Kultur trotz Corona: „Ameise“. Von Christian Schloyer
Christian Schloyer (* 1976 in Erlangen) ist Lyriker, Konzept- und Klangkünstler, Philosoph, Literaturveranstalter, Prosa-Autor und freier Werbetexter. Nach der Schulzeit in Nürnberg und Gunzenhausen studierte er in Erlangen Philosophie und Germanistik. Er hat bisher drei Lyrikbände veröffentlicht und arbeitet an mehreren Romanvorhaben.
Seine Leidenschaft gilt vor allem der kunstgattungsübergreifenden, synästhetischen Arbeit mit dichterischen Texten („Synpoesie“). Mit dem „LiteraturDing e.V.“ richtet er die „LYRIKNACHT“ in Nürnberg aus, zudem ist er Initiator der Autor*innengruppe und Textwerkstatt Wortwerk – zunächst in Erlangen (2000), ab 2006 in Nürnberg. An der Akademie Faber-Castell in Stein unterrichtet er als freier Dozent Lyrik. Schloyer war einige Jahre Teil der Künstlergruppe „falschtechst schlachtfest“ und tritt immer wieder mit unterschiedlichen künstlerischen Partner*innen auf, in den letzten Jahren verstärkt im gemeinsamen elektroakustischen Improvisationsspiel mit Michael Ammann. Er entwickelt und verwirklicht komplexe künstlerische Formate, in denen Lyrik eine (zentrale) Rolle spielt, z.B. „LiterraForming Erlangen“ zu „networks15“ (2015) oder „Hyperschallkunstflugzeugen“ zum 19. Poesiefestival in Berlin (2018).
Schloyer gewann u.a. den „Open Mike“ (2004), den Leonce-und-Lena-Preis (2007) und erhielt den Bayerischen Kunstförderpreis (2013), zuletzt den Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis (2020).
Mit dem folgenden unveröffentlichten Text, den Christian Schloyer eingelesen und zu dem er eine elektroakustische Klanglandschaft komponiert hat, beteiligt er sich an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Ameise
Als das Mädchen vom Fahrzeug erfasst wird, wütend aufschreit, als bellten zwei Kehlen aus einem Tier, ihr Schopf mit der Schuppenflechte Meter weit fliegt, gegen die flache Betonwand knallt, packt Ameise ihre vier Tüten. Nimmt ihre Siebensachen, ihre Beine in die Hand, spürt, dass sie flennt. Wenn was abgeht, was ihr nicht kapiert: Schaut nicht hin, besser rennt! Ja, Ameise! Kümmer dich um deine Dinger, lauf denen nich ins Messer.
Sie schnürt die Hände in die Plastikhenkel, krallt die Finger in die Tüten, hetzt den Bahndamm entlang. Durchs Absperrgitter, den Schotterweg zurück in ihr Viertel, entlang am Kaufhaus Enkel. Also gut, kleine Pause, Ameise. In den Knien … sitzt der Zittermann. Sie keucht, der Atem rasselt. Is das ein Geschlotter! Musste wieder humpeln … Sachte! So machste keinen Staat, Ameise. Weiter. Zwängt sich, wo der alte Trafo brummt, direktemang in eine Spalte. Zwischen schmutzigen Mauern, hinter ausrangierten Scannern: der Schuppen, der wieder ihr Zuhause ist. Es wie eine Schnecke machen – ganz rein ins Haus, Fühler einziehn, hastse wieder, deine Immobilie, sich aufs Sofa legen. Wenn sie könnte, würde Ameise auch das verkrachte Möbel mit sich schleppen. Ruh dich aus! Ameise summt. Hier gehts dir gut! Schnecke nach ner langen Reise, hier kannste lachen im Salat!
