinander und werden eins, ich bin total konzentriert und ganz bei mir.“
Über ihre Aufgabe, als Botin zwischen zwei Sprachen und Welten zu fungieren, haben wir uns oft unterhalten – am liebsten im No Mi YA, dem Japanisch-Bayerischen Gasthaus, das seit einiger Zeit leider geschlossen ist. Doch in Haidhausen, ihrem Kiez, fand sich Ersatz: das Café Wiener Platz, die Taverna Diyar, in der wir auch zusammen Heiligabend feierten. Vermissen werde ich diese Treffen mit ihr am frühen Abend nach getaner Arbeit. Sie liebte es, im Anschluss an ihre einsame Tätigkeit des Übersetzens unter Leute zu gehen und Stadtleben um sich herum zu spüren. Vermissen werde ich die gemeinsamen Essen, die wir oft kurzfristig verabredeten. Vermissen werde ich den Austausch über unsere jeweilige Arbeit. Vermissen werde ich ihre selbstverständliche Art und Weise, über Literatur zu sprechen. Was mir bleibt, ist, wieder einmal Lars Gustafsson zu lesen. Er konnte sich glücklich schätzen, eine solche literarische Gefährtin an seiner Seite zu wissen. Besonders in seinen Gedichten finde ich ihre Stimme.
Zum Tod der literarischen Übersetzerin Verena Reichel (1945-2022)>
Mit Übersetzungen zu schwedischen Autoren wie Per Olov Enquist, Henning Mankell oder Lars Gustafsson war die in München lebende Verena Reichel eine feste literarische Größe. Vor Kurzem wurde bekannt, dass sie vor wenigen Wochen, am 9. Februar 2022, im Alter von 76 Jahren verstorben ist. Die Beerdigung findet am 25. Februar im engen Kreis der Familie in Königsfeld im Schwarzwald statt. Ein Nachruf von Gunna Wendt.
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Mein erstes Treffen mit Verena Reichel fand Ende der 1980er-Jahre statt. Ich hatte sie in meine wöchentliche Literatursendung bei der Jazz Welle Plus eingeladen, um mit ihr über das Thema Übersetzen zu sprechen. Es war das erste Mal, dass wir uns trafen, aber ich kannte sie schon viel länger – war ich doch Lars Gustafsson-Leserin der ersten Stunde. Ich war mir bewusst, dass ich Verena Reichel eine der wichtigen Literaturbegegnungen meines Lebens zu verdanken hatte.
Verena Reichel wuchs zweisprachig auf, in Schweden und in Deutschland. Sie studierte Skandinavistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete ab 1972 als freie Übersetzerin. Unter den Autoren, die sie den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich machte, sind Per Olov Enquist, Henning Mankell und der schon erwähnte Lars Gustafsson, dem bewusst war, dass er in Verena Reichel mehr als eine Übersetzerin gefunden hatte. Sie war eine Dialogpartnerin, die ihn und seine Literatur auf verschiedenen Ebenen verstand. Was ihre Übersetzungen auszeichnet, ist nicht allein die hohe sprachlich-literarische Qualität, sondern vor allem ihre Nähe zu den Figuren Gustafssons. Beim Lesen der Erzählungen von glücklichen Menschen habe ich mich gefragt, ob wohl jemand anders als sie den zarten Zauber und das absurde Glück dieser eigenartigen Figuren zu würdigen gewusst hätte.
Das Leben in Widersprüchen, das nicht notwendigerweise Zerrissenheit, sondern das Zulassen von Möglichkeiten bedeutet, ist nicht nur in den Erzählungen von glücklichen Menschen ein Leitmotiv, sondern zieht sich durch das gesamte Werk Gustafssons. Verena Reichel war diese Ambivalenz genauso vertraut wie das Neben- und Miteinander zweier unterschiedlicher Kulturen in der Zweisprachigkeit, das zugleich Bereicherung und Irritation bedeutet.
Als ich Verena Reichel in meiner Sendung nach ihrem Verhältnis zu den beiden Sprachen ihres Lebens, Schwedisch und Deutsch, fragte, kam sie auf eine Aussage der Autorin Eva Hoffman aus deren autobiografischem Werk Lost in Translation. Life in a new language zu sprechen. Sie berichtete, Eva Hoffman, die im Alter von 13 Jahren von Polen nach Amerika emigriert war, habe sich als Studentin in einen Texaner verliebt und sich die Frage gestellt, ob sie ihn heiraten solle. Auf Englisch habe die Antwort „Ja“, auf Polnisch „Nein“ gelautet. Eine Erfahrung, die Verena Reichel sehr gut nachvollziehen konnte, und die für sie eindrücklich demonstrierte, dass die erste Sprache die der ursprünglichen, unzensierten Gefühle war und lebenslang bleiben würde. Für sie war das Schwedische diese erste Sprache: „Noch immer empfinde ich manche Ausdrücke aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, des Tastens, Schmeckens und Riechens auf Schwedisch als anschaulicher und sprechender als auf Deutsch. Das Begreifen im wörtlichen Sinn ist noch eins mit dem Begriff. Kein Preiselbeerkompott ist so süß wie lingonsylt, kein Brei so klebrig wie gröt, keine Haut so weich wie mjuk hud und keine Mutter so liebevoll wie mor“, erklärte sie 2008 in ihrer Dankesrede zum Johann Heinrich Voss-Preis.
Als die Sprache ihres Vaters, das Deutsche, sich zum Schwedischen gesellte, war für Verena Reichel damit eine Neuordnung ihrer Welt verbunden. Plötzlich hatte sie eine Wahl, konnte ihre Gedanken und Erfahrungen auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken: „Schwedisch und Deutsch sind für mich zwei Kontinente, Muttersprache und Vaterland.“ Miteinander verbunden wurden sie erst durch die Tätigkeit des Übersetzens, zu der Verena Reichel über Umwege gelangte: In ihrer Funktion als Literaturscout für skandinavische Literatur lernte sie die Werke des schwedischen Autors Lars Gustafsson kennen. Dabei machte sie eine unerwartete Erfahrung: „Ich wage mich an die Übersetzung und spüre bei dieser Arbeit, wie etwas in mir zur Ruhe kommt. Zwei Widersacher hören auf, in meinem Kopf zu streiten, zwei Bilder schieben sich übereinander und werden eins, ich bin total konzentriert und ganz bei mir.“
Über ihre Aufgabe, als Botin zwischen zwei Sprachen und Welten zu fungieren, haben wir uns oft unterhalten – am liebsten im No Mi YA, dem Japanisch-Bayerischen Gasthaus, das seit einiger Zeit leider geschlossen ist. Doch in Haidhausen, ihrem Kiez, fand sich Ersatz: das Café Wiener Platz, die Taverna Diyar, in der wir auch zusammen Heiligabend feierten. Vermissen werde ich diese Treffen mit ihr am frühen Abend nach getaner Arbeit. Sie liebte es, im Anschluss an ihre einsame Tätigkeit des Übersetzens unter Leute zu gehen und Stadtleben um sich herum zu spüren. Vermissen werde ich die gemeinsamen Essen, die wir oft kurzfristig verabredeten. Vermissen werde ich den Austausch über unsere jeweilige Arbeit. Vermissen werde ich ihre selbstverständliche Art und Weise, über Literatur zu sprechen. Was mir bleibt, ist, wieder einmal Lars Gustafsson zu lesen. Er konnte sich glücklich schätzen, eine solche literarische Gefährtin an seiner Seite zu wissen. Besonders in seinen Gedichten finde ich ihre Stimme.