Kultur trotz Corona: „Wie es gewesen sein wird“. Von Christina Madenach

Christina Madenach (*1988 in Starnberg) verbrachte nach ihrem Germanistikstudium Zeit in Rom, Saigon und Berlin und arbeitete beim internationalen literaturfestival berlin. Sie lebt in München, ist Projekt- und Pressereferentin bei STADTKULTUR Netzwerk Bayerischer Städte e.V. und kuratiert und moderiert die Lesereihe LIX Literatur im HochX. Madenach verfasst lyrische, essayistische und performative Texte. Zurzeit schreibt sie an ihrem ersten Romanprojekt Wie es gewesen sein wird, mit dem sie in den Jahren 2020/21 Stipendiatin der Textwerkstatt „Kölner Schmiede“ und bereits zu Gast bei mehreren Lesungen gewesen ist.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Auszug aus diesem Roman beteiligt sich Christina Madenach an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Wie es gewesen sein wird (Auszug)

 

1

Ich notiere, wie im ersten August meines Zusammenlebens mit Andreas die Brombeeren in unserem Garten reif werden, und ein Basilikum, das ich gepflanzt habe, dick und grün ist und die Stängel wie kleine Stämme aussehen. Wie mich Wespen jeden Morgen auf der Terrasse umschwirren und das Licht sanft ist, wie Andreas den Garten jeden Morgen eine halbe Stunde gießt, und ich jeden Abend noch einmal, weil dieser August besonders heiß und trocken ist.
Wie ich mich danach in die Hängematte lege, die Mirabellen hellgelb und dicht an den Ästen zwischen mir und dem Himmel, der seine Farbe verliert, kurz noch einmal ganz hell wird, bevor ihn dann die Dunkelheit überzieht. Und wie ich mich mit den Fingern im trockenen Gras neben der Hängematte festkralle, mich nach oben ziehe und dann zurückschaukeln lasse.

Weil es auf den Fotos, die ich mit dem Handy mache, nie so aussieht wie in Wirklichkeit, notiere ich die dicke, graue Wolkenschicht am Himmel, unter der das Grün der Blätter intensiver leuchtet, die zuckenden Blitze in den Wolken, die darin verfangen zu sein scheinen, und wie Andreas und ich die Gelegenheit nutzen, als Paul seine Großeltern besucht, und uns am Nachmittag in die schwüle Hitze des Schlafzimmers zurückziehen.
Ich notiere den Abend, an dem Andreas und ich auf der Terrasse sitzen, Campari Soda trinken und Cigarettes after Sex hören. Die Grille in der Dunkelheit, den Donner, der immer noch in der Ferne grollt, und die Stimmen von ein paar Jugendlichen auf der anderen Seite der Hecke. Ich notiere, dass wir sitzen bleiben, als sie schon lange verschwunden sind, unsere Gläser nachfüllen, die CD von vorne starten, als könne unser Abend ewig andauern, solange nur die Musik läuft und wir an der roten Flüssigkeit vor uns nippen.

Ich notiere diese Dinge, weil sie eben nicht fortbestehen, weil sie vergehen, und ich hoffe, sie so konservieren zu können. Denn wenn es Andreas einmal nicht mehr geben wird, möchte ich mich an alles erinnern können. An jeden einzelnen Abend, an dem erst ich meine Zähne putze und dann er, an dem ich im Bett auf ihn warte, wir uns aneinanderschmiegen, und dann dreht sich jeder auf seine Seite. „Gute Nacht, ich liebe dich.“ „Gute Nacht, ich dich auch.“ „Man sieht sich.“ „Tschüss.“
Ich will die Erinnerung an diese kleinen Dialoge, die nur wir verstehen, weil es nicht um die Worte geht, sondern darum, dass es immer die gleichen sind, behalten für die Zeit, in der ich alleine übrigbleiben werde. Denn Andreas ist zwanzig Jahre älter als ich und die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er vor mir stirbt.

