Kultur trotz Corona: „Hotel Artiste“. Von Gerda Stauner
Gerda Stauner (* 1973 in Seubersdorf) lebt seit 1999 in Regensburg, ist verheiratet und hat einen Sohn. Nach dem Abitur studierte sie in Rosenheim Betriebswirtschaft. Zeitgleich mit ihrem Umzug nach Regensburg eröffnete sie das Themenhotel „Künstlerhaus“. Ihr erster Roman Grasmond erschien 2016 im SüdOst Verlag. Darin setzt sich die Autorin mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Menschen in der Oberpfalz auseinander. Ihre Texte beschäftigen sich mit den Themen Heimat, Identität und Vertreibung und lassen die jüngere Vergangenheit der Oberpfalz bildhaft wieder aufleben. Die Figuren für ihren zweiten Roman Sauforst – Vom Suchen und Finden der Heimat entstanden in Anlehnung an ihren eigenen Familienstammbaum. Wolfsgrund – Eine Spurensuche erschien im März 2019 und bildet den Abschluss der Trilogie um die Familie Beerbauer. Gerda Stauner ist erfolgreich mit unterschiedlichen Leseformaten an Schulen, Bibliotheken und bei Kulturveranstaltungen unterwegs. Sie gibt ihr Wissen in Schreibkursen weiter und engagiert sich in der Lese- und Schreibförderung für Jugendliche. 2018 vergab die Stadt Regensburg an sie den Kulturförderpreis für ihr literarisches Schaffen und ihr kulturelles Engagement.
Mit dem folgenden Auszug aus ihrem noch unveröffentlichten Roman Hotel Artiste beteiligt sich Gerda Stauner an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Hotel Artiste
(Roman)
Für Marille haben Menschen wie Dinge gleichermaßen eine Seele. Eher zufällig wird sie zur Hotelbesitzerin. Gibran ist illegal aus dem Iran nach Deutschland gekommen, um seine Familie wirtschaftlich zu unterstützen. Den anderen Grund für seine Flucht kennt nur seine Schwester. Astrid arbeitet in einem Reisebüro, kommt aber selbst nie über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus. Die drei treffen zufällig an einem Frühlingswochenende im April 1999 in Marilles kleinem Hotel Artiste aufeinander. Wie in einem Reagenzglas vermengen sich ihre Sehnsüchte, Wünsche und Zukunftspläne zu einem explosiven Gemisch, das sich am Sonntagabend bei einer rassistischen Auseinandersetzung mit Brachialgewalt entlädt. Gerda Stauners Roman erzählt von Tätern und Opfern und zeigt, wie sie dazu werden. Die Schriftstellerin führte zwischen 1999 und 2007 ein kleines Hotel in Regensburg. Dort übernachteten unter anderem Künstler, Musiker und Kabarettisten. In einer Ausgabe des Reiseführers Lonley Planet wurde das Hotel als Geheimtipp erwähnt.
Prolog
Plötzlich war es ganz still geworden. Er nahm nur noch wahr, wie sich seine Lider öffneten und schlossen, wie sich seine Brust hob und senkte, wie mit jedem Herzschlag alles leichter wurde. Zuerst verstand er nicht, was soeben geschehen war, und wieso er auf dem harten, kalten Asphalt lag, den Kopf in Marilles Schoß gebettet. Er konnte die kleinen Steine spüren, die sich durch das dünne T-Shirt in seinen Rücken bohrten, und fühlte die rissige Oberfläche des geteerten Platzes unter seinen Händen. Trotzdem war es nicht unbehaglich. Marilles Gesicht schwebte über ihm und ihre Lippen bewegten sich, doch ihre Worte drangen nicht zu ihm. Tränen liefen über ihre Wangen und obwohl es ihr schwerzufallen schien, hielt sie den Blickkontakt zu ihm und er nahm dabei die Wärme ihrer dunklen Augen in sich auf. Ewig hätte er hier so liegen können. Nichts drängte ihn mehr, nichts zerrte mehr an ihm.
Dann kam die Erinnerung zurück, die Bilder der brennenden Flaschen tauchten vor seinem inneren Auge auf, er hörte wieder die lauten Rufe und einen Moment lang überfiel ihn die Angst, die sie alle im Hotel gelähmt hatte. Wie lange war das her? Minuten, Stunden oder war es in einem anderen Leben gewesen? Er konnte es nicht sagen. Es schien ihm, als ob dies alles auf einem weit entfernten Planeten stattgefunden hätte. In einer Welt, zu der er nun keinen Zugang mehr hatte und die ihn nicht mehr interessierte. Nun schien sich alles nur noch auf ihn zu konzentrieren, er war der Mittelpunkt seines eigenen Universums geworden. Nichts anderes zählte mehr. Nicht die Menschen, die zuerst fassungslos herumgestanden hatten und nun panisch versuchten, mit ihren Handys Hilfe anzufordern. Auch nicht die Randalierer, die angsterfüllt geflohen waren und von denen man nicht wusste, ob sie für ihre Tat jemals bestraft werden würden. Und ganz langsam begann auch der große Platz nicht mehr zu zählen, auf dem er sich befand und der für ihn einmal so etwas wie Heimat gewesen war. Zuallerletzt, als ihm das Atmen immer schwerer fiel und es ihn alle Kraft kostete, seine Lider noch einmal zu öffnen, löste sich auch die Verbindung zu Marille Stück für Stück auf. Sie schien dies zu spüren, ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern. Sie blickte ihm weiterhin tief in die Augen, drückte fest seine Hand und gab ihm zu verstehen, dass sie an seiner Seite bliebe, egal was kommen würde. Einen winzigen Moment lang imponierte ihm ihre Willensstärke und ihr standhaftes Auflehnen gegen das Unvermeidliche, und er war versucht ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung wäre und sie loslassen könne. Doch der Augenblick verstrich und er konzentrierte sich nur noch auf das, was vor ihm lag.
Freitag, 16. April 1999
Die Außenfassade des kleinsten Hotels der Stadt ließ sich mit zwei Schritten abmessen. Sie bot gerade Platz genug für ein Schaufenster, hinter dem sich die Rezeption befand, und die Eingangstür. Gäste, die das Haus zum ersten Mal betraten, brauchten meist einen Moment, um zu begreifen, dass sich der Raum im Inneren öffnete und deutlich mehr Platz vorhanden war, als der erste Eindruck vermuten ließ. Das Gebäude aus dem späten Mittelalter hatte sich dem Vernehmen nach ein Kaufmann in eine schmale Lücke bauen lassen, um damit die Bürgerrechte der Stadt zu erwerben. Für ein größeres Haus fehlte ihm das Geld. Um dennoch etwas mehr Platz zu schaffen, erweiterte er die Baufläche um die Hälfte des Innenhofs, der von den drei angrenzenden Nachbarhäusern gebildet wurde. Die Besitzer dieser Gebäude belohnte er für ihr stillschweigendes Einverständnis mit einem angemessenen Bestechungsgeld. Vor gar nicht allzu langer Zeit flog der jahrhundertealte Schwindel bei Vermessungsarbeiten für die Kanalsanierung auf. Das Kartierungsamt änderte notgedrungen die Besitzverhältnisse des bebauten Innenhofs und schrieb sie dem Hotel zu, konnte die Grundsteuer jedoch nicht rückwirkend anpassen, was den Amtsleiter sehr ärgerte. Von einem Tag auf den anderen stieg der Wert des Gebäudes auf das Doppelte.
Das darunterliegende Gewölbe war um einiges älter als das Hotel und es wurde gemunkelt, dass man von dort durch einen geheimen Gang bis unter den naheliegenden Dom gelangen konnte. Da man den Keller nur durch eine zentnerschwere Luke erreichte, die im Eingangsbereich in den Boden eingelassen war, wurde er schon lange nicht mehr genutzt und geriet langsam in Vergessenheit.
An sonnigen Tagen leuchtete das Hotel in einem Farbton, der an getrocknete Zitronen erinnerte und die weißumrahmten Fenster, je zwei in jedem Stockwerk, zogen die Blicke der Passanten auf sich. Im Sommer standen sie weit offen, denn das Haus war nicht klimatisiert und die Gäste verschafften sich so ein wenig Abkühlung. Links und rechts neben dem Eingang waren pyramidenförmig geschnittene Buchsbäume in quadratischen Pflanztöpfen aus Terrakotta platziert. Die Ornamente muteten italienisch an und waren vielleicht ein versteckter Hinweis auf die römische Vergangenheit der kleinen Stadt, die vor bald zwei Jahrtausenden von Legionären gegründet worden war. Vom Fremdenverkehrsverein wurde seit Jahren hartnäckig das Gerücht in Umlauf gebracht, man würde hier in der nördlichsten Stadt Italiens Urlaub machen. Doch alleine die Tatsache, dass die meisten Bedienungen in den Wirtshäusern und Gastwirtschaften nicht einmal eine Bestellung in Englisch aufnehmen konnten, zeigte schon, dass es mit der Internationalität nicht weit her war.
An nebeligen Tagen jedoch, die fast so zahlreich wie die schönen waren, versank das Hotel wie alles um den kleinen Platz, an dem es etwas nach hinten versetzt lag, in einem dunstigen Grau. Einzig das elektrische Licht hinter den Fenstern der Hotelfassade schaffte es, die trübe Wolkenwand zu durchbrechen und schickte eine Ahnung von Wärme nach draußen. Davon angezogen fanden sich immer wieder Übernachtungsgäste, die eigentlich ein ganz anderes Haus aufsuchen wollten, auch wenn keiner von ihnen hätte sagen können, was genau sie auf dieses Hotel aufmerksam werden ließ. Nicht einmal der Besitzerin war klar, wie anziehend die hell erleuchteten Fenster waren. Sie hatte beim Kauf der Lampen einfach auf ihre Intuition gehört und Licht ausgewählt, das ihr gefiel.
Der runde Platz, um den sich große und kleine Häuser, zwei Kirchen, ein Kloster, ein Reisebüro, eine Konditorei, eine Wäscherei und eine Bar gruppierten, hieß bereits seit vielen hundert Jahren Getreidemarkt. Lange Zeit wurde die weitläufige Fläche von einem prächtigen Brunnen beherrscht, dessen Wasser bei Flugzeugangriffen während des Zweiten Weltkriegs zum Löschen der Brände genutzt wurde. Doch kurz vor Kriegsende, im April 1945, zerstörte eine Bombe beim allerletzten Angriff auf die kleine Stadt das kunstvolle Bauwerk. Bei der Explosion wurde ein Splitter bis zur Fassade der Konditorei geschleudert, zerschmetterte das Schaufenster und blieb in der Kuchentheke in einem Osterlamm aus Biskuit stecken. Ein kleiner Junge, der den Angriff unbeschadet überstanden hatte, schob seine dünne Hand in einem unbemerkten Moment an den Glasscherben vorbei, griff sich das Gebäck und ließ es in die Tasche seines übergroßen Mantels gleiten. Seine Mutter und seine Großmutter freuten sich zuhause über das unerwartete Ostergeschenk. Den scharfkantigen Eisenspan behielt der Junge als Talisman.
Die Konditorei war ein Familienbetrieb und wurde mittlerweile in der fünften Generation geführt. Die Rezepte wanderten ebenso lange von Hand zu Hand. Dies war wohl auch der Grund, weshalb alle Kuchen, Torten und Gebäckstücke von stets gleichbleibend guter Qualität waren. Kunden, die nach Jahren in die kleine Stadt zurückkamen, wurden beim ersten Biss in ein Stück Apfelkuchen in ihre Kindheit zurückversetzt und sahen mit geschlossenen Augen den Getreidemarkt von damals vor sich. Viel hatte sich auf dem Platz nicht verändert, nur die Wäscherei und das Reisebüro waren neu hinzugekommen und Betreiber und Name der Bar hatten einige Male gewechselt.
Ein Ehepaar, beide um die sechzig, führte die Wäscherei. Sie standen jeden Tag, außer sonntags, mit gestärktem Hemd und faltenfreier Bluse hinter der Theke und nahmen Kleidung oder Tisch- und Bettwäsche entgegen. Er stammte aus einem alten Adelsgeschlecht und ältere Kundinnen sprachen ihn stets ehrfurchtsvoll mit Herr Graf an, obwohl es diesen Titel seit Abschaffung der Monarchie nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr gab. Seine Frau rollte bei dieser antiquierten Anrede hinter seinem Rücken mit ihren tiefblauen Augen, kommentierte es jedoch nicht weiter. Sie musste in jungen Jahren eine wunderschöne Frau gewesen sein und hatte sich eine Anmut bis ins Alter bewahrt, die eigentlich darauf schließen lassen würde, dass sie aus einem Geschlecht mit vormals blauem Blut stammte.
Die beiden Besitzer der Bar waren vor Jahren liiert gewesen, wollten aber beide bei ihrer Trennung die Kneipe nicht aufgeben. So einigten sie sich darauf, die Wochentage aufzuteilen, um sich nicht begegnen zu müssen. Er war dienstags bis donnerstags anwesend, sie von Freitag bis Sonntag. Montag war Ruhetag. Um trotz ihrer stetig wachsenden Abneigung zueinander weiterhin kommunizieren zu können, schrieben sie sich für alle Gäste lesbare Botschaften auf die verspiegelte Wandfläche hinter der Theke. Manche Besucher kamen nur deshalb in die Bar, um sich über die hämischen Nachrichten der beiden zu amüsieren. Dieser Umstand störte die Barbesitzer wenig. Im Gegenteil: Wenn es das Geschäft ankurbelte und sie deshalb mehr Umsatz machten, dann trugen sie ihre Differenzen gerne öffentlich aus.
Vor gut einem halben Jahr war der Getreidemarkt um ein weiteres Unternehmen gewachsen. In das vormalige Wohnhaus eines pensionierten Beamten, der in hohem Alter verstorben war, war das Hotel Artiste gezogen. Eines Morgens, vier Monate vorher, war eine junge Frau mit roten Locken und braunen, vor Freude strahlenden Augen von Haus zu Haus gewandert und hatte sich den Anwohnern als neue Besitzerin des zitronengelben Hauses vorgestellt. Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und zeigte allen den Schriftzug des Hotel Artiste, das sie bald eröffnen würde. Die feinen, schwarzen Linien waren kunstvoll geschwungen und neigten sich stark nach rechts. Sie riefen die Erinnerung an eine längst vergangene Epoche hervor und weckten allein beim Anblick den Wunsch, in diese unkonventionelle und aufregende Zeit einzutauchen, die vor bald neunzig Jahren jäh von nationalistischen Bestrebungen und dem Wahn nach der Weltherrschaft verdrängt wurde. Die junge Frau war bei ihrer Präsentation so überzeugend und trug das Konzept der neuen Herberge mit so viel Engagement vor, dass die zukünftigen Nachbarn vollkommen zu fragen vergaßen, wie sie denn auf den ausgefallenen Namen gekommen war.
Marille hatte als kleines Mädchen im Fernsehen einen Artisten gesehen, der nur mit einem Schirm ausgestattet, zwischen einer Kirchturmspitze und einem weit entfernt stehenden Dach hin- und hergelaufen war. Das Seil hatte leicht geschwankt und der Mann war einige Male stehen geblieben, um auf einem Bein stehend, seine Bewegungen anzupassen und dann weiterzulaufen. Als er schließlich wieder unten war, tauchte er in der Menge der wartenden und Beifall spendenden Menschen ein und wurde schließlich auf deren Schultern und unter großem Jubel über den Kirchplatz getragen. Marille saß mit vor Rührung tränenden Augen vor dem Fernsehgerät und wünschte sich nichts sehnlicher, als selbst Artistin zu werden. Doch wenig später stellte sich heraus, dass sie bereits aufrecht auf dem Sprungkasten stehend unsicher war und ihre Knie weich wurden. Eine Karriere in luftiger Höhe war ihr deshalb verwehrt. Trotz allem blieben ihr die Bilder vom Seiltänzer immer in Erinnerung. So liebevoll wie dieser damals von der Menge aufgenommen worden war, so wollte sie ihre Gäste beherbergen.
Kultur trotz Corona: „Hotel Artiste“. Von Gerda Stauner>
Gerda Stauner (* 1973 in Seubersdorf) lebt seit 1999 in Regensburg, ist verheiratet und hat einen Sohn. Nach dem Abitur studierte sie in Rosenheim Betriebswirtschaft. Zeitgleich mit ihrem Umzug nach Regensburg eröffnete sie das Themenhotel „Künstlerhaus“. Ihr erster Roman Grasmond erschien 2016 im SüdOst Verlag. Darin setzt sich die Autorin mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Menschen in der Oberpfalz auseinander. Ihre Texte beschäftigen sich mit den Themen Heimat, Identität und Vertreibung und lassen die jüngere Vergangenheit der Oberpfalz bildhaft wieder aufleben. Die Figuren für ihren zweiten Roman Sauforst – Vom Suchen und Finden der Heimat entstanden in Anlehnung an ihren eigenen Familienstammbaum. Wolfsgrund – Eine Spurensuche erschien im März 2019 und bildet den Abschluss der Trilogie um die Familie Beerbauer. Gerda Stauner ist erfolgreich mit unterschiedlichen Leseformaten an Schulen, Bibliotheken und bei Kulturveranstaltungen unterwegs. Sie gibt ihr Wissen in Schreibkursen weiter und engagiert sich in der Lese- und Schreibförderung für Jugendliche. 2018 vergab die Stadt Regensburg an sie den Kulturförderpreis für ihr literarisches Schaffen und ihr kulturelles Engagement.
Mit dem folgenden Auszug aus ihrem noch unveröffentlichten Roman Hotel Artiste beteiligt sich Gerda Stauner an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Hotel Artiste
(Roman)
Für Marille haben Menschen wie Dinge gleichermaßen eine Seele. Eher zufällig wird sie zur Hotelbesitzerin. Gibran ist illegal aus dem Iran nach Deutschland gekommen, um seine Familie wirtschaftlich zu unterstützen. Den anderen Grund für seine Flucht kennt nur seine Schwester. Astrid arbeitet in einem Reisebüro, kommt aber selbst nie über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus. Die drei treffen zufällig an einem Frühlingswochenende im April 1999 in Marilles kleinem Hotel Artiste aufeinander. Wie in einem Reagenzglas vermengen sich ihre Sehnsüchte, Wünsche und Zukunftspläne zu einem explosiven Gemisch, das sich am Sonntagabend bei einer rassistischen Auseinandersetzung mit Brachialgewalt entlädt. Gerda Stauners Roman erzählt von Tätern und Opfern und zeigt, wie sie dazu werden. Die Schriftstellerin führte zwischen 1999 und 2007 ein kleines Hotel in Regensburg. Dort übernachteten unter anderem Künstler, Musiker und Kabarettisten. In einer Ausgabe des Reiseführers Lonley Planet wurde das Hotel als Geheimtipp erwähnt.
Prolog
Plötzlich war es ganz still geworden. Er nahm nur noch wahr, wie sich seine Lider öffneten und schlossen, wie sich seine Brust hob und senkte, wie mit jedem Herzschlag alles leichter wurde. Zuerst verstand er nicht, was soeben geschehen war, und wieso er auf dem harten, kalten Asphalt lag, den Kopf in Marilles Schoß gebettet. Er konnte die kleinen Steine spüren, die sich durch das dünne T-Shirt in seinen Rücken bohrten, und fühlte die rissige Oberfläche des geteerten Platzes unter seinen Händen. Trotzdem war es nicht unbehaglich. Marilles Gesicht schwebte über ihm und ihre Lippen bewegten sich, doch ihre Worte drangen nicht zu ihm. Tränen liefen über ihre Wangen und obwohl es ihr schwerzufallen schien, hielt sie den Blickkontakt zu ihm und er nahm dabei die Wärme ihrer dunklen Augen in sich auf. Ewig hätte er hier so liegen können. Nichts drängte ihn mehr, nichts zerrte mehr an ihm.
Dann kam die Erinnerung zurück, die Bilder der brennenden Flaschen tauchten vor seinem inneren Auge auf, er hörte wieder die lauten Rufe und einen Moment lang überfiel ihn die Angst, die sie alle im Hotel gelähmt hatte. Wie lange war das her? Minuten, Stunden oder war es in einem anderen Leben gewesen? Er konnte es nicht sagen. Es schien ihm, als ob dies alles auf einem weit entfernten Planeten stattgefunden hätte. In einer Welt, zu der er nun keinen Zugang mehr hatte und die ihn nicht mehr interessierte. Nun schien sich alles nur noch auf ihn zu konzentrieren, er war der Mittelpunkt seines eigenen Universums geworden. Nichts anderes zählte mehr. Nicht die Menschen, die zuerst fassungslos herumgestanden hatten und nun panisch versuchten, mit ihren Handys Hilfe anzufordern. Auch nicht die Randalierer, die angsterfüllt geflohen waren und von denen man nicht wusste, ob sie für ihre Tat jemals bestraft werden würden. Und ganz langsam begann auch der große Platz nicht mehr zu zählen, auf dem er sich befand und der für ihn einmal so etwas wie Heimat gewesen war. Zuallerletzt, als ihm das Atmen immer schwerer fiel und es ihn alle Kraft kostete, seine Lider noch einmal zu öffnen, löste sich auch die Verbindung zu Marille Stück für Stück auf. Sie schien dies zu spüren, ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern. Sie blickte ihm weiterhin tief in die Augen, drückte fest seine Hand und gab ihm zu verstehen, dass sie an seiner Seite bliebe, egal was kommen würde. Einen winzigen Moment lang imponierte ihm ihre Willensstärke und ihr standhaftes Auflehnen gegen das Unvermeidliche, und er war versucht ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung wäre und sie loslassen könne. Doch der Augenblick verstrich und er konzentrierte sich nur noch auf das, was vor ihm lag.
Freitag, 16. April 1999
Die Außenfassade des kleinsten Hotels der Stadt ließ sich mit zwei Schritten abmessen. Sie bot gerade Platz genug für ein Schaufenster, hinter dem sich die Rezeption befand, und die Eingangstür. Gäste, die das Haus zum ersten Mal betraten, brauchten meist einen Moment, um zu begreifen, dass sich der Raum im Inneren öffnete und deutlich mehr Platz vorhanden war, als der erste Eindruck vermuten ließ. Das Gebäude aus dem späten Mittelalter hatte sich dem Vernehmen nach ein Kaufmann in eine schmale Lücke bauen lassen, um damit die Bürgerrechte der Stadt zu erwerben. Für ein größeres Haus fehlte ihm das Geld. Um dennoch etwas mehr Platz zu schaffen, erweiterte er die Baufläche um die Hälfte des Innenhofs, der von den drei angrenzenden Nachbarhäusern gebildet wurde. Die Besitzer dieser Gebäude belohnte er für ihr stillschweigendes Einverständnis mit einem angemessenen Bestechungsgeld. Vor gar nicht allzu langer Zeit flog der jahrhundertealte Schwindel bei Vermessungsarbeiten für die Kanalsanierung auf. Das Kartierungsamt änderte notgedrungen die Besitzverhältnisse des bebauten Innenhofs und schrieb sie dem Hotel zu, konnte die Grundsteuer jedoch nicht rückwirkend anpassen, was den Amtsleiter sehr ärgerte. Von einem Tag auf den anderen stieg der Wert des Gebäudes auf das Doppelte.
Das darunterliegende Gewölbe war um einiges älter als das Hotel und es wurde gemunkelt, dass man von dort durch einen geheimen Gang bis unter den naheliegenden Dom gelangen konnte. Da man den Keller nur durch eine zentnerschwere Luke erreichte, die im Eingangsbereich in den Boden eingelassen war, wurde er schon lange nicht mehr genutzt und geriet langsam in Vergessenheit.
An sonnigen Tagen leuchtete das Hotel in einem Farbton, der an getrocknete Zitronen erinnerte und die weißumrahmten Fenster, je zwei in jedem Stockwerk, zogen die Blicke der Passanten auf sich. Im Sommer standen sie weit offen, denn das Haus war nicht klimatisiert und die Gäste verschafften sich so ein wenig Abkühlung. Links und rechts neben dem Eingang waren pyramidenförmig geschnittene Buchsbäume in quadratischen Pflanztöpfen aus Terrakotta platziert. Die Ornamente muteten italienisch an und waren vielleicht ein versteckter Hinweis auf die römische Vergangenheit der kleinen Stadt, die vor bald zwei Jahrtausenden von Legionären gegründet worden war. Vom Fremdenverkehrsverein wurde seit Jahren hartnäckig das Gerücht in Umlauf gebracht, man würde hier in der nördlichsten Stadt Italiens Urlaub machen. Doch alleine die Tatsache, dass die meisten Bedienungen in den Wirtshäusern und Gastwirtschaften nicht einmal eine Bestellung in Englisch aufnehmen konnten, zeigte schon, dass es mit der Internationalität nicht weit her war.
An nebeligen Tagen jedoch, die fast so zahlreich wie die schönen waren, versank das Hotel wie alles um den kleinen Platz, an dem es etwas nach hinten versetzt lag, in einem dunstigen Grau. Einzig das elektrische Licht hinter den Fenstern der Hotelfassade schaffte es, die trübe Wolkenwand zu durchbrechen und schickte eine Ahnung von Wärme nach draußen. Davon angezogen fanden sich immer wieder Übernachtungsgäste, die eigentlich ein ganz anderes Haus aufsuchen wollten, auch wenn keiner von ihnen hätte sagen können, was genau sie auf dieses Hotel aufmerksam werden ließ. Nicht einmal der Besitzerin war klar, wie anziehend die hell erleuchteten Fenster waren. Sie hatte beim Kauf der Lampen einfach auf ihre Intuition gehört und Licht ausgewählt, das ihr gefiel.
Der runde Platz, um den sich große und kleine Häuser, zwei Kirchen, ein Kloster, ein Reisebüro, eine Konditorei, eine Wäscherei und eine Bar gruppierten, hieß bereits seit vielen hundert Jahren Getreidemarkt. Lange Zeit wurde die weitläufige Fläche von einem prächtigen Brunnen beherrscht, dessen Wasser bei Flugzeugangriffen während des Zweiten Weltkriegs zum Löschen der Brände genutzt wurde. Doch kurz vor Kriegsende, im April 1945, zerstörte eine Bombe beim allerletzten Angriff auf die kleine Stadt das kunstvolle Bauwerk. Bei der Explosion wurde ein Splitter bis zur Fassade der Konditorei geschleudert, zerschmetterte das Schaufenster und blieb in der Kuchentheke in einem Osterlamm aus Biskuit stecken. Ein kleiner Junge, der den Angriff unbeschadet überstanden hatte, schob seine dünne Hand in einem unbemerkten Moment an den Glasscherben vorbei, griff sich das Gebäck und ließ es in die Tasche seines übergroßen Mantels gleiten. Seine Mutter und seine Großmutter freuten sich zuhause über das unerwartete Ostergeschenk. Den scharfkantigen Eisenspan behielt der Junge als Talisman.
Die Konditorei war ein Familienbetrieb und wurde mittlerweile in der fünften Generation geführt. Die Rezepte wanderten ebenso lange von Hand zu Hand. Dies war wohl auch der Grund, weshalb alle Kuchen, Torten und Gebäckstücke von stets gleichbleibend guter Qualität waren. Kunden, die nach Jahren in die kleine Stadt zurückkamen, wurden beim ersten Biss in ein Stück Apfelkuchen in ihre Kindheit zurückversetzt und sahen mit geschlossenen Augen den Getreidemarkt von damals vor sich. Viel hatte sich auf dem Platz nicht verändert, nur die Wäscherei und das Reisebüro waren neu hinzugekommen und Betreiber und Name der Bar hatten einige Male gewechselt.
Ein Ehepaar, beide um die sechzig, führte die Wäscherei. Sie standen jeden Tag, außer sonntags, mit gestärktem Hemd und faltenfreier Bluse hinter der Theke und nahmen Kleidung oder Tisch- und Bettwäsche entgegen. Er stammte aus einem alten Adelsgeschlecht und ältere Kundinnen sprachen ihn stets ehrfurchtsvoll mit Herr Graf an, obwohl es diesen Titel seit Abschaffung der Monarchie nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr gab. Seine Frau rollte bei dieser antiquierten Anrede hinter seinem Rücken mit ihren tiefblauen Augen, kommentierte es jedoch nicht weiter. Sie musste in jungen Jahren eine wunderschöne Frau gewesen sein und hatte sich eine Anmut bis ins Alter bewahrt, die eigentlich darauf schließen lassen würde, dass sie aus einem Geschlecht mit vormals blauem Blut stammte.
Die beiden Besitzer der Bar waren vor Jahren liiert gewesen, wollten aber beide bei ihrer Trennung die Kneipe nicht aufgeben. So einigten sie sich darauf, die Wochentage aufzuteilen, um sich nicht begegnen zu müssen. Er war dienstags bis donnerstags anwesend, sie von Freitag bis Sonntag. Montag war Ruhetag. Um trotz ihrer stetig wachsenden Abneigung zueinander weiterhin kommunizieren zu können, schrieben sie sich für alle Gäste lesbare Botschaften auf die verspiegelte Wandfläche hinter der Theke. Manche Besucher kamen nur deshalb in die Bar, um sich über die hämischen Nachrichten der beiden zu amüsieren. Dieser Umstand störte die Barbesitzer wenig. Im Gegenteil: Wenn es das Geschäft ankurbelte und sie deshalb mehr Umsatz machten, dann trugen sie ihre Differenzen gerne öffentlich aus.
Vor gut einem halben Jahr war der Getreidemarkt um ein weiteres Unternehmen gewachsen. In das vormalige Wohnhaus eines pensionierten Beamten, der in hohem Alter verstorben war, war das Hotel Artiste gezogen. Eines Morgens, vier Monate vorher, war eine junge Frau mit roten Locken und braunen, vor Freude strahlenden Augen von Haus zu Haus gewandert und hatte sich den Anwohnern als neue Besitzerin des zitronengelben Hauses vorgestellt. Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und zeigte allen den Schriftzug des Hotel Artiste, das sie bald eröffnen würde. Die feinen, schwarzen Linien waren kunstvoll geschwungen und neigten sich stark nach rechts. Sie riefen die Erinnerung an eine längst vergangene Epoche hervor und weckten allein beim Anblick den Wunsch, in diese unkonventionelle und aufregende Zeit einzutauchen, die vor bald neunzig Jahren jäh von nationalistischen Bestrebungen und dem Wahn nach der Weltherrschaft verdrängt wurde. Die junge Frau war bei ihrer Präsentation so überzeugend und trug das Konzept der neuen Herberge mit so viel Engagement vor, dass die zukünftigen Nachbarn vollkommen zu fragen vergaßen, wie sie denn auf den ausgefallenen Namen gekommen war.
Marille hatte als kleines Mädchen im Fernsehen einen Artisten gesehen, der nur mit einem Schirm ausgestattet, zwischen einer Kirchturmspitze und einem weit entfernt stehenden Dach hin- und hergelaufen war. Das Seil hatte leicht geschwankt und der Mann war einige Male stehen geblieben, um auf einem Bein stehend, seine Bewegungen anzupassen und dann weiterzulaufen. Als er schließlich wieder unten war, tauchte er in der Menge der wartenden und Beifall spendenden Menschen ein und wurde schließlich auf deren Schultern und unter großem Jubel über den Kirchplatz getragen. Marille saß mit vor Rührung tränenden Augen vor dem Fernsehgerät und wünschte sich nichts sehnlicher, als selbst Artistin zu werden. Doch wenig später stellte sich heraus, dass sie bereits aufrecht auf dem Sprungkasten stehend unsicher war und ihre Knie weich wurden. Eine Karriere in luftiger Höhe war ihr deshalb verwehrt. Trotz allem blieben ihr die Bilder vom Seiltänzer immer in Erinnerung. So liebevoll wie dieser damals von der Menge aufgenommen worden war, so wollte sie ihre Gäste beherbergen.