Das Irrenhaus als Ort der Freiheit und Bohème? Oskar Panizza und Franziska zu Reventlow
Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.
Heinz-Peter Schmiedebach war Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (2003-2017) und des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Greifswald (1993-2003). 2015 erhielt er einen Ruf auf die bundesweit erste Professur für Medical Humanities an der Charité Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zur Psychiatriegeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert veröffentlicht. Dieser Text basiert auf seiner Monographie Psychiatrische Ordnung in Gefahr – „Irrenanstalten“ um 1900 im Blick von Öffentlichkeit und Literatur, die im Oktober 2021 erscheinen wird. Weitere Informationen können Sie hier finden.
*
Das Irrenhaus als Sujet der Literatur kann recht unterschiedliche Gestalt annehmen. Oskar Panizzas Gedicht Das Rothe Haus (1886) und Franziska zu Reventlows Briefroman Der Geldkomplex (1916) sind zwei Beispiele, die sich in Genre und Inhalt sehr voneinander unterscheiden, aber insofern eine Gemeinsamkeit aufweisen, als das Irrenhaus mit überraschenden Zuweisungen versehen ist: Es wird keineswegs als eindeutiger Ort der Absonderung oder als eine totale Institution des „lebendig Begrabenseins“ gezeichnet, sondern weist in einem Fall Projektionen ambivalenter Art und im anderen Formen selbstermächtigenden Agierens in der Anstalt auf.
Oskar Panizzas Das Rothe Haus – Ideenrausch und Gehirnschnitte
Der Psychiater und Literat Oskar Panizza suchte in seinem bewegten Leben, das wegen seiner Satiren und religiösen Kritik von Verfolgung und Flucht geprägt war, schließlich selbst in einer Irrenanstalt Zuflucht. In verschiedenen Publikationen allerdings formulierte er eine Kritik an den Ansätzen der zeitgenössischen Psychiatrie, die gegen die reduzierende und normierende Praxis wie auch die wissenschaftliche Forschung am Gehirn gerichtet war. Nach nur zwei Jahren Tätigkeit kehrte er der Psychiatrie den Rücken und wandte sich der Schriftstellerei zu.
Cover der Erstausgabe von Oskar Panizzas Düstre Lieder im Verlag von Albert Unflad
Sein Gedicht Das rothe Haus erschien in dem Band Düstre Lieder. Er erzählt von einer fiktiven nächtlichen Annäherung an eine Irrenanstalt aus der Außenperspektive, also weder als Irrenarzt noch als Patient. Die Anstalt offeriert verlockende Möglichkeiten und Freiheiten, zeigt aber auch abstoßende Konsequenzen. Um Mitternacht, zur Geisterstunde, trifft der Erzähler beim Nachhauseweg auf das flammend rote Gebäude mit „sonderbaren Tröpfen“ und „geistesverwirrten Köpfen“, von dem eine Anziehung ausgeht, wie von einer verbotenen Frucht. Als er an die in der Anstalt schlafenden „tiefgekränkten Herzen“ denkt, kommen ihm die eigenen Qualen, „das böse Gezänk in der eigenen Brust“, zu Bewusstsein und lassen ihn bitterlich weinen. In dieser Stimmung einer gefühlsgleichen Annährung an die Insassen durch eine bestehende eigene innere Zerrissenheit naht der Direktor, behängt mit einem Orden, und fängt an, den vor dem Haus Stehenden als Gast einzuladen:
„Eine geist‘ge Freistatt suchen Sie hier / Für Ihre Ideen und Sparren, / Die sollen Sie haben, ‒ … Gelegenheit zum Denken ist hier, / Zum trüben und heitern; / Die Hirne schiessen hier in’s Kraut, / Die Köpfe sich erweitern“. Und nicht nur der Direktor, auch die anderen Insassen versuchen zu locken: „Komm doch zu uns herein und schau, / Wir liegen in herrlichen Betten, / Wir wandeln auf Parquet, und kaum, / Höchst selten findest Du Ketten. …./ Hier bist Du völlig gedankenfrei, / Wir werden Dich schützen und schirmen.“ Die Verhältnisse draußen werden dabei als besonders bedrückend beschrieben: „Die armen Menschen da draußen bei Euch / Unter Zwang und Gesetzesverhängniss / Sind übel dran, sie dauern uns sehr, / Sie leben in lauter Bedrängniss.“ Panizza verweist auf die Möglichkeit, in der Anstalt gewisse Freiheiten zu erleben und der Welt mit ihrem Zwang zu entfliehen. Hier wird die Anstalt als ein antibürgerlicher Ort mit einem von jeglichen Restriktionen freien Gedankenleben zelebriert. Aber schon in den nächsten Strophen kommt der Preis zur Sprache. „Du lebst wie ein Fürst hier, in Saus und Braus, / Wein giebt es täglich zu schöpfen,/ Die besten Gerichte speist Du dazu, ‒ / Wir wollen Dich dann köpfen./ Entflieh der Welt und ihrem Zwang, / Dem geistigen Chikaniren, / Hier bade Dich im Ideenrausch,‒ / Wir wollen Dich dann seciren.“
Die Anstalt, in der man im Ideenrausch baden kann, erhebt sich nur kurz zu einem positiven Projektionsort, denn es muss dafür ein Preis gezahlt werden: Der Kopf und das Gehirn desjenigen, der diese Freiheiten ausgelebt hat, sind zum Sezieren abzugeben. Dies ist das Bedrohliche: Die irgendwann anstehende Enteignung des Gehirns und seine Verwertung durch die Forschung, das Sezieren und Anlegen von Sammlungen, die systematisch betriebene und durch unzählige Mikroskopschnitte immer wieder evident gemachte, auf zerstörerischer Gewalt beruhende Materialisierung des Geistigen und der Seele. Vor diesem Hintergrund erinnern all diese Lockungen letztlich an ein Märchen und im Bewusstsein des Märchenhaften kommt die Selbstreflexion zum Tragen: „Doch dacht‘ ich mir, noch bist Du gesund, / Die wollen Dich nur betrügen,‒ / Und lässt das Haus links liegen! / Noch hast Du unendlich lieb die Welt / Mit all‘ ihren Schmerzen und Jammer, / Und lieber verbluten, als leben hier / In dieser rothen Kammer!“[1]
Die alltägliche Forschungspraxis der „Irrenanstalten“ ist für Panizza bedrohlicher als die eigentliche Internierung an einem zwar abgeschlossenen, aber nicht gleich jedem eigensinnigen und ungewöhnlichen Gedanken mit Normierungszwang begegnenden Ort. Panizza gestaltet die Anstalt jedoch in doppelter Weise: als einen Ort der Freiheit, also der Nicht-Ordnung, aber auch als einen Ort der brutalen Materialisierung des Andersartigen und Eigensinnigen, als Ort der psychiatrisch-wissenschaftlichen Ordnung. Da beide Orte in ihrer Gegensätzlichkeit aber nicht vereinbar sind, verliert die Anstalt letztlich ihren verlockenden Reiz. Es kommt gar nicht erst zu einem Aufenthalt des Erzählers.
Franziska zu Reventlows Der Geldkomplex – Psychoanalyse und Bohème in der Anstalt
In dem Roman Der Geldkomplex schildert Franziska zu Reventlow auf spöttisch-ironische Weise aus der Sicht einer fiktiven Patientin in Briefen an eine Freundin das Treiben einer sich in der Anstalt zusammenfindenden Gruppe von Patientinnen und Patienten. Reventlow, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Münchener Bohème die zentrale Frauengestalt war, immer unter Geldschwierigkeiten litt und dies auch durch ihr literarisches Schaffen zu bewältigen versuchte, hatte um 1900 verschiedene Kontakte zu Panizza. Sie schrieb für die von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Zürcher Diskußjionen“ mehrere Aufsätze; er selbst bezeichnete sie in einem Beitrag als „Schleswig-Holstein’sche Venus“.
Cover der Neuauflage von Franziska Gräfin zu Reventlows Der Geldkomplex im Launenweber-Verlag
Die „Irrenhaus“-Clique in ihrem Roman stellt die Ordnung der Anstalt auf verschiedenste Weise immer wieder in Frage. So feiert sie z.B. mit den städtischen Schauspielerinnen und Schauspielern in der Anstalt wilde Feste, was den Professor zur Feststellung bringt, „es ginge einfach nicht, daß man ihm das Sanatorium so auf den Kopf stellt. Wir wären alle keine richtigen Patienten.“[2] Dieses freie, enthemmte und eigenwillige Treiben, angelehnt an die Lebensweise der Bohème, entspricht in vieler Hinsicht der überlieferten Lebensgestaltung der Autorin selbst. Viele autobiographische Versatzstücke tauchen in Verfremdung im Buch auf. Der Geldknappheit kommt im Roman die zentrale Bedeutung zu; schon der Titel bringt die damit verbundene Problematik in zweifacher Weise zum Ausdruck, wie die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder schreibt: „Zum einen im Sinne einer durchschlagenden Komplexität, mit der Geld sämtliche Lebensbereiche durchdringt, zum anderen im Sinne eines psychoanalytisch wirksamen Komplexes, der das vielschichtige Verhältnis eines Subjektes zum Geld und zum gestörten Umgang mit ihm bezeichnet.“[3] In dieser Situation des Geldmangels und der Gläubigerforderungen trifft die Erzählerin einen flüchtig bekannten Psychoanalytiker, der sich ihr annimmt. Er stellt einige Fragen, „sah mich enthusiastisch an und stellte fest: ich litte an einem schweren Geldkomplex, und den könne man nur durch psycho-analytische Behandlung heilen.“ (S. 13) Sie solle sich in die Anstalt eines väterlichen Freundes begeben. Er selbst werde die Ferien dort verbringen und sie behandeln. Dem Leiter der Anstalt solle sie „um Gottes willen nichts von der geplanten Behandlung sagen, denn er sei ein erbitterter Gegner alles Freudianertums“. Sie könne sich ja „auf irgendeine fixe Idee hinausreden und ein wenig simulieren“. (S. 14) Vorspiegelungen und Täuschungen gegenüber dem Direktor der Anstalt, aber auch gegenüber anderen Insassen, bestimmen das Geschehen.
Es ist vor allem das nicht vorhandene, aber erwartete Geld aus einer Erbschaft, dessen Eintreffen die Protagonistin sehnsüchtig erhofft. Der Erblasser ist zwar erkrankt, aber noch nicht verstorben, sodass die Erzählerin das Erbe auch noch nicht erhalten hat. Doch macht erst dieses erwartete Geld den längeren Aufenthalt in der Anstalt möglich: Der Anstaltsdirektor steht häufiger vor der Frage, die Patientin rauszuwerfen und auf die Bezahlung ganz zu verzichten, oder sie weiter in der Anstalt zu dulden, in der Hoffnung, durch das irgendwann eintreffende Geld sein Honorar zu erhalten. Das Spekulieren auf den zukünftigen Geldfluss bindet die Beteiligten zusammen. Diese Bande ermöglichen das Entstehen des nicht von vornherein zeitlich begrenzten Raumes in der Anstalt, in dem sich das alle Ordnung ignorierende Verhalten der kleinen Gruppe entfalten kann.
Die dem Kapitalismus gegebenen Möglichkeiten, verschiedene Strategien im Umgang mit dem nicht real vorhandenen, aber in Aussicht gestellten Geld zu entwickeln, ermüden oder machen verrückt. Die psychiatrische Ordnung in der Anstalt wird einerseits unterlaufen, bietet anderseits aber auch einen Raum für Erholung, wenn die diversen Aktivitäten zu deutlichen Erschöpfungszuständen führen. Die Erzählung ironisiert vorschnelle Psychopathologisierungen, egal ob sie seitens der Psychoanalyse oder der Psychiatrie vorgenommen werden. Die Psychoanalyse, maßgeblich von Sigmund Freud um 1890 begründet, erzeugte als Methode der Selbsterfahrung, als psychologische Theorie und psychotherapeutische Behandlungsform besonders in Künstlerkreisen starke Resonanzen. Das Verhältnis von künstlerischer Kreativität und psychischen Ausnahmesituationen wurde dabei in vielen Varianten thematisiert. Für alle Personen, die zur „Irrenhaus“-Clique gehören, sind aber weder die klinisch-therapeutischen Maßnahmen der Anstaltspsychiatrie (Man behandelt „nach den hier üblichen Methoden mit Tageseinteilung, Ruhestunden, Bädern, Wickel und dergleichen mittelalterlichen Foltern“ [S. 20].) noch die psychoanalytischen Interventionen, rund ein Viertel Jahrhundert nach ihrer Begründung, von Erfolg gekrönt („Man analysiert die Psyche, wie wir einst in der Schule deutsche Grammatik analysierten, ohne jemals zu begreifen, wozu das gut sei“ [S. 56].) Man lebt also in der Anstalt in gewisser Hinsicht am falschen Ort, wenngleich das dortige Leben die Voraussetzung für die Entfaltung der Geschichte in ihrer besonderen Färbung bietet und überhaupt erst das Paradox der Freiheit in der Anstalt in seiner eigenwilligen Gestaltung freigeben kann. Diese Paradoxie wird in vielen unterschiedlichen Anekdoten thematisiert. Die Existenz der Bohème im Irrenhaus mit all ihren Enttabuisierungen und Grenzüberschreitungen ist dabei sowohl spöttische Bestätigung des Ortes und seiner Zweckbestimmung als auch kritisch-naive Infragestellung der Sinnhaftigkeit einer solchen Institution. Eine produktive Beziehung dieser bohèmehaften Verrücktheiten zur psychiatrischen Ordnung wie auch zur Psychoanalyse wird aber als nicht erstrebenswert erachtet.
Panizza und Reventlow – Freiheitsprojektionen und Grenzüberschreitungen
Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen beide Beispiele die Gestaltung der Irrenanstalt als eine Einrichtung, in die Orte und Konzepte unterschiedlichen und gegensätzlichen Charakters projiziert werden. Fragen des Wahnsinns, psychiatrische und psychoanalytische Themen hatten um die Jahrhundertwende Konjunktur. Auch Panizza und Reventlow zeigen sich an der psychischen Andersartigkeit und dem professionellen und gesellschaftlichen Umgang damit interessiert. Die „Irrenanstalt“ als institutionelle Verkörperung der Antwort von Gesellschaft und Psychiatrie auf die psychische Alterität provoziert aber zu unterschiedlichen eigensinnigen Gestaltungen. Reventlow erzählt von der „Irrenhaus“-Clique und zahlreichen Grenzüberschreitungen und präsentiert das Narrativ einer kollektiven Subjektivierungsstrategie mit eigensinnigen Ermächtigungen. Panizza projiziert dagegen Vorstellungen von eigensinnigen Möglichkeiten des Auslebens von Freiheiten auf die Anstalt, die er aber nicht weiter lyrisch ausgestaltet, sondern in Anbetracht der Widersprüchlichkeit zu der Gewalt der psychiatrischen Hirnschnittforschung, als märchenhaft einordnet. Diese Gegensätzlichkeit ist dabei von solcher Kraft, dass eine eigene Aufnahme in die Anstalt trotz alle Freiheitsprojektionen in dem Gedicht nicht erzählt wird. Bei Reventlow kommt die Anstalt nur als vorübergehender Aufenthaltsort infrage, initiiert durch die Psychoanalyse, die dort als Trojaner zur Anwendung kommen sollte. Doch überwiegt in ihrem Roman die ironisch spöttische Dekonstruktion von Anstaltspsychiatrie und Psychoanalyse.
[1] Panizza, Oskar: Das Rothe Haus, in: Panizza, Oskar: Düstre Lieder, Leipzig 1886, S. 10-23.
[2] Reventlow, Franziska Gräfin zu: Der Geldkomplex, München 1916, S. 85.
[3] Vedder, Ulrike: Der Geldkomplex (Franziska zu Reventlow), in: Holl, Ute; Pias, Claus; Wolf, Burkhardt (Hgg.): Gespenster des Wissens, Zürich Berlin 2017, S. 379.
Das Irrenhaus als Ort der Freiheit und Bohème? Oskar Panizza und Franziska zu Reventlow>
Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.
Heinz-Peter Schmiedebach war Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (2003-2017) und des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Greifswald (1993-2003). 2015 erhielt er einen Ruf auf die bundesweit erste Professur für Medical Humanities an der Charité Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zur Psychiatriegeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert veröffentlicht. Dieser Text basiert auf seiner Monographie Psychiatrische Ordnung in Gefahr – „Irrenanstalten“ um 1900 im Blick von Öffentlichkeit und Literatur, die im Oktober 2021 erscheinen wird. Weitere Informationen können Sie hier finden.
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Das Irrenhaus als Sujet der Literatur kann recht unterschiedliche Gestalt annehmen. Oskar Panizzas Gedicht Das Rothe Haus (1886) und Franziska zu Reventlows Briefroman Der Geldkomplex (1916) sind zwei Beispiele, die sich in Genre und Inhalt sehr voneinander unterscheiden, aber insofern eine Gemeinsamkeit aufweisen, als das Irrenhaus mit überraschenden Zuweisungen versehen ist: Es wird keineswegs als eindeutiger Ort der Absonderung oder als eine totale Institution des „lebendig Begrabenseins“ gezeichnet, sondern weist in einem Fall Projektionen ambivalenter Art und im anderen Formen selbstermächtigenden Agierens in der Anstalt auf.
Oskar Panizzas Das Rothe Haus – Ideenrausch und Gehirnschnitte
Der Psychiater und Literat Oskar Panizza suchte in seinem bewegten Leben, das wegen seiner Satiren und religiösen Kritik von Verfolgung und Flucht geprägt war, schließlich selbst in einer Irrenanstalt Zuflucht. In verschiedenen Publikationen allerdings formulierte er eine Kritik an den Ansätzen der zeitgenössischen Psychiatrie, die gegen die reduzierende und normierende Praxis wie auch die wissenschaftliche Forschung am Gehirn gerichtet war. Nach nur zwei Jahren Tätigkeit kehrte er der Psychiatrie den Rücken und wandte sich der Schriftstellerei zu.
Cover der Erstausgabe von Oskar Panizzas Düstre Lieder im Verlag von Albert Unflad
Sein Gedicht Das rothe Haus erschien in dem Band Düstre Lieder. Er erzählt von einer fiktiven nächtlichen Annäherung an eine Irrenanstalt aus der Außenperspektive, also weder als Irrenarzt noch als Patient. Die Anstalt offeriert verlockende Möglichkeiten und Freiheiten, zeigt aber auch abstoßende Konsequenzen. Um Mitternacht, zur Geisterstunde, trifft der Erzähler beim Nachhauseweg auf das flammend rote Gebäude mit „sonderbaren Tröpfen“ und „geistesverwirrten Köpfen“, von dem eine Anziehung ausgeht, wie von einer verbotenen Frucht. Als er an die in der Anstalt schlafenden „tiefgekränkten Herzen“ denkt, kommen ihm die eigenen Qualen, „das böse Gezänk in der eigenen Brust“, zu Bewusstsein und lassen ihn bitterlich weinen. In dieser Stimmung einer gefühlsgleichen Annährung an die Insassen durch eine bestehende eigene innere Zerrissenheit naht der Direktor, behängt mit einem Orden, und fängt an, den vor dem Haus Stehenden als Gast einzuladen:
„Eine geist‘ge Freistatt suchen Sie hier / Für Ihre Ideen und Sparren, / Die sollen Sie haben, ‒ … Gelegenheit zum Denken ist hier, / Zum trüben und heitern; / Die Hirne schiessen hier in’s Kraut, / Die Köpfe sich erweitern“. Und nicht nur der Direktor, auch die anderen Insassen versuchen zu locken: „Komm doch zu uns herein und schau, / Wir liegen in herrlichen Betten, / Wir wandeln auf Parquet, und kaum, / Höchst selten findest Du Ketten. …./ Hier bist Du völlig gedankenfrei, / Wir werden Dich schützen und schirmen.“ Die Verhältnisse draußen werden dabei als besonders bedrückend beschrieben: „Die armen Menschen da draußen bei Euch / Unter Zwang und Gesetzesverhängniss / Sind übel dran, sie dauern uns sehr, / Sie leben in lauter Bedrängniss.“ Panizza verweist auf die Möglichkeit, in der Anstalt gewisse Freiheiten zu erleben und der Welt mit ihrem Zwang zu entfliehen. Hier wird die Anstalt als ein antibürgerlicher Ort mit einem von jeglichen Restriktionen freien Gedankenleben zelebriert. Aber schon in den nächsten Strophen kommt der Preis zur Sprache. „Du lebst wie ein Fürst hier, in Saus und Braus, / Wein giebt es täglich zu schöpfen,/ Die besten Gerichte speist Du dazu, ‒ / Wir wollen Dich dann köpfen./ Entflieh der Welt und ihrem Zwang, / Dem geistigen Chikaniren, / Hier bade Dich im Ideenrausch,‒ / Wir wollen Dich dann seciren.“
Die Anstalt, in der man im Ideenrausch baden kann, erhebt sich nur kurz zu einem positiven Projektionsort, denn es muss dafür ein Preis gezahlt werden: Der Kopf und das Gehirn desjenigen, der diese Freiheiten ausgelebt hat, sind zum Sezieren abzugeben. Dies ist das Bedrohliche: Die irgendwann anstehende Enteignung des Gehirns und seine Verwertung durch die Forschung, das Sezieren und Anlegen von Sammlungen, die systematisch betriebene und durch unzählige Mikroskopschnitte immer wieder evident gemachte, auf zerstörerischer Gewalt beruhende Materialisierung des Geistigen und der Seele. Vor diesem Hintergrund erinnern all diese Lockungen letztlich an ein Märchen und im Bewusstsein des Märchenhaften kommt die Selbstreflexion zum Tragen: „Doch dacht‘ ich mir, noch bist Du gesund, / Die wollen Dich nur betrügen,‒ / Und lässt das Haus links liegen! / Noch hast Du unendlich lieb die Welt / Mit all‘ ihren Schmerzen und Jammer, / Und lieber verbluten, als leben hier / In dieser rothen Kammer!“[1]
Die alltägliche Forschungspraxis der „Irrenanstalten“ ist für Panizza bedrohlicher als die eigentliche Internierung an einem zwar abgeschlossenen, aber nicht gleich jedem eigensinnigen und ungewöhnlichen Gedanken mit Normierungszwang begegnenden Ort. Panizza gestaltet die Anstalt jedoch in doppelter Weise: als einen Ort der Freiheit, also der Nicht-Ordnung, aber auch als einen Ort der brutalen Materialisierung des Andersartigen und Eigensinnigen, als Ort der psychiatrisch-wissenschaftlichen Ordnung. Da beide Orte in ihrer Gegensätzlichkeit aber nicht vereinbar sind, verliert die Anstalt letztlich ihren verlockenden Reiz. Es kommt gar nicht erst zu einem Aufenthalt des Erzählers.
Franziska zu Reventlows Der Geldkomplex – Psychoanalyse und Bohème in der Anstalt
In dem Roman Der Geldkomplex schildert Franziska zu Reventlow auf spöttisch-ironische Weise aus der Sicht einer fiktiven Patientin in Briefen an eine Freundin das Treiben einer sich in der Anstalt zusammenfindenden Gruppe von Patientinnen und Patienten. Reventlow, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Münchener Bohème die zentrale Frauengestalt war, immer unter Geldschwierigkeiten litt und dies auch durch ihr literarisches Schaffen zu bewältigen versuchte, hatte um 1900 verschiedene Kontakte zu Panizza. Sie schrieb für die von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Zürcher Diskußjionen“ mehrere Aufsätze; er selbst bezeichnete sie in einem Beitrag als „Schleswig-Holstein’sche Venus“.