Aber da ist heut nichts mit Ruh-dich-aus! Im Kopf rumort die Kuh Erinnerung, die wiederkäut und Fotos spuckt. Foto 1: Im Park, Ameise wühlt nach Dosen mit Pfand. Foto 2: Ameise im falschen Viertel, wo Mädchen und Knaben angespült, mit Posen auf große Wagen warten. Foto 3: Ameise mit Ameisenstraße, ein paar Lagen Klopapier in der Hand. Solenopsis. Die Feuerameise reagiert aggressiv auf Störungen. 48 Stunden nach dem Biss bildet sich eine Pustel. (Haste nix gefühlt.) Foto 4: Mädchen und Knaben fort. Straße leer, bis auf ’nen überdimensionierten Hirschkäfer: schwarze Limousine. Warn Suff! Am Bordsteinrand ein blutiges Bündel. Am anderen … guckt die Ameise dumm, hat Schiss. Foto 4 … gibs nich, gibs nich mehr, … nur ne blutige Pfote … nur dieses Bellen, das Bellen! Ameise angespannt, schluckt, presst die Hände an die Schläfen, als gäb’s da einen Riss zusammenzuhalten. Biene. Rubina. Das Mädchen nannte sich … Rubina … Ameise nannte sie Biene, Biene-Blondine, fleißig und gut.
Hast ja auch Hunger, denkt sie, schüttelt sich, so kanns nix werden mit Ruh, biste zu aufgeweckt. Musste zum Schäfer! Such deine Strümpf, Mädel, musst wieder los. Raus ausm Mief! Die Tüten hinters Sofa, mit dem Wellblech das Eingangsloch versteckt, sieh mal einer, haste sogar ne Tür, hervorgekrochen aus der Spalte und rum ums Eck, so mir nix dir nix … Ups? Ein kühler Tropfen auf der Stirn, Ameise betastet ihr Geschwür überm Auge, mustert den Himmel, der sich schmal und krank über die Bürotürme verzieht. Wetter is grauer als ne Seifenlauge.
Immer großer Andrang beim Schäfer, besonders, wenn es regnet. Weil der Schäfer nix Böses tut, denkt Ameise und schaut dem Schaum in den Bordsteinrillen nach …, deswegen kommen alle. Auf den kannste dich verlassen. Warst schon bei den Ordensschwestern …, verdrießlich betastet Ameise ihren nassen Pulli, … das sinn Fanatiker! Islamisten! Oder Christen! Außerdem gibs hier jeden Tag warm, ohne Kollekte! Ameise zupft an ihren Hosenträgern, guckt sich um, zählt 19, 20, 21, 22 verlumpte Gestalten, … kommen alle nur zum Prassen, … vor ihr in der Schlange. Doch sie kriegt da einen Spruch nicht aus dem Kopp, einen Schäfer-Spruch, Survival-Tipp, kleines Regelwerk: Wenn was abgeht, was ihr nicht kapiert: Schaut nicht hin, besser rennt! Aber Ameise hat hingeschaut. Und deshalb kriegt sie auch die Fotos nicht aus’m Hirn raus, n Horrortrip, weil einer mal gesagt hat: Frau Kadder, sie ham a foddografisches Gedächtnis, des ham ned viele. Ameise rollt mit den Augen, hat ja nu gar nix mit dir zu tun. Gibt Schlimmeres als dich, alte Schabe, denkt sie, verzieht den Mund. Ein Odeur in der Suppenküche! Angstschweiß, faule Tomaten und nasser Hund füllen die Nasenlöcher.
Vor ihr brüllen sich zwei Kumpels nieder. In einen Moment der Stille hinein poltert Ameises Magen, so laut, dass die beiden Vögel sie anstarren und deppert grinsen, „Na, do rappelts im Karton! Is die Klingonin a wieder do“, witzelt der Kugelbauch und kratzt sich am Hoden. Kennste dieses Aas? Könnst ihn killen! Maul halten Ameise, haste genug Troubles. Sie hakt ihren Napf vom Hosenträger, stellt ihn folgsam auf die Theke. Mit einer Riesenkelle hantiert da munter ein krummes Tantchen. Hat so viel Liebe in ihr drin, dass Ameise jedes Mal Gewissensbisse spürt. Dabei lebt die auch schon ewig auf der Straße. Alle leben auf der Straße, die Ameise kennt, … wüsstest gern, wozu die Häuser sinn.
Ameise verschlingt im Stehen ihren Eintopf – ein Sitzplatz ist nicht drin, nicht bei Regen jedenfalls, da musste früher aufstehn. Und schmeckt’s, Ameise? Haste nix zu meckern, dir gehts doch gut mit warmem Magen. Nur in letzter Zeit verträgt sie’s nicht, da ist Schluss mit Schmausen! Ist es der Magen, ist’s … das Herz? Hirn könnts sein … oder die Augen? Weilst so blöde Sachen siehst. Sie spürt’s sofort: Diesmal kommt’s besonders schlimm, … musste raus, Ameise, raus, kriegste keine Luft hier!