Ich notiere auch die Nächte, in denen Andreas schon eingeschlafen ist, und ich noch wach neben ihm liege. Wie ich die Ohropax tiefer in die Ohren stopfe, bis ich sein Schnarchen nicht mehr höre. Wie ich trotzdem nicht einschlafen kann. Wie mich die Stille zu beunruhigen beginnt. Wie ich mich dagegen wehren will, denke, dass ich nicht nachgeben sollte. Wie ich versuche standhaft zu bleiben, aber es dann irgendwann nicht mehr aushalte, denke, dass es egal ist, dass das jetzt vielleicht der Moment ist, um den es geht, dass es auf jede Sekunde ankommt, in der ich hier noch liege und warte, und dass ich mich beeilen muss, und wie ich dann die Ohropax wieder hinauspople und in die Stille hineinlausche, bis ich ein leises Atmen neben mir vernehme, in welches das Schnarchen inzwischen übergegangen ist.
Oder andere wache Nächte, in denen ich mir vorstelle, wie der Körper neben mir einmal leblos daliegen wird, wie sich der Brustkorb nicht mehr heben und senken wird, die Augen sich nicht mehr öffnen und die Lippen mich nicht mehr küssen werden.
Und ich notiere das Stechen in meiner Brust, wie es sich über meine Schultern und Arme bis zu meinen Fingerspitzen zieht, als hätte ich sie in der Tür eingeklemmt, wie die Schmerzen zwischen Brust und Fingerspitzen hin und her wandern. Ich notiere, wie sich meine Angst anfühlt.
Ich frage mich, ob ich diese Dinge notiere, weil sie auch zu dem gehören, was zwischen Andreas und mir ist. Weil die Intensität zwischen uns an die Angst vor dem Ende gekoppelt ist und weil ich mich deshalb auch an die Angst erinnern können will. Oder ob ich es aufschreibe, weil es sich anfühlt, als hätte ich es so unter Kontrolle.

2

Als ich in diesem August meine Großeltern besuche, spricht nur mein Opa. Seitdem meine Oma durch ihren Schlaganfall verstummt ist, hat er begonnen zu reden, als müsste er die vergangenen 65 Jahre ihrer Ehe, in denen er nicht zu Wort gekommen ist, nachholen. Er erzählt von früher. Früher scheint für ihn näher zu sein als jetzt.
Als ich nach zwei Stunden gehen muss, sagt er: „Wie konnte die Zeit so schnell vergehen.“
Ich schlage ihm vor, seine Schreibmaschine herauszuholen, um seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er meint, er schreibe nicht gerne, „das ist eher dein Ding.“
Ich schreibe, um mich später mal an das Jetzt erinnern zu können. Bei meinem Opa geht es darum, sich das Vergangene wieder zu vergegenwärtigen, das Schreiben als eine Form des Erinnerns.
Ihm wäre lieber, ich besuchte ihn häufiger und er erzählte mir davon.

Wenn ich versuche, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, klicke ich mich durch meine Fotoordner auf dem Laptop. Ich suche nach Details, die mir etwas über mich und mein Leben früher mitteilen, als wäre es das Leben einer anderen Person. Als würde ich etwas über mich herausfinden, von dem ich bisher nichts weiß.
Ich sehe mir Bilder aus der Zeit der Beziehung von Tim und mir an. Auf den Fotos, die uns gemeinsam zeigen, liegt seine Hand auf meinem Arm oder auf meiner Schulter, auf einem Bild bin ich ganz in seiner Umarmung verschwunden, er hat den Kopf in den Nacken zurückgelegt, die Augen geschlossen und den Mund weit aufgerissen, der Moment kurz vor dem Einsetzen seines Lachens. Ich erinnere mich wieder an das, was davor geschehen war, was nicht als Foto festgehalten wurde, irgendetwas war mir gegen den Kopf geflogen, Luftballons oder etwas Ähnliches.
Ich schaue mir ins Gesicht und frage mich, was ich damals fühlte. Ich weiß es nicht mehr. Wenn Erinnerungen keine Emotionen mehr hervorrufen, verblassen sie.