Cover der Neuauflage von Franziska Gräfin zu Reventlows Der Geldkomplex im Launenweber-Verlag
Die „Irrenhaus“-Clique in ihrem Roman stellt die Ordnung der Anstalt auf verschiedenste Weise immer wieder in Frage. So feiert sie z.B. mit den städtischen Schauspielerinnen und Schauspielern in der Anstalt wilde Feste, was den Professor zur Feststellung bringt, „es ginge einfach nicht, daß man ihm das Sanatorium so auf den Kopf stellt. Wir wären alle keine richtigen Patienten.“[2] Dieses freie, enthemmte und eigenwillige Treiben, angelehnt an die Lebensweise der Bohème, entspricht in vieler Hinsicht der überlieferten Lebensgestaltung der Autorin selbst. Viele autobiographische Versatzstücke tauchen in Verfremdung im Buch auf. Der Geldknappheit kommt im Roman die zentrale Bedeutung zu; schon der Titel bringt die damit verbundene Problematik in zweifacher Weise zum Ausdruck, wie die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder schreibt: „Zum einen im Sinne einer durchschlagenden Komplexität, mit der Geld sämtliche Lebensbereiche durchdringt, zum anderen im Sinne eines psychoanalytisch wirksamen Komplexes, der das vielschichtige Verhältnis eines Subjektes zum Geld und zum gestörten Umgang mit ihm bezeichnet.“[3] In dieser Situation des Geldmangels und der Gläubigerforderungen trifft die Erzählerin einen flüchtig bekannten Psychoanalytiker, der sich ihr annimmt. Er stellt einige Fragen, „sah mich enthusiastisch an und stellte fest: ich litte an einem schweren Geldkomplex, und den könne man nur durch psycho-analytische Behandlung heilen.“ (S. 13) Sie solle sich in die Anstalt eines väterlichen Freundes begeben. Er selbst werde die Ferien dort verbringen und sie behandeln. Dem Leiter der Anstalt solle sie „um Gottes willen nichts von der geplanten Behandlung sagen, denn er sei ein erbitterter Gegner alles Freudianertums“. Sie könne sich ja „auf irgendeine fixe Idee hinausreden und ein wenig simulieren“. (S. 14) Vorspiegelungen und Täuschungen gegenüber dem Direktor der Anstalt, aber auch gegenüber anderen Insassen, bestimmen das Geschehen.
Es ist vor allem das nicht vorhandene, aber erwartete Geld aus einer Erbschaft, dessen Eintreffen die Protagonistin sehnsüchtig erhofft. Der Erblasser ist zwar erkrankt, aber noch nicht verstorben, sodass die Erzählerin das Erbe auch noch nicht erhalten hat. Doch macht erst dieses erwartete Geld den längeren Aufenthalt in der Anstalt möglich: Der Anstaltsdirektor steht häufiger vor der Frage, die Patientin rauszuwerfen und auf die Bezahlung ganz zu verzichten, oder sie weiter in der Anstalt zu dulden, in der Hoffnung, durch das irgendwann eintreffende Geld sein Honorar zu erhalten. Das Spekulieren auf den zukünftigen Geldfluss bindet die Beteiligten zusammen. Diese Bande ermöglichen das Entstehen des nicht von vornherein zeitlich begrenzten Raumes in der Anstalt, in dem sich das alle Ordnung ignorierende Verhalten der kleinen Gruppe entfalten kann.
Die dem Kapitalismus gegebenen Möglichkeiten, verschiedene Strategien im Umgang mit dem nicht real vorhandenen, aber in Aussicht gestellten Geld zu entwickeln, ermüden oder machen verrückt. Die psychiatrische Ordnung in der Anstalt wird einerseits unterlaufen, bietet anderseits aber auch einen Raum für Erholung, wenn die diversen Aktivitäten zu deutlichen Erschöpfungszuständen führen. Die Erzählung ironisiert vorschnelle Psychopathologisierungen, egal ob sie seitens der Psychoanalyse oder der Psychiatrie vorgenommen werden. Die Psychoanalyse, maßgeblich von Sigmund Freud um 1890 begründet, erzeugte als Methode der Selbsterfahrung, als psychologische Theorie und psychotherapeutische Behandlungsform besonders in Künstlerkreisen starke Resonanzen. Das Verhältnis von künstlerischer Kreativität und psychischen Ausnahmesituationen wurde dabei in vielen Varianten thematisiert. Für alle Personen, die zur „Irrenhaus“-Clique gehören, sind aber weder die klinisch-therapeutischen Maßnahmen der Anstaltspsychiatrie (Man behandelt „nach den hier üblichen Methoden mit Tageseinteilung, Ruhestunden, Bädern, Wickel und dergleichen mittelalterlichen Foltern“ [S. 20].) noch die psychoanalytischen Interventionen, rund ein Viertel Jahrhundert nach ihrer Begründung, von Erfolg gekrönt („Man analysiert die Psyche, wie wir einst in der Schule deutsche Grammatik analysierten, ohne jemals zu begreifen, wozu das gut sei“ [S. 56].) Man lebt also in der Anstalt in gewisser Hinsicht am falschen Ort, wenngleich das dortige Leben die Voraussetzung für die Entfaltung der Geschichte in ihrer besonderen Färbung bietet und überhaupt erst das Paradox der Freiheit in der Anstalt in seiner eigenwilligen Gestaltung freigeben kann. Diese Paradoxie wird in vielen unterschiedlichen Anekdoten thematisiert. Die Existenz der Bohème im Irrenhaus mit all ihren Enttabuisierungen und Grenzüberschreitungen ist dabei sowohl spöttische Bestätigung des Ortes und seiner Zweckbestimmung als auch kritisch-naive Infragestellung der Sinnhaftigkeit einer solchen Institution. Eine produktive Beziehung dieser bohèmehaften Verrücktheiten zur psychiatrischen Ordnung wie auch zur Psychoanalyse wird aber als nicht erstrebenswert erachtet.
Panizza und Reventlow – Freiheitsprojektionen und Grenzüberschreitungen
Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen beide Beispiele die Gestaltung der Irrenanstalt als eine Einrichtung, in die Orte und Konzepte unterschiedlichen und gegensätzlichen Charakters projiziert werden. Fragen des Wahnsinns, psychiatrische und psychoanalytische Themen hatten um die Jahrhundertwende Konjunktur. Auch Panizza und Reventlow zeigen sich an der psychischen Andersartigkeit und dem professionellen und gesellschaftlichen Umgang damit interessiert. Die „Irrenanstalt“ als institutionelle Verkörperung der Antwort von Gesellschaft und Psychiatrie auf die psychische Alterität provoziert aber zu unterschiedlichen eigensinnigen Gestaltungen. Reventlow erzählt von der „Irrenhaus“-Clique und zahlreichen Grenzüberschreitungen und präsentiert das Narrativ einer kollektiven Subjektivierungsstrategie mit eigensinnigen Ermächtigungen. Panizza projiziert dagegen Vorstellungen von eigensinnigen Möglichkeiten des Auslebens von Freiheiten auf die Anstalt, die er aber nicht weiter lyrisch ausgestaltet, sondern in Anbetracht der Widersprüchlichkeit zu der Gewalt der psychiatrischen Hirnschnittforschung, als märchenhaft einordnet. Diese Gegensätzlichkeit ist dabei von solcher Kraft, dass eine eigene Aufnahme in die Anstalt trotz alle Freiheitsprojektionen in dem Gedicht nicht erzählt wird. Bei Reventlow kommt die Anstalt nur als vorübergehender Aufenthaltsort infrage, initiiert durch die Psychoanalyse, die dort als Trojaner zur Anwendung kommen sollte. Doch überwiegt in ihrem Roman die ironisch spöttische Dekonstruktion von Anstaltspsychiatrie und Psychoanalyse.
[1] Panizza, Oskar: Das Rothe Haus, in: Panizza, Oskar: Düstre Lieder, Leipzig 1886, S. 10-23.
[2] Reventlow, Franziska Gräfin zu: Der Geldkomplex, München 1916, S. 85.
[3] Vedder, Ulrike: Der Geldkomplex (Franziska zu Reventlow), in: Holl, Ute; Pias, Claus; Wolf, Burkhardt (Hgg.): Gespenster des Wissens, Zürich Berlin 2017, S. 379.