Logen-Blog [108]: Das Sträuben der zuckenden Lippen
Gustav kommuniziert – und er hält, sozusagen, seine erste Predigt: eine weltliche. Der junge Mann ist ein Geschichtenerzähler, den es in der erhöhten Stimmung des Fest- und Feiertages hinreißt. Nur deshalb kann auch er hinreißen; die Zuhörerschaft ist eine ideale. Es leuchtet die Nacht... und es kommt zum ersten Kuss. Irgendwo schreibt Jean Paul, dass ein Kuss nicht vergessen wird, aber viele Küsse. Der erste Kuss pflegt tatsächlich unvergessen zu sein. Der Dichter hat eine ausgesprochene Freude daran, Gustavs Begegnung mit Regina auszumalen. Nur seltsam: Gustav fühlt stark und fest, dass er dazu bestimmt ist, ein tugendhafter Mensch zu werden – und schon kurz darauf reißen ihn die Gefühle in die Nähe des Mundes seiner Angebeteten. Nein, der Autor tadelt das nicht, ein erster Kuss muss einfach sein. Außerdem vermute ich, dass Jean Paul hier einfach eigene Erfahrungen fixieren wollte – und zugleich (siehe „sexueller Notstand“) das in Wort- und Tintenform aufs Papier fließen lassen wollte, was noch zurückgedrängt werden musste, um ein derartiges Werk zu ermöglichen.
Kein Wunder, dass er auf „die Herren Veit Weber und Kotzebue“ kommen musste, „in deren Schriften zu viele Küsse stehen“.
Besondere Bemerkungen über Veit Weber alias Leonhard Wächter
Kotzebue kennt man ja noch[1] – aber wer war Veit Weber? Veit Weber hieß eigentlich „Leonhard Wächter“, wurde 1762 im niedersächsischen Uelzen geboren, war mit dem Göttinger Hainbund verbandelt, kämpfte in Frankreich selbst auf Seiten der Revolutionäre unter General Dumoriez, dem ich vor wenigen Wochen in Versailles begegnet bin. Er starb 1837 in Hamburg: ein Weltbürger, an den man sich erinnern sollte. Wer ihn kennen lernen will, könnte zur bekannten Sammlung O Lust, allen alles zu sein. Deutsche Modelektüre um 1800 greifen, in der sich zwei Texte aus seiner siebenbändigen Edition Sagen der Vorzeit befinden, auf die sich Jean Paul bezieht. 1787 erschien der erste, 1798 der letzte Band dieser Trivialliteratur, in der ein fantastisches Mittelalter entworfen wird. Die Erzählungen des ersten Bandes heißen, per exemplum, Männerschwur und Weibertreue, Der Harfner und Das Ritterwort. „Himmel! Jungfrau, verzeiht mir, ich sprach ohn' Überlegung!“ – so etwas kann man dort lesen, auch Sentenzen wie Folgende: „Von ihrem Sitze stürzte Ida, raufte die Haare sich aus, riss Hartmuth, der Gottfried den Helm lösete, unter Verwünschungen von ihm, und drückte noch einen Kuss der äußersten Verzweiflung auf Gottfrieds bleiche Lippen.“ Oder: „Er ergriff sie mit Inbrunst, drückte einen brennenden Kuss.darauf, und schaute gen Himmel – Vater – rief er – du hast mir dies Weib zugeführt – du wirst sie schützen.“ „Da warf er sich schnell an ihren Hals und drückte den ersten Kuss erhöhrter Minne auf ihre Lippen.“
Wie anders klingt es bei Jean Paul: Seiner trunknen Seele ersetzte die Nähe den Kuss. – Das Sträuben führte seine zuckende Lippen an ihre – aber doch erst als sie seine Brust von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute berauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aussaugen und seine ganze eingießen – sie standen auf zwei entfernten Himmeln, zueinander über den Abgrund herübergelehnt und einander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht loslassend zwischen die Himmel hinunterzustürzen.... Auch und gerade von solchen Stellen aus kann der Leser konkret ermessen, welcher Abstand zwischen Jean Paul und den erfolgreichen Autoren seiner Zeit bestand. Was aufs erste Lesen wie haltloses Pathos anmutet, ist auch der Versuch, die Gefühle, die bei Leuten wie Weber mit der kleinsten Münze ausgezahlt werden, so genau zu fassen, dass die Figuren eine Realität erhalten, die sie über Trivialitäten der Weberschen Art weit erhebt.
Jean Paul waren Weber und Kotzebue verdächtig, er selbst galt als tugendhafter Mensch, er hatte moralische Grundsätze, die auch seine Romane und Erzählungen auszeichnen: bei allen boshaft-satirischen Angriffen auf die Welt und ihre Bewohner. Wie es im Siebenkäs so schön heißt: er selbst, ein Schaf im gemeinen Leben, wurde zum Wolf, wenn er Rezensionen schrieb. In einer Fußnote erläutert „Jean Paul“ schließlich – oder ist es Jean Paul? –, mit gutem Humor, dass „Gustavs Mut zum Kuss übrigens natürlich“ sei:
Unser Geschlecht durchläuft drei Perioden des Muts gegen das schöne – die erste ist die kindliche, wo man beim weiblichen Geschlecht noch aus Mangel an Gefühl etc. wagt – die zweite ist die schwärmerischer wo man dichtet, aber nicht wagt – die dritte ist die letzte, wo man Erfahrung genug hat, um freimütig zu sein, und Gefühl genug, um das Geschlecht zu schonen und zu achten. Gustav küsste in der ersten Periode.
Gustav küsste in der ersten Periode – schon diese Schlusspointe hat Qualitäten, nicht erst die Bemerkungen über den Menschen Gustav, an die sich allgemeine Bemerkungen über den Menschen[2] anknüpfen. Regina aber entschwindet; der Autor verabschiedet sich von ihr, nicht ohne einen Kommentar zu geben: „Nun tritt schon die Sonne höher an Gustavs Lebenstage und fängt an zu stechen“. Wir kennen das aus dem Siebenkäs: dieses schreckliche Mehrwissen des Autors über schreckliche Eintrübungen des Lebens, die paradoxerweise im Sonnenbild allegorisiert werden.
Auch ein schöner Kuss, gemalt vom großen Münchner Gesamtkunstwerker Franz von Stuck: Der Kuss der Sphinx. Was hat dieses Gemälde mit dem Thema zu tun? Ganz einfach: eine grundsympathische, durchaus nicht sphinxenhafte Nachfahrin des Malers hat gerade die Passepartouts im neuen Bayreuther Jean-Paul-Museum zugeschnitten, das übermorgen, am 250. Geburtstag des Dichters, wiedereröffnet wird.
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[1] Schon deshalb, weil er von einem Mann ermordet wurde, der aus Jean Pauls Geburtsstadt kam.
[2] So nannte Jean Paul eine seit den 90er Jahren erstellte Sammlung von Aufzeichnungen. Eine dieser Originalhandschriften wird im allerdemnächst wieder zu besichtigenden, neugestalteten Bayreuther Jean-Paul-Museum zu lesen sein (wenn man denn des Aufzeichners Sauklaue entziffern kann).
Logen-Blog [108]: Das Sträuben der zuckenden Lippen>
Gustav kommuniziert – und er hält, sozusagen, seine erste Predigt: eine weltliche. Der junge Mann ist ein Geschichtenerzähler, den es in der erhöhten Stimmung des Fest- und Feiertages hinreißt. Nur deshalb kann auch er hinreißen; die Zuhörerschaft ist eine ideale. Es leuchtet die Nacht... und es kommt zum ersten Kuss. Irgendwo schreibt Jean Paul, dass ein Kuss nicht vergessen wird, aber viele Küsse. Der erste Kuss pflegt tatsächlich unvergessen zu sein. Der Dichter hat eine ausgesprochene Freude daran, Gustavs Begegnung mit Regina auszumalen. Nur seltsam: Gustav fühlt stark und fest, dass er dazu bestimmt ist, ein tugendhafter Mensch zu werden – und schon kurz darauf reißen ihn die Gefühle in die Nähe des Mundes seiner Angebeteten. Nein, der Autor tadelt das nicht, ein erster Kuss muss einfach sein. Außerdem vermute ich, dass Jean Paul hier einfach eigene Erfahrungen fixieren wollte – und zugleich (siehe „sexueller Notstand“) das in Wort- und Tintenform aufs Papier fließen lassen wollte, was noch zurückgedrängt werden musste, um ein derartiges Werk zu ermöglichen.
Kein Wunder, dass er auf „die Herren Veit Weber und Kotzebue“ kommen musste, „in deren Schriften zu viele Küsse stehen“.
Besondere Bemerkungen über Veit Weber alias Leonhard Wächter
Kotzebue kennt man ja noch[1] – aber wer war Veit Weber? Veit Weber hieß eigentlich „Leonhard Wächter“, wurde 1762 im niedersächsischen Uelzen geboren, war mit dem Göttinger Hainbund verbandelt, kämpfte in Frankreich selbst auf Seiten der Revolutionäre unter General Dumoriez, dem ich vor wenigen Wochen in Versailles begegnet bin. Er starb 1837 in Hamburg: ein Weltbürger, an den man sich erinnern sollte. Wer ihn kennen lernen will, könnte zur bekannten Sammlung O Lust, allen alles zu sein. Deutsche Modelektüre um 1800 greifen, in der sich zwei Texte aus seiner siebenbändigen Edition Sagen der Vorzeit befinden, auf die sich Jean Paul bezieht. 1787 erschien der erste, 1798 der letzte Band dieser Trivialliteratur, in der ein fantastisches Mittelalter entworfen wird. Die Erzählungen des ersten Bandes heißen, per exemplum, Männerschwur und Weibertreue, Der Harfner und Das Ritterwort. „Himmel! Jungfrau, verzeiht mir, ich sprach ohn' Überlegung!“ – so etwas kann man dort lesen, auch Sentenzen wie Folgende: „Von ihrem Sitze stürzte Ida, raufte die Haare sich aus, riss Hartmuth, der Gottfried den Helm lösete, unter Verwünschungen von ihm, und drückte noch einen Kuss der äußersten Verzweiflung auf Gottfrieds bleiche Lippen.“ Oder: „Er ergriff sie mit Inbrunst, drückte einen brennenden Kuss.darauf, und schaute gen Himmel – Vater – rief er – du hast mir dies Weib zugeführt – du wirst sie schützen.“ „Da warf er sich schnell an ihren Hals und drückte den ersten Kuss erhöhrter Minne auf ihre Lippen.“
Wie anders klingt es bei Jean Paul: Seiner trunknen Seele ersetzte die Nähe den Kuss. – Das Sträuben führte seine zuckende Lippen an ihre – aber doch erst als sie seine Brust von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute berauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aussaugen und seine ganze eingießen – sie standen auf zwei entfernten Himmeln, zueinander über den Abgrund herübergelehnt und einander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht loslassend zwischen die Himmel hinunterzustürzen.... Auch und gerade von solchen Stellen aus kann der Leser konkret ermessen, welcher Abstand zwischen Jean Paul und den erfolgreichen Autoren seiner Zeit bestand. Was aufs erste Lesen wie haltloses Pathos anmutet, ist auch der Versuch, die Gefühle, die bei Leuten wie Weber mit der kleinsten Münze ausgezahlt werden, so genau zu fassen, dass die Figuren eine Realität erhalten, die sie über Trivialitäten der Weberschen Art weit erhebt.
Jean Paul waren Weber und Kotzebue verdächtig, er selbst galt als tugendhafter Mensch, er hatte moralische Grundsätze, die auch seine Romane und Erzählungen auszeichnen: bei allen boshaft-satirischen Angriffen auf die Welt und ihre Bewohner. Wie es im Siebenkäs so schön heißt: er selbst, ein Schaf im gemeinen Leben, wurde zum Wolf, wenn er Rezensionen schrieb. In einer Fußnote erläutert „Jean Paul“ schließlich – oder ist es Jean Paul? –, mit gutem Humor, dass „Gustavs Mut zum Kuss übrigens natürlich“ sei:
Unser Geschlecht durchläuft drei Perioden des Muts gegen das schöne – die erste ist die kindliche, wo man beim weiblichen Geschlecht noch aus Mangel an Gefühl etc. wagt – die zweite ist die schwärmerischer wo man dichtet, aber nicht wagt – die dritte ist die letzte, wo man Erfahrung genug hat, um freimütig zu sein, und Gefühl genug, um das Geschlecht zu schonen und zu achten. Gustav küsste in der ersten Periode.
Gustav küsste in der ersten Periode – schon diese Schlusspointe hat Qualitäten, nicht erst die Bemerkungen über den Menschen Gustav, an die sich allgemeine Bemerkungen über den Menschen[2] anknüpfen. Regina aber entschwindet; der Autor verabschiedet sich von ihr, nicht ohne einen Kommentar zu geben: „Nun tritt schon die Sonne höher an Gustavs Lebenstage und fängt an zu stechen“. Wir kennen das aus dem Siebenkäs: dieses schreckliche Mehrwissen des Autors über schreckliche Eintrübungen des Lebens, die paradoxerweise im Sonnenbild allegorisiert werden.
Auch ein schöner Kuss, gemalt vom großen Münchner Gesamtkunstwerker Franz von Stuck: Der Kuss der Sphinx. Was hat dieses Gemälde mit dem Thema zu tun? Ganz einfach: eine grundsympathische, durchaus nicht sphinxenhafte Nachfahrin des Malers hat gerade die Passepartouts im neuen Bayreuther Jean-Paul-Museum zugeschnitten, das übermorgen, am 250. Geburtstag des Dichters, wiedereröffnet wird.
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[1] Schon deshalb, weil er von einem Mann ermordet wurde, der aus Jean Pauls Geburtsstadt kam.
[2] So nannte Jean Paul eine seit den 90er Jahren erstellte Sammlung von Aufzeichnungen. Eine dieser Originalhandschriften wird im allerdemnächst wieder zu besichtigenden, neugestalteten Bayreuther Jean-Paul-Museum zu lesen sein (wenn man denn des Aufzeichners Sauklaue entziffern kann).