An einem anderen Augustwochenende treffe ich Verena mit ihrer kleinen Tochter. Wir schleppen große Taschen mit Badesachen und Picknick an den Weßlinger See. Während Verena und das Kind am Wasserrand spielen, bleibe ich auf der Decke liegen, es ist eine mit Beschichtung unten. Neben mir die Tupperschüsseln mit Karotten-Sticks und Apfelstückchen, aus der Thermoskanne nehme ich einen Schluck lauwarmen Tee.
In meiner Kindheit verbrachten wir die Sommernachmittage auch am Weßlinger See. Es gab die gleichen Picknickdecken, Tupperschüsseln, Gurkenscheiben. Aber meine Erinnerung ist schemenhaft.
Schreiben als Akt des Erinnerns. Das Bild von mir als kleinem Mädchen, die Haut noch nass vom Wasser, die einzelnen Tropfen, die schon wieder in der Sonne verdunsten, der Badeanzug ein Stück verrutscht, sodass ein Streifen weißer, ungebräunter Haut zum Vorschein kommt. Die kleinere Schwester, die Haare kurz und lockig. Trüge sie kein Bikinioberteil zur Badehose, wüsste man nicht, ob Junge oder Mädchen. Eine der Mütter reicht ein Handtuch oder einen Schwimmflügel über die Decke, der ausgestreckte Arm, der Speck darunter, der bei der Bewegung wackelt. So oder so ähnlich stelle ich es mir vor.

Als Kind gab es für mich eine scharfe Trennlinie zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wie sich der Schritt vom Kind zur Erwachsenen vollzog und wann es soweit wäre. Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, denn es schien mir der normale Ablauf der Dinge, dass man eben irgendwann diese Trennlinie überschreitet und spätestens in dem Moment merkt: „Jetzt bin ich erwachsen.“
Ich behaupte nun, ich gehöre zu den Erwachsenen, weil ich Anfang dreißig bin, weil ich mir mein Leben selbst finanzieren muss und weil ich beim Einkaufen Milch, Käse, Nudeln, Brokkoli und Karotten in den Korb lege und nicht nur eine Tafel Schokolade oder ein Eis.
Aber manchmal fühlt es sich trotzdem an, als spiele ich nur Erwachsensein. Wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe, erinnert es mich an meinen Kaufladen, den ich als Kind jedes Jahr zu Weihnachten aufbauen durfte. Oder wenn ich meine Nägel rot lackiere, bin ich wieder das Kind, das sich und den Puppen mit Filzer die Nägel anmalte. Wenn ich bei einer Hochzeit eingeladen bin, ein Over-Knee-Dresscode vorgeschrieben ist und kein Mensch von Verkleidung spricht.
Kinder können so sehr in ihre Spiele versinken, dass sie ganz vergessen, dass es sich dabei um ein Spiel handelt. Aber bei Erwachsenen ist das noch viel ausgeprägter. Als spielten wir ein Spiel, ohne dass wir uns je darüber verständigt hätten, dass es sich dabei um eines handelt. Und in anderen unserer Spiele geht es um Leben und Tod, und nie können wir einen Schritt zurücktreten, und sagen: „Ach, das ist doch nur Räuber und Gendarm für Erwachsene. Eigentlich mögen wir uns alle und würden uns nie etwas Böses antun.“

Als Andreas und ich uns an einem Abend Into the wild ansehen, muss ich weinen, als am Ende des Films ein Foto des echten Christopher eingeblendet wird, das ihn zu Beginn seiner Zeit in der Wildnis mit einem Lächeln und noch nicht abgemagert vor seinem Bus zeigt. Es macht mich traurig, weil er wie ein kleiner Junge aussieht, der seine Fantasiewelt der Realität vorzieht und dann an der Realität zu Grunde geht. Für seine Träume zahlt er mit dem Tod.
In der Werbepause kommt ein Haribo-Spot. Zwei Männer sprechen mit Kinderstimmen. Der eine sagt: „Die roten mag ich am liebsten. Stell' dir vor, wir würden hier ein rotes eingraben und daraus wächst ein riesiger roter Gummibärbaum.“ Die Antwort des anderen: „Das ist die beste Idee, die mir jemals jemand gesagt hat.“

Ich öffne wieder den Fotoordner auf meinem Laptop, klicke auf ein Foto von vor zehn Jahren, dann auf ein aktuelles, schiebe sie nebeneinander, vergleiche sie. Ein paar Falten mehr, die Augenringe tiefer, das Gesicht schmaler. Die gleiche Person.
Wie lange dauert es, bis eine Falte entsteht? Ein Jahr, einen Monat, eine Woche? Was ändert sich von einer Stunde auf die andere? Von einer Minute, von einer Sekunde auf die andere?