Oskar Panizza im Zürcher Exil

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Mitglieder der Gesellschaft für modernes Leben (v.l.n.r.): Otto Julius Bierbaum, Georg Schaumberg, Oskar Panizza, Michael Georg Conrad, Hanns von Gumppenberg, Julius Schaumberger (Archiv Monacensia)

Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.

Dr. Ute Kröger lebt und arbeitet in Kilchberg bei Zürich. Sie veröffentlichte diverse Monografien zur Literatur-, Theater- und Kulturgeschichte Zürichs und der Schweiz sowie Biografien über Erika Mann, Else Lasker-Schüler und Gottfried Semper. Sie hat Vreneli’s Gärtli im Limmat Verlag neu herausgegeben.

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Mit der Rachekeule: „Abschied von München. Ein Handschlag“

Spätestens seit dem Skandal um sein Stück Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen galt Oskar Panizza in Deutschland als Skandaldichter, der sich in Obszönitäten erging. Das Stück, erschienen 1894 [vordatiert auf 1895] im Verlagsmagazin J. Schabelitz Zürich, wurde in Deutschland sofort verboten und konfisziert, seinem Verfasser in München der Prozess wegen Gotteslästerung gemacht. Nun waren im wilhelminischen Deutschland, dem Mutterland der Zensur, politische Prozesse nicht ungewöhnlich, aber das Urteil gegen Panizza, ein Jahr Haft, war die höchste Strafe, die dort jemals ein Gericht gegen einen Literaten verhängte. Der Staatsanwalt hatte das Stück als „Ausbund schweinischer Gemeinheit“ bezeichnet, eine Formulierung, die offen ließ, ob der Autor mitgemeint sei.

Panizza verbüßte die Strafe und verabschiedete sich von München auf seine Weise in Abschied von München. Ein Handschlag:

Meine lieben Münchner! Ich gehe jetzt von Euch. Wir sind lange beisammen gewesen. Und wie das so geht: man erwirbt sich diese und jene Freunde. Und ich habe deren viele erworben. Ich kann nicht jedem einzelnen Adieu sagen, was man doch allen sagen möchte, dann lässt man heutzutage was drucken, setzt es in die Zeitung und dergleichen.

Was sich so versöhnlich anlässt, dass ein Leser unwillkürlich die Hand ausstrecken mag, um auf den angebotenen Handschlag einzugehen, erweist sich als sarkasmusgesättigter, gewaltiger, weit ausholender verbaler Keulenschlag von enormer Rache-Wucht, der München und die Münchner vernichten sollte, diese biersaufenden, fleischfressenden, scheinheilig einem „trübäugigen Katholizismus“ anhängenden  Münchner, die ein „Metzgergeschlecht“ seien, mit ihren „derben, bairischen, eisenbeschlagenen Gebirgsschuhen“ „menschliche Natur“ und „in panischer Furcht vor dem Geist“ überhaupt alles tottreten, was „ihren durchschnittlichen Metzgerhorizont“ übersteigt. – „Ihr seid ein weiches, zerfliessendes Geschlecht, süss und duftig wie das Schmalz zu Euren Nudeln, eine schmalzgute Menschensorte, aber wehe, wer Euch mit Geist entgegentritt, da werdet ihr unbarmherzig.“

Der Text, verfasst 1896 noch während der Haft in Amberg, erschien gedruckt jedoch nicht in einer deutschen Zeitung, sondern 1897 als Broschüre, wieder im Verlagsmagazin J. Schabelitz in Zürich. Auch sie wurde sofort verboten und beschlagnahmt, gegen den Autor wurde eine steckbriefliche Fahndung eingeleitet. Der aber lebte bereits seit Oktober 1896 im Zürcher Exil. Seine Staatsangehörigkeit hatte er zurückgegeben; er wollte das Schweizer Bürgerrecht erwerben.

Panizza spielte die Rolle des wütenden Normbrechers und Provokateurs aus Überzeugung und mit Leidenschaft, war davon geradezu besessen. Otto Julius Bierbaum, sein Münchner Kollege in der „Gesellschaft für modernes Leben“, einem künstlerisch-literarischen Verein, dem die Vertreter der Münchner Moderne angehörten, nannte ihn auch schon mal „Oskar, der Geiferer“.  Aber er war nicht der „dichtende Psychopath“, zu dem man ihn stempeln wollte, der ins Irrenhaus gehörte. Er war gelernter, promovierter Psychiater, verstand sich aufs wissenschaftliche Sezieren von Seelen auf der Suche nach menschlicher Wahrheit. Als Psychiater fand er sie nicht, zu heilen vermochte er nicht. Als Schriftsteller dann kämpfte er fanatisch, lautstark gegen jegliche Zwänge, die Geist und Körper korsettieren. Als Protestant verstand er sich damals, als Protestant, der gegen jeden aufgezwungenen Glauben kämpft und die Feinde der Freiheit erbarmungslos bekämpft. An seine Münchner Freundin Anna Croissant-Rust schreibt er im Januar 1897:

Soll ich […] mich abhalten laßen, meine Feinde zu droßeln? […] Ich als Mann, als Protestant, als Hugenott, der nichts glaubt, dem aber das Opponiren, das Negiren, das Droßeln im Blute liegt?  Wo denken Sie hin? Wer komt dann zuerst? Ich oder die Jungfrau Maria? Allemal ich. Ich würge mein Opfer, wo ich es erwische, in der Kirche wie außer der Kirche; auf ein Sakrileg komt es mir dabei nicht an. Ich würge es, bis es röchelt. Das ist meine Absicht, meine Lust, meine Pflicht. Und durch die Kunst sollte ich mich abhalten laßen? Bestehen wir nur aus Kunst? Und darf Einer, weil er Schriftsteller ist und dichtet, nicht auch einmal Zetermordjo! rufen?

Als Schriftsteller ließ Panizza nichts aus, er provozierte scharf, aggressiv, ätzend, gezielt. Die Mittel der Literatur wusste er als Waffe zu gebrauchen und machte sie „zu einer Brandfakel, vor deren träufelndem Pech die Leute die Köpfe zurükziehen“. Deshalb war er gefürchtet und gehasst, sollte mundtot gemacht werden. Er hingegen wusste, dass nichts so sehr einen Autor im öffentlichen Gespräch hält und dazu den Absatz seiner Bücher befördert wie das Erregen von Skandalaufmerksamkeit. Der Schriftsteller der Moderne war auch in der Handhabung dieser Technik ein Moderner: „Herr, weise mich aus, oder laß‘ sonst einen Krach mit mir geschehen, damit meine Bücher wieder einen Schwung kriegen!“

 

Exil in Zürich – zwischen Spießern und „Antispiessern“

Panizza hatte sich für Zürich entschieden, das er für „frei“ und „radikal“ hielt, wie er Anna Croissant-Rust schon im August 1896 – noch im Gefängnis – schrieb. Genau erkundigt hatte er sich aber wohl nicht, sondern sich vielmehr der Hoffnung hingegeben, in Zürich unbehelligt und frei von Repressionen leben und schreiben zu können. Diese Hoffnung schürte, dass in Zürich, im bereits erwähnten Verlagsmagazin J. Schabelitz, seine Schriften erscheinen und sogar von hier aus nach Deutschland vertrieben werden konnten. Dieser Verlag galt in Deutschland als „Zentrale für subversive Schriften und Schandblätter“, in der „zensurflüchtige Autoren“ unterkamen, und war deshalb im Visier deutscher Zensurspitzel.

Schabelitz verlegte verfemte sozialistische Titel wie „Klassenkampf in der deutschen Socialdemokratie“ oder „Handbuch des Sozialismus“. Er ebnete aber auch vielen Autoren der deutschen literarischen Moderne den Weg, die in Deutschland suspekt waren: Hermann Bahr zum Beispiel oder Frank Wedekind, Karl Henckell, Franz Blei, Arno Holz und eben Oskar Panizza, dessen Liebeskonzil der Verlag in einer zweiten und dritten Auflage 1896 und 1898 herausbrachte.

Jakob Lukas Schabelitz wählte seine Manuskripte nicht intellektuell schmallippig aus. Liberal und aufgeschlossen, sympathisierte er mit ihrer Tendenz, der politischen oder literarischen. In den 1840er-Jahren hatte er eine Weile in London gelebt, dort Kontakte zu Revolutionären und Emigranten gehabt, darunter zu Karl Marx und Friedrich Engels, dem er 1849 eine Deckadresse in der Schweiz angeboten hatte. Schabelitz war und blieb aber ein eingefleischter Geistesliberaler. Er verlegte, was er für ausgefallen, aktuell, spannend hielt. Und er sympathisierte mit seinen Autoren, um die er sich kümmerte, noch lieber aber in geselliger Runde um sich versammelte. „Papa Schabelitz“ nannten sie ihn. Zwischen Panizza und ihm bestand eine auf Sympathie beruhende, aber persönlich distanzierte Geschäftsbeziehung. Panizza schätzte ihn auf seine misstrauische Weise.

Noch während der Haft hatte er überlegt, nach Zürich zu ziehen und dort ein Haus, ein „Landsitzchen“ zu kaufen und hatte Schabelitz gebeten, ihm eine „Südwohnung“ zu suchen. Schließlich bezog er die Wohnung an der Turnerstrasse 32, in Gehdistanz zu Verlag, Verleger und zum Zürichberg mit seinen wunderbaren Aussichtspunkten.

Meldekarte der Einwohnerkontrolle Zürich für Oscar Panizza. Stadtarchiv Zürich

Einbürgern lassen wollte er sich; Zürichdeutsch beherrschte er bald fast perfekt. Aber er hatte wohl weniger im Sinn, sich niederzulassen oder gar zur Ruhe zu setzen, als vielmehr – nun durch sein Bürgerrecht geschützt – von Zürich aus weiterhin gegen staatlichen Terror in Deutschland „krakeelen“ zu können. Damit aber erlag er einem Irrglauben, wie sich zeigte.

Fatalerweise glaubte er nämlich, Zürich sei fruchtbarer Boden für denkschablonenfreie Diskussionen aller gesellschaftlichen, politischen und literarischen Themen. „Die hiesige Gesellschaft“, schrieb er im Januar 1897 an Anna Croissant-Rust, sei „armselig, hausbaken, herzensgut, aber banaus“. Mit solchen Diskussionen, meinte er, könne er sie beleben. So lud er „die hier wohnenden der modernen literarischen Richtung angehörenden Poeten und Schriftsteller, Damen [ausdrücklich!] und Herren, und Anhänger dieser Richtung“ zu geselligem Meinungsaustausch in künstlerischen und Tages-Fragen ein – „literarische Diskuszionsabende“ sollten es sein. Das „Einladungszirkular“ in Panizzas Stil, in seinen Formulierungen und in seinem Impetus – nicht zuletzt in seinem Umfang – wird bei Zürcher Lesern eine Mischung aus Kopfschütteln, Empörung, Abwehr, mitleidigem Lächeln, vielleicht auch Gruselneugier hervorgerufen haben. Von einer „modernen clique“ war darin die Rede, die sich formiert, um „den neuen Geist ihren apathischen und gleichgültigen Mitbewohnern in Form eines Pfingst-Schreckens einzuimpfen“. „Alles und Jedes“ solle „ohne Rücksicht“ besprochen werden, konnte man lesen, alle Zusammenhänge des Themas müssten ohne Tabus untersucht werden, auch wenn „bei solchen Untersuchungen Dinge zur Sprache kommen müßen, die noch viel eckelhafter, grausiger und abstossender sind“. – Entgegen diesen martialisch-aggressiven Ankündigungen versprachen die meisten der „in Aussicht gestellten Themen“ Literatur und Kunst: „Die Lyrik der ‚Blätter für die Kunst‘ (über die deutsche symbolische Dichtung der Gegenwart)“, „Novalis und Maeterlinck“ oder „Mirabeau als Schriftsteller“. Panizza aber wollte keine blutleeren Diskussionen, sondern an diesen Beispielen die Dimensionen von Psychoanalyse, Politik und Unterdrückung ausloten.

Wen wundert’s: Es beteiligten sich nur wenige an den Diskussionsabenden. „Damen“ hatte er zum Mitreden eingeladen. Dass Zürcher Frauen der Einladung folgten, ist nicht bekannt. Selbst dieser harmlose Versuch, sie zu emanzipieren, scheiterte, von ihrer sexuellen Emanzipation ganz zu schweigen. Entsprechende Ausführungen seinerseits sorgten bei den – wenigen – Gästen, die gekommen waren, für „peinliche Verlegenheit“ mit „roten, verwilderten Köpfen“. Kurz: Die Abende, ohnehin kaum besucht, versandeten bald. Offenbar hatte man genug gehört, wollte sich nicht permanent schockieren lassen oder hielt das Ganze für abstrus. Soweit bekannt kam nach Mai 1897 niemand mehr. Aber Panizza führte sie in anderer Form fort, als Zürcher Diskuszionen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens. Er gründete im Frühsommer 1897 einen eigenen Verlag, den Verlag Zürcher Diskuszjonen und schuf sich damit die Möglichkeit, seine Anschauungen unzensiert direkt einer breiten Öffentlichkeit präsentieren zu können. Die Zürcher Diskuszionen waren damit eine programmatische Literaturzeitschrift, eine politisch-literarische Kampfschrift sowie eine Exilzeitschrift.

Die meisten Beiträge schrieb er selbst, unter verschiedenen Pseudonymen. Die erste Nummer erschien im September 1897, die erste Publikation seines Verlags bereits im Juni oder Juli – Oskar Panizza: Dialoge im Geiste Huttens. Zu Panizzas Geschäftsmodell gehörte es, ausschließlich eigene Schriften zu verlegen sowie Einzelbeiträge, die seinen Anschauungen entsprachen. Die Auflage der Zürcher Diskuszionen war klein, lag bei vierhundert Exemplaren, maximal. Jedenfalls musste Panizza zusehen, wie er die Finanzierung sicherte. Eifriges Rühren der Skandaltrommel, um im Gespräch zu bleiben, war dabei hilfreich.

In Zürich habe sich um Panizza, erinnert sich der Anarchist und Arzt Fritz Brupbacher, „eine ganze Gemeinde intellektueller Revoluzzer gesammelt“. Brupbacher war einer der ganz wenigen, wenn nicht der einzige, zu dem sich Panizza eine fast freundschaftliche Beziehung gestattete. Zwar hatte er viele Kontakte zu literarisch und politisch Progressiven aus der linken Kultur- und Politszene, zu Karl Henkell zum Beispiel, Max Halbe, Frank Wedekind, zum Anarchisten Alfred Sanftleben, der auch in den Zürcher Diskuszionen schrieb, oder Paul Pflüger, Chef der „Grütlianer“. Bekannt war er mit dem Bezirksrichter Otto Lang, der den Klassenkampf in der Schweiz propagierte, und eben mit Brupbacher, dem bekennenden Anarchisten. Aber mit den meisten Menschen verkehrte Panizza eher vorsichtig, verhielt sich misstrauisch.

Ein „richtig grosser militanter Individualist“ sei er gewesen, ein „Antispiesser grossen Formats“, eine „ungekünstelte dämonische Natur“ und „ein sehr guter Mensch“. Ob ihm Brupbachers letzte Charakterisierung Freunde eingebracht hat, ist ungewiss. Die anderen Zuschreibungen gewiss nicht. Panizza erfuhr, dass er auf Unverständnis, Neid, Misstrauen und Vorsicht vor dem allzu Radikalen stieß, das er verkörperte, dass sich niemand kompromittieren wollte und sich deshalb lieber rechtzeitig distanzierte.

Trotz allem fühlte er sich in Zürich einigermaßen wohl. Die Hatz auf ihn, die Verbote seiner Schriften, die Haft, Demütigungen und Schikanen, der Familienterror, sein Leiden am „Elend der deutschen Misere“ wirkten nach, lagen aber hinter ihm und „jenseits des Rheins“. Gegen das Erlebte in Deutschland muss ihm Zürich paradiesisch erschienen sein. Fast. „Zürich im Sommer, das laß’ ich mir schon gefallen: die prächtigen Bad-Einrichtungen, das kühle Waßer, die nicht hoch genug zu lobenden Schweizer Landweine, rein und billig […] – n’ paar Majestätsbeleidigungen …. so geht es schon. –“, schrieb er im Sommer 1898 an Max Halbe. In einer solchen Stimmung war wohl auch Vreneli’s Gärtli entstanden.

Zürcher Diskuszjonen, 2. Jg. Titelblatt der Ausgabe 1899, in der Vreneli’s Gärtli erschien. Zentralbibliothek Zürich, Alte Drucke und Rara, Res 320, 1-3 (1897-1902)

 

Vreneli’s Gärtli

Die Erzählung Vreneli’s Gärtli entstand im Frühling 1898, erschien aber erst im 2. Jahrgang der Zürcher Diskuszjonen, in der Doppelnummer 18-19, 1899 in Paris. Oskar Panizza war auf den 1. Dezember 1898 aus Zürich ausgewiesen worden. In Paris führte er die Zürcher Diskuszjonen weiter; vertrieben wurde die Zeitschrift jedoch wie bisher von Zürich aus, damit „wenn es einmal wieder einem bornirten Ministerium oder wahnsinnigen Kaiser einfält, in Deutschland das gesprochene oder geschriebene Wort verbieten zu wollen, […] die Leser wißen, von wo man die gedrukte Freiheit bezieht.“

Vreneli’s Gärtli ist die einzige Erzählung, die in den Zürcher Diskuszjonen erschien. Sie ist untypisch, denn sie fällt aus dem Rahmen der üblichen literatur- und kulturkritischen Essays. Vor allem ist sie untypisch für Panizza, dem alles, was er schrieb, zu einer flammenden Kampfschrift geriet. Nur dieses eine Mal ist ihm mit Vreneli’s Gärtli eine Hommage an einen Ort, wo Menschlichkeit, Menschenfreundlichkeit, Lebensgenuss und Sinnesfreuden möglich sind (möglich scheinen? möglich sein könnten?) aus der Feder geflossen. Die Quintessenz von Vreneli’s Gärtli ist seine, wenn auch ironisch abgedunkelte Liebeserklärung an Zürich, gemischt aus seinen Wünschen und Sehnsüchten.

Vreneli’s Gärtli gab und gibt es tatsächlich. Es ist ein Aussichtpunkt am Rand des Waldes auf dem Zürichberg.

Weg zu Vrenelis Gärtli. Heinrich Jakob Burger-Hofer: Vrenelis Gärtli. Zeichnung, entstanden zwischen 1882 und 1917. Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv

Der Erzähler entdeckt die Wegweiser, die in ihm eine Assoziationskette und erotische Fantasien auslösen: Er sieht den Venusberg vor seinem geistigen Auge. Da muss er hin. Er macht sich auf den Weg durch den Wald, malt sich erwartungsvoll Frau Venus aus – „Hoffentlich hat sie kleine Füβe“ – und phantasiert sich in erotische Freuden hinein, die sich zu erfüllen scheinen, als er „ein reizendes Schweizerhaus“ findet, auf dessen Galerie eine Frau steht, „in blendend- weiβem-Brusthemd, die Aermel bauschig gekröpft, knusprig gestärkt, die Brüste prachtvoll vorgeladen, […] die ganze Figur hoch, gewaltig, prachtvoll, sicher, imponirend ….“

Der Leser ahnt: Das „Gärtli“ ist ein Bauernhof mit Wirtschaft, das „Vreneli“ keine „Venus“, sondern eine derbe Wirtin.  Sie hält den Fremden für verrückt, begreift aber schnell, kommt mit merkantilem Körpereinsatz seinen Sehnsüchten buchstäblich entgegen und weiß diese geschickt im Sinne des Geschäfts – nicht ohne unüberhörbar drohenden Unterton – umzulenken: „Was trinkt dä Herr furen Wii? Aen 95er Eglisauer? Oder än Härrliberger? – und in diesem dunklen Auge lag etwas wie: Fremdling, nimm keinen billigen, denn Deine ganze bisherige Aufführung ist derart, daß Du Dich hier nicht kannst lumpen laßen wollen ….“

So ließe sich Vreneli’s Gärtli bis zum „alkoholischen Schluß“ auf vielfache Weise lesen: als erzählerische Veranschaulichung des Essays Die Kleidung der Frau – ein erotisches Problem, den Panizza unter dem Pseudonym Hans Kistemaeker, Haag, in den Zürcher Diskuszjonen veröffentlicht hatte; als Glosse auf die Änderung des Zürcher Strafrechts von 1897, das Bordelle verbot und Prostitution unter Strafe stellte; als facettenreiche Satire auf schweizerische Geschäftstüchtigkeit, die besonders wirksam eingesetzt wird gegen fremde Fötzel, die ihrerseits, mit hiesigen Usancen nicht vertraut, aber schweizselig, anpassungseifrig sind und es deshalb nicht besser verdient haben; als Satire auf schweizerische Abwehr von Gefühlsüberschwang: „Dä hat mi jezt da eso preβt, daß i hab schier nümme schnaufe chönne! …. Und dabei zeigte sie an ihrer Talje die Stelle, wo ich sie umklammert hatte“; als Satire aber auch auf zwinglianische Prüderie, die einhergeht mit jener speziellen Erotik, die dem Geschäft gilt: „Wänd Sie jetzt no äs Bizzeli Chrüterchäs?“ – „das gid wieder an frische Durscht“. Diese Spiele kennt jeder in der Schweiz, spielt sie gutmütig mit und belustigt sich über Hereingelegte.

Man könnte Vreneli’s Gärtli also auch als amüsante Beispielgeschichte für Mentalitätsgebaren lesen und dabei schmunzeln über das Animierdamengeschick der Wirtin sowie über den Verrückten, der sich so bereitwillig abfüllen und das Geld aus der Tasche ziehen lässt. Wären da nicht all die Einschübe, Anmerkungen, Assoziationen. Sie durchsetzen die Erzählung, so dass einem beim Lesen das Schmunzeln vergeht. Es sind gewaltige Ausbrüche von Wut, Verzweiflung oder auch Resignation, die eine zweite Erzählebene einziehen, auf der wortmächtige Anklage erhoben wird: gegen das „ganze Elend der deutschen Misere“: den Polizeistaat, den Kasernenstaat, in dem „Zuchthaus-Ton“ herrscht, Bigotterie, Unterwürfigkeit, Majestätswahn grassieren; einen Staat, der regiert wird von einem „Pferdegeschlecht“ – von Pickelhaubensoldaten auf Gäulen, die sich mit „erbarmungsloser Gewalt“ durch die Lande „wälzen“, vornweg der oberste „Pferde-Mensch“, laut brüllend Anbetung fordernd: der Kaiser.

Diese Schilderungen all der deutschen Schrecklichkeiten kontrastieren die ländliche Idylle, die mit ihren Versatzstücken – „reizendes Schweizerhaus“, muhende Kühe auf „prächtigem Wiesenplan“, Maiden in Tracht, kühlen Wein und „Chrüterchäs“ servierend – ein gängiges Klischee der Schweiz abbildet. Die geschäftstüchtige Fertigkeit, aus seinen Nöten Gewinn zu machen, indem er mit viel Wein zur Ruhe gebracht wird, irritiert den Fremden zwar ein wenig, stört jedoch sein Arkadien nicht, denn es erlaubt ihm das weinselige Vergessen seiner Seelenpein und schließlich den „polizeifreien“ Schlaf in diesem als gastlich erlebten Haus.

Aus dieser funkelnden Geschichte, durchsetzt mit schwindelerregend vielen, vielfältigen erzählerischen Facetten, mit Hintersinn und Anspielungen sowie Fakten, vom Autor als Kommentar in Fußnoten angefügt, aus einer Spiegelgeschichte, die gleich mehrfach spiegelt, entsteht das Sinnbild der Schweiz, in der man in landschaftlicher Schönheit gediegen und selbstzufrieden lebt, unberührt von fremden Nöten und Missständen. Von diesen hört man hier nur, ungläubig staunend. Man ist durchaus nicht unempfänglich für Mitleid und zeigt sich fürsorglich, ob aus Geschäftstüchtigkeit oder situativer menschlicher Anteilnahme, lässt sich nicht genau entscheiden. Die Wirtin bietet dem fremden Gast ein weiches Bett, weil ihm ja auf dem Rückweg „dur dä feischtere Wald durre“ etwas passieren könnte. Wie auch immer, Mitleid schadet nicht, besonders wenn es dem Geschäft nützt. Der Gast jedenfalls bekommt, was er braucht und ihm wohltut. Er bezahlt ja dafür. Und er scheint gewusst zu haben, dass Sinnenfreuden nicht gratis sind, denn er hatte ja wohlweislich Geld in seinen Beutel getan, bevor er sich zu Vreneli’s Gärtli aufmachte.

Panizzas Erzähler ist also durchaus realitätsfest. Er kennt die politische Realität in Deutschland, die monetäre Schweizer Mentalität und ihre Gepflogenheiten und ebenso das aktuelle Strafrecht von 1897, das „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ streng ahndet. Aber gerade aus dieser Realitätsnähe erwächst seine Utopie. Sie eröffnet sich ausgerechnet, vielleicht aber bezeichnend, dem Fremden, dem nicht mehr Deutschen, dem Staatenlosen: die Utopie von der freien, freundlichen, schützenden Schweiz. In Vrenelis Gärtli erscheint sie ihm – in einer Mischung aus Wünschen und Erleben – als Gegenentwurf zur deutschen Misere, nämlich als „polizeifreie Erde“ und „Freistätte der Liebe, wo geistbeflügelnde Freiheit“ herrscht und sogar Fremde gastfreundlich willkommen geheißen werden. In Vreneli’s Gärtli erlebt Panizzas Erzähler eine Schweiz, die freilich nicht der sagenhafte Garten am Berg der Venus, auch nicht der biblische Garten Eden ist, sondern nur ein „Gärtli“,ein zwar dornenbehaftes, aber immerhin ein Paradies, nämlich eine Heimstatt, bereitet von freundlichen Menschen. Die dornigen Mängel werden konkret benannt, aber zu Fußnoten gemacht, gewissermaßen vernebensächlicht. Am Ende ermöglichen Vreneli’s Gärtli und die Wirtin, die unversehens zu einer Art Mutter Helvetia mutiert, dem Fremden nach einem heiteren Nachmittag, der ihm Lebensgenuss und schließlich Vergessen seiner politischen Seelenqual geschenkt hat, „langen, ruhigen, polizeifreien Schlaf“.

So lässt denn Panizza seinen Erzähler heidnisch beten: „Du Venus, Göttin der Liebe, schüze diese heilige Kultstätte vor Frevlern, umgebe dieses Tal mit Schlinggewächsen und Irrgärten und stelle die scharfen Hauer der Dir ergebenen Wildschweine hinein, damit sie jeden Uniformierten, jeden Polizisten anfallen, der es wagen sollte, dich zu ‚Schriften-Abgabe‘ aufzufordern, von dir ‚Heimatschein‘ oder ‚Konsulatszeugnis‘ zu verlangen“.

 

Provokateur und Opfer: ausgewiesen

Das Sitzungsprotokoll des Zürcher Regierungsrates [der Kantonsregierung] vermerkt, Panizza sei auf Antrag der Polizeidirektion zum 1. Dezember 1898 die Aufenthaltsbewilligung entzogen worden, da er in einem Prozess gegen das Ehepaar Rumpf eine „höchst verwerfliche Rolle“ gespielt habe. Panizza ist sofort klar: Das muss ein Vorwand sein. „Am Donnerstag den 27 Oktober 1898 (vorgestern) wurde ich von Zürich ausgewiesen; angeblich, weil ich mit einer Prostituirten in meiner Wohnung verkehrt hatte; in Wirklichkeit dürften politische Gründe maasgebend gewesen sein“, notiert er.

Aktfoto Olga. Das einzige Aktfoto aus Oskar Panizzas Nachlass, das sich in seinen Notizen von 1897/98 befindet. Münchener Stadtbibliothek/Monacensia, Signatur L1109

Den Umgang mit der jungen, aber im Sinne des geänderten Strafrechts volljährigen Prostituierten Olga Rumpf hatte er nie bestritten, sondern als Zeuge im Kuppeleiprozess gegen die Eheleute Rumpf zu Protokoll gegeben. Richtig war seine Vermutung, der offizielle Grund sei nur ein Vorwand, um ihn loszuwerden. Die vage Formulierung ließ daran ja keinen Zweifel. Falsch allerdings lag er mit seiner Annahme, die Ausweisung habe politische Gründe.

Das entsprach zwar seinem Wunschdenken und seinem Selbstverständnis, Anarchist zu sein. Zudem lag die Vermutung insofern nahe, weil just zu dieser Zeit, genauer am 10. September 1898, in Genf die österreichische Kaiserin Elisabeth durch den italienischen Anarchisten Luigi Luccheni getötet worden war und damit politisch verdächtige Personen, besonders Ausländer aus Kreisen der Sozialisten, Anarchisten und linke Literaten, ins Visier der Schweizer Behörden gerieten. Er glaubte also, die Ausweisung gälte dem gefährlichen Anarchisten Panizza. Endlich – so meinte er – nahm man ihn in seiner politischen Gefährlichkeit ernst. Das begriff er als Chance, ging an die Presse und beteuerte, es gebe kein Strafverfahren gegen ihn, man wolle ihn, den Anarchisten loswerden; das sei mit einer solch vagen, unrichtigen Begründung einfacher und überdies geräuschloser.

Mit diversen Dementis und Klarstellungen versuchte er, seinen Fall lautstark zu einem politischen Skandal zu machen. Die Folgen waren allerdings fatal. Alle, die ihn zum Schweigen bringen wollten, freuten sich über ein gefundenes Fressen, denn der so vielsagend vage formulierte offizielle Grund, seine „höchst verwerfliche Rolle“ in dem Kuppeleiprozess ließ sich wunderbar als „unsauberes Treiben“ ausschlachten. Vermutungen, Verdächtigungen wurden lanciert und machten die Runde, hämisch kolportiert in Schweizer, vor allem in deutschen Blättern: Panizza sei wegen „Notzucht“ verhaftet, wegen „Kindsabtreiben“ ausgewiesen, habe „minderjährige Mädchen“ verführt, sei „Zuhälter einer wegen Prostitution und Kuppelei verfolgten Frau“ gewesen usw.

Das Gebrüll um seine Schriften kalkulierte er, solche persönlichkeitsdiffamierenden Gerüchte aber verstand er als Angriff auf seine Integrität. Sie gingen gegen seine Würde, beschädigten seinen Ruf. Deshalb sah er sich genötigt, ebenso öffentlich diesen Gerüchten entgegenzutreten und unterließ es nicht, aggressiv zu parieren: „Auch die sozialdemokratische Zürcher Preße ließ mir bei dieser Gelegenheit deutlich ihre Aversion merken. Die Partei konnte es offenbar nicht verwinden, daß ich mich nie offizjell bei ihr als Genoße eingeschrieben habe.“ All seine Erklärungen, er sei aus politischen Gründen ausgewiesen worden, nährten die Gerüchte nur noch mehr. Dass gegen ihn keine Anklage erhoben wurde, spielte in der öffentlichen Skandalisierung seiner Ausweisung überhaupt keine Rolle. Die Presse, insbesondere das sozialdemokratische Volksrecht, machte Front gegen ihn, „und schlieβlich trat hier das ein, was in der Schweiz in einem solchen Fall immer eintritt; sobald es sich um einen Fremden handelt, in diesem Fall um einen ‚Chaibe-Schwob‘, vereinigen sich alle Parteien, wie mit einem Schlag, um über den Betreffenden […] gemeinsam herzufallen“.

So breitete er schließlich in einer für ihn untypischen sarkasmusfreien Ernsthaftigkeit „peinlich genau“ und chronologisch die Fakten seiner „höchst verwerflichen Rolle“ „in dem Prozeß gegen die Eheleute R.“ in allen Details aus, stellte sie in den Kontext und legte ausführlichst dar, dass er nicht gegen das 1897 erlassene Gesetz, das Prostitution unter Strafe stellte, verstoßen habe. Fazit seiner vielen Worte: Er habe sich im Rahmen von Recht und Gesetz als freier Mensch seine persönlichen Freiheiten genommen, aber niemandem geschadet. Revolutionär sei er, aber kein Verbrecher. Er sei durch den Skandal um eine junge Prostituierte aufgefallen. Das instrumentalisiere man, um ihn loszuwerden. Weil er unter Anarchismusverdacht stehe, habe die Zürcher Polizeidirektion im Zusammenhang mit dem Mord an der österreichischen Kaiserin Elisabeth seine Ausweisung betrieben, indem sie – deutsche Praktiken in schweizerischer Manier variierend – die herrschende Volksempörung gegen „Unsittlichkeit“ nutzte.

Diese Ausführliche Darlegung der Umstände gelegentlich der Ausweisung des Herausgebers der ‚Zürcher Diskußionen‘ aus Zürich veröffentlichte er im Heft No. 12 vom Dezember 1898 in der Rubrik „intra muros et extra“, in der üblicherweise Rezensionen, Berichte vom Bücher- und Zeitschriftenmarkt, aus der Kultur und der kulturpolitischen Szene, Redaktionelles und gelegentlich Persönliches zu lesen waren; damit sorgte er freilich auch dafür, dass nicht so schnell Gras über die Sache wuchs.

Panizza hätte allerdings wissen müssen, dass seine diversen Erklärungen ein Schattenboxen bleiben würden, über das sich die deutsche Öffentlichkeit genüsslich hermachen würde, dass es letztlich darum ging, ihn mundtot zu machen. Schließlich kannte er dieses Verfahrensmuster nur zu gut: Diffamieren seiner Schriften, dann seiner Person, schließlich, ist noch immer nicht Ruhe, wegsperren, ins Gefängnis, ins Irrenhaus – oder eben ausweisen.

Nachgetragen zur Sache sei zweierlei: Karl Rumpf und seine zweite Ehefrau, die „Dirne Barbara Schrandolf“, wurden angeklagt, ihre Stieftochter Olga gezwungen zu haben, „auf der Strasse Mannspersonen zur Ausübung der Unzucht anzulocken“, und mit Zuchthaus bestraft. Für die junge Prostituierte Olga Rumpf forderte der Evangelische Frauenbund strenge Disziplin und häufiges Gebet und später ein Leben als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt.

Panizza hatte tatsächlich mit dem Prozess nichts zu tun. Das bestätigte die Direktion der Justiz und Polizei des Kantons Zürich 1901 auf Anfrage der Münchener Staatsanwaltschaft, als es um Panizzas Zurechnungsfähigkeit ging: Panizza sei in Zürich nicht straffällig geworden. Er habe Olga Rumpf privat, „allerdings mit ihrer Zustimmung, in unbekleidetem Zustande photographirt“. – „Verbreitung dieser oder einer anderen ähnlichen Photographie lag nicht vor; es konnte sich daher nicht um ein Strafverfahren gegen ihn handeln; er wurde einfach administrativ ausgewiesen.“

Nimmt man alles zusammen, leuchtet es ein, dass er nach seiner Ausweisung nicht von Paris aus Zürich und die Zürcher mit ähnlich heiligem Zorn niedermachte wie drei Jahre zuvor München und die Münchner, sondern – seltsam handzahm – lediglich alles genau darlegte, „was zu einer unparteiischen Beurteilung des Falles notwendig“ sei. Er verschonte Zürich aber nicht aus vielleicht sentimentaler Dankbarkeit, weil er hier in Vreneli’s Gärtli hatte gucken dürfen.

Vielmehr hatte, so war er überzeugt, Zürich ihm die Ehre erwiesen, ihn als potenziell gefährlichen Anarchisten auszuweisen. Dies bedeutete ihm Anerkennung und Genugtuung. Deswegen verstieg er sich in jene abenteuerliche Argumentation, mit der Nennung des wahren Grundes hätte man ihm „die Fakel der Revoluzion in die Hand gegeben“. Recht hatte er. Die verlautbarte Begründung war nur ein Vorwand. Aber in seinem Wunschdenken erlag er dem Irrglauben, er sei ein politisch wirkungsmächtiger, gefürchteter Anarchist. Diesem war er so verfallen, dass ihn selbst jener Artikel im sozialdemokratischen Organ Volksrecht, der seine Ausweisung in einer nicht zu überbietenden gemeinen Infamie begrüßte und ihn als sexuell besessenen Geisteskranken schmähte, nicht erschüttern konnte. Solche Anwürfe wertete er nun als weitere freche Verschleierung des wahren, des politischen Grundes.

In München war er als Geisteskranker kriminalisiert und stigmatisiert worden. Dafür hatte er sich gerächt und in einer maßlosen Hassorgie gegen München gehöhnt. Eine ähnliche gegen Zürich zu feiern, hätte Selbstverharmlosung und Selbstverleugnung verlangt. Zürich verschonte er im stolzen Bewusstsein, hier als Anarchist anerkannt und durch Ausweisung geadelt worden zu sein. Er irrte sich.

Auch dazu sei Faktisches nachgetragen, nämlich die Auskunft der Zürcher Polizei- und Justizdirektion auf die Anfrage der Münchner Staatsanwaltschaft vom 17. Mai 1901: Panizza habe keine „regelrechten Ausweisschriften besessen“ und sei nur „geduldet“ gewesen. Der Umgang mit Olga Rumpf habe kein Strafverfahren gegen ihn zur Folge gehabt; es habe nichts gegen ihn vorgelegen bis auf Aussagen von Polizeispitzeln, die sich aufs Weitergeben von Hörensagen beschränkt hätten. „Zuverlässige Personen, welche den Panizza kannten, taxierten ihn nicht blos als excentrischen, sondern auch als geradezu geistig anormalen Menschen, wobei sie namentlich auf seine Schriften, Liebeskonzil u.s.w. verwiesen.“

Sekundärliteratur:

Panizza, Oskar: Abschied von München. Ein Handschlag. Zürich 1897. [Nachdruck: Verlag Klaus G. Renner Erlangen 1979. Mit einer „Collage für einen Collegen“ von Dieter Roth].

Panizza, Oskar: Parisjana. Zürich 1899.

Bauer, Michael: Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt. München 1984.

Bauer, Michael: Oskar Panizza. Eine Biografie. München 2019.

Brupbacher, Fritz: 60 Jahre Ketzer: Selbstbiographie: „Ich log so wenig als möglich“. Zürich 1981 [Nachdruck der Ausg. Zürich 1935]

Düsterberg, Rolf: „Die gedrukte Freiheit“ Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen. Frankfurt am Main 1988.

Lessing, Theodor: Der Fall Panizza. München 1895.

Universität Bayreuth: Katalog zur Ausstellung zum 150. Geburtstag von Oskar Panizza (1853-1921). Bayreuth 2003.

Quellen aus der Zentralbibliothek Zürich (Alte Drucke und Rara)

Zürcher Diskuszionen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens. Erster Jahrgang 1897-98. Verlag Zürcher Diskuszionen. Zürich 1898. [Res. 320]

Zürcher Diskuszjonen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens. Zweiter Jahrgang 1899. Verlag Zürcher Diskuszjonen. Paris 1899. [Res. 320]

Externe Links:

Oskar Panizza: Ein virtuelles Programm zum 100. Todestag des Schriftstellers

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