Biste draußen jetzt, Ameise, biste draußen! Aber – was ist da los! Vom Regen, der aufzuhören scheint, mitten in die Traufe: in eine wahre Menschentraube! In einen Strom aus Leuten, mit Nebenströmen, die sie mit sich reißen. Was fürn Machen, was fürn Gelaufe! Ameise! Biste mittendrin! Menschen, in farbige Fetzen gehüllt, die Ameise ins Gesicht lachen mit hüpfenden Augen, Pappschildern und Transparenten! Die trillern und megafonieren, die Sahne sprühen, die trommeln, tanzen, „Samba! Samba de janeiro …“ Gehörste jetzt dazu! Mensch, Ameise! Biste eine von der Stadt, eine von den zehn Million … da fliegt ne Friedenstaube! Die Bässe grabschen in den Bauch, kitzeln die Blase – Caramba, Ameise! Ist dir schwindelig? Und heiß im Kopf? War’s dir vorher auch. Du stöhnst und taumelst. Fühlst dich schachmatt: Wärs dir bloß nich so scheiße übel! Wer fängt dich auf, wenn du stolperst, wenn du fällst? „Wir! Wir! Wir!“, ruft das Volk, „Wir!“
Das darfst du nicht verpassen, Ameise! Hochfrequentes Sirren, über der Menge kreiseln Plastikflügel, schwirren, mit hundertfachem Schneid die Luft in Scheibchen kappen und über Köpfe streichen: der Paarungsflug der Quadrokopter! Zur Paarung verlassen beflügelte Weibchen und Männchen in großen Schwärmen den elterlichen Bau. Jetzt, wo die Bässe der Spaßguerillas verstummen … kann man es endlich begreifen: Zwischen irrem Rotorensummen gellt die Plastikflügler-Polonaise, blechern, dissonant, ohne Pause in den Ohren: „Hier spricht Ihr Polizeilicher Stadtsicherheitsservice. Sie stören die öffentliche Ordnung. Verlassen Sie umgehend die Straßen und gehen Sie zügig nach Hause.“
Ameise, wo bist du? Dir fällt das Denken schwer und immer schwerer, müde, als schütte jemand Kies in deine Glieder. Was macht die Stadt, was macht sie nur mit dir! Du liegst im Dreck … was hatse nur aus dir gemacht …, die Leute trampeln über dich hinweg, … wo haste deine Energie? Die Türme neigen sich zur Seite, verneigen sich, gehen zur Neige, … is deine Stadt, die … huldigt dir! Ach, … du alte Trinkerin. Ein Drohn schwirrt zu dir herab, bezirzt, bezoomt dich kühn mit seinen schwarzen Linsenäuglein. Ob die dich riechen könnn … mit ihren Schwärmern? Mit ihren Roboflügel…männchen? Was stecktn da? … in deiner Schulter … hats gepiekt. Gift? Der Himmel riecht nach Zimt. Werbetafeln sprießen. Ach, lasse schwafeln. Lass dich nicht gehen! Die Stadt, dein Volk! Brauchen dich! Staaten mit nur einer Königin … sterben nach ihrem Tod … keine Eier mehr …
Die Häuser fliehen wie träge Geier! Jetzt isses aus. Wir präsentieren Ihnen … und plötzlich reißt der Himmel auf. FOTO 4! Ein schmuckes Vorstadt-Haus. Gepflegte Frau, noch keine 40. Kannstse nich mehr sehn, die Frau, issn Ungeheuer! Echtleder-Businessdress, barbarisch cool, sauteuer: Frau Cutter! Managerin in einem führenden Real Life Real Estate-Unternehmen.
„Anabel Cutter“, surrt ein Drohnen-Plastikstimmchen.
