Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (29). Beim Beobachten der Rehe und der Vielfalt der Natur
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
*
29
Heute Morgen kurz nach sieben Uhr, die Nacht war sehr kalt, vielleicht war es die bisher kälteste Nacht in diesem Jahr, jedenfalls da bei uns am Wald, stromerte die Ricke durch unsere Wiese. Die Hufe im frostweißen Gras, blieb sie stehen, schaute zu uns, zu mir zum Haus, und an den Lauschern, an diesem kleinen Zucken vom Ansatz hinauf zu den Spitzen bemerkte ich, dass sie mich gesehen hat hinter der Scheibe, nur fünf Meter von ihr entfernt. Für einen Moment blickte sie mich noch an, dann senkte sie ihr Haupt und äste weiter in der kalten Wiese.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da querten auch ihre beiden Kälber am Bach entlang, aber vor allem ihr kleiner Bock ist bereits so selbstständig, dass er ihr nur kurz hinterheräugte, um dann den Hang hinauf abzudrehen. Die kleine Kitzin blieb stehen, schaute zum Bruder, dann zur Mutter, und entschied sich, ihr mehr zu vertrauen.
Das schreibe ich nun auf, obwohl ich es gar nicht unbedingt aufschreiben wollte. Aber die Rehe üben auf mich einen Bann aus, ich kann nicht aufhören sie zu beobachten. Und sie haben Einfluss auf mich.
Tatsächlich waren sie der Grund, dass ich heute Morgen, bevor ich zum Schreibtisch ging, als erstes nach draußen in den Garten gegangen bin. Die Rehe waren längst im Hang verschwunden, im Wald, da wollte ich schauen, wie das ist, durch diese frostige Wiese zu gehen, wollte sehen, was der Frost gemacht hat mit dem Garten, den Hochbeeten, und wie die Sonne den Boden nur sehr langsam wieder auftaut.
Ich habe nicht die Schuhe ausgezogen, aber das mach ich bald einmal, sondern bin in Schuhen in der Wiese herumgegangen, habe ins angefrorene Gras gefasst, um mich noch einmal zu wundern, dass die Rehe das gerne essen. Aber ja. Ich liebe ja auch Eis, liebe Kaltgetränke, und so weiter.
Ich bin schließlich bei den wilden Rosen angekommen, und ich wünschte mir außerdem so einen Apfelbaum her, den ich gestern unterwegs in den Wiesen gesehen habe, ohne Blätter, aber noch dicht behängt mit kleinen schnoddrigen roten Äpfeln, Leuchtkugeln am sonst struppigen wilden Apfelbaum ohne Blätter, an denen sich die Vögel genauso erfreuen, wie sie das an den Hagebutten hier im Garten tun, die dicht hängen und nach der kalten Winternacht noch mehr leuchten als zuvor.
Überhaupt stelle ich einmal mehr fest, wie sich meine Wahrnehmung für Jahreszeiten ändert, je mehr ich die Natur beobachte. Dass ich diese marode November-Schönheit vollkommen unterschätzt habe. Die Vielfalt der Braun- und Graufarben, die Zuspitzung der Strukturen der Blätter, der Äste, Zweige, der Formen, die Bröseligkeit der Sommerreste, ihre Porosität, wie sich Blätter beim Trocknen aufbiegen, kräuseln und wie sich ihre matten Farben übereinanderlegen und dadurch zu leuchten beginnen.
**
Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (29). Beim Beobachten der Rehe und der Vielfalt der Natur>
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
*
29
Heute Morgen kurz nach sieben Uhr, die Nacht war sehr kalt, vielleicht war es die bisher kälteste Nacht in diesem Jahr, jedenfalls da bei uns am Wald, stromerte die Ricke durch unsere Wiese. Die Hufe im frostweißen Gras, blieb sie stehen, schaute zu uns, zu mir zum Haus, und an den Lauschern, an diesem kleinen Zucken vom Ansatz hinauf zu den Spitzen bemerkte ich, dass sie mich gesehen hat hinter der Scheibe, nur fünf Meter von ihr entfernt. Für einen Moment blickte sie mich noch an, dann senkte sie ihr Haupt und äste weiter in der kalten Wiese.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da querten auch ihre beiden Kälber am Bach entlang, aber vor allem ihr kleiner Bock ist bereits so selbstständig, dass er ihr nur kurz hinterheräugte, um dann den Hang hinauf abzudrehen. Die kleine Kitzin blieb stehen, schaute zum Bruder, dann zur Mutter, und entschied sich, ihr mehr zu vertrauen.
Das schreibe ich nun auf, obwohl ich es gar nicht unbedingt aufschreiben wollte. Aber die Rehe üben auf mich einen Bann aus, ich kann nicht aufhören sie zu beobachten. Und sie haben Einfluss auf mich.
Tatsächlich waren sie der Grund, dass ich heute Morgen, bevor ich zum Schreibtisch ging, als erstes nach draußen in den Garten gegangen bin. Die Rehe waren längst im Hang verschwunden, im Wald, da wollte ich schauen, wie das ist, durch diese frostige Wiese zu gehen, wollte sehen, was der Frost gemacht hat mit dem Garten, den Hochbeeten, und wie die Sonne den Boden nur sehr langsam wieder auftaut.
Ich habe nicht die Schuhe ausgezogen, aber das mach ich bald einmal, sondern bin in Schuhen in der Wiese herumgegangen, habe ins angefrorene Gras gefasst, um mich noch einmal zu wundern, dass die Rehe das gerne essen. Aber ja. Ich liebe ja auch Eis, liebe Kaltgetränke, und so weiter.
Ich bin schließlich bei den wilden Rosen angekommen, und ich wünschte mir außerdem so einen Apfelbaum her, den ich gestern unterwegs in den Wiesen gesehen habe, ohne Blätter, aber noch dicht behängt mit kleinen schnoddrigen roten Äpfeln, Leuchtkugeln am sonst struppigen wilden Apfelbaum ohne Blätter, an denen sich die Vögel genauso erfreuen, wie sie das an den Hagebutten hier im Garten tun, die dicht hängen und nach der kalten Winternacht noch mehr leuchten als zuvor.
Überhaupt stelle ich einmal mehr fest, wie sich meine Wahrnehmung für Jahreszeiten ändert, je mehr ich die Natur beobachte. Dass ich diese marode November-Schönheit vollkommen unterschätzt habe. Die Vielfalt der Braun- und Graufarben, die Zuspitzung der Strukturen der Blätter, der Äste, Zweige, der Formen, die Bröseligkeit der Sommerreste, ihre Porosität, wie sich Blätter beim Trocknen aufbiegen, kräuseln und wie sich ihre matten Farben übereinanderlegen und dadurch zu leuchten beginnen.
**
Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.