Frau Cutter ist allein. Jeden Abend – besonders, wenn sie nicht alleine ist (krieg’s in Griff, den Alkohol. Nur noch die Beförderung.) … Hasstse, die Frau Cutter, könnste kotzen, mit der kannste … mit der haste nie nen Staat machen könnn! Frau Cutter lässt sich nicht unterkriegen – vor allem nicht von Männern! Hast se schon immer gehasst … Steht eher so auf … barely legal Teengirl-Kitsch, junge Puppenfotzen … Frau Cutter war betrunken, exzellenter Wein, fühlte sich ausgenutzt und ungeliebt wie nie. Hat sie rausgeschmissen. Kein Spaß: vom Sitz getreten! (Weiße Schuppen, dunkles Leder.) Und ihren kleinen Welpen … den hat sie hinterhergeworfen. „Du hast mir nüscht bezahlt, Drecks Money-Bitch! Ick bleib hier stehn!“ Weißt noch, was du geschrien, als du Gas …? Warste nich! Das warste nich! „Dein scheiß Drecksvieh hat mich gebissen“, hast du geschrien, warst von Sinnen. Warste … biste nich! … kranke Ameisen … vorm Tod … Nest verlassen … ist für die Arterhaltung …
Kultur trotz Corona: „Ameise“. Von Christian Schloyer>
Christian Schloyer (* 1976 in Erlangen) ist Lyriker, Konzept- und Klangkünstler, Philosoph, Literaturveranstalter, Prosa-Autor und freier Werbetexter. Nach der Schulzeit in Nürnberg und Gunzenhausen studierte er in Erlangen Philosophie und Germanistik. Er hat bisher drei Lyrikbände veröffentlicht und arbeitet an mehreren Romanvorhaben.
Seine Leidenschaft gilt vor allem der kunstgattungsübergreifenden, synästhetischen Arbeit mit dichterischen Texten („Synpoesie“). Mit dem „LiteraturDing e.V.“ richtet er die „LYRIKNACHT“ in Nürnberg aus, zudem ist er Initiator der Autor*innengruppe und Textwerkstatt Wortwerk – zunächst in Erlangen (2000), ab 2006 in Nürnberg. An der Akademie Faber-Castell in Stein unterrichtet er als freier Dozent Lyrik. Schloyer war einige Jahre Teil der Künstlergruppe „falschtechst schlachtfest“ und tritt immer wieder mit unterschiedlichen künstlerischen Partner*innen auf, in den letzten Jahren verstärkt im gemeinsamen elektroakustischen Improvisationsspiel mit Michael Ammann. Er entwickelt und verwirklicht komplexe künstlerische Formate, in denen Lyrik eine (zentrale) Rolle spielt, z.B. „LiterraForming Erlangen“ zu „networks15“ (2015) oder „Hyperschallkunstflugzeugen“ zum 19. Poesiefestival in Berlin (2018).
Schloyer gewann u.a. den „Open Mike“ (2004), den Leonce-und-Lena-Preis (2007) und erhielt den Bayerischen Kunstförderpreis (2013), zuletzt den Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis (2020).
Mit dem folgenden unveröffentlichten Text, den Christian Schloyer eingelesen und zu dem er eine elektroakustische Klanglandschaft komponiert hat, beteiligt er sich an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Ameise
Als das Mädchen vom Fahrzeug erfasst wird, wütend aufschreit, als bellten zwei Kehlen aus einem Tier, ihr Schopf mit der Schuppenflechte Meter weit fliegt, gegen die flache Betonwand knallt, packt Ameise ihre vier Tüten. Nimmt ihre Siebensachen, ihre Beine in die Hand, spürt, dass sie flennt. Wenn was abgeht, was ihr nicht kapiert: Schaut nicht hin, besser rennt! Ja, Ameise! Kümmer dich um deine Dinger, lauf denen nich ins Messer.
Sie schnürt die Hände in die Plastikhenkel, krallt die Finger in die Tüten, hetzt den Bahndamm entlang. Durchs Absperrgitter, den Schotterweg zurück in ihr Viertel, entlang am Kaufhaus Enkel. Also gut, kleine Pause, Ameise. In den Knien … sitzt der Zittermann. Sie keucht, der Atem rasselt. Is das ein Geschlotter! Musste wieder humpeln … Sachte! So machste keinen Staat, Ameise. Weiter. Zwängt sich, wo der alte Trafo brummt, direktemang in eine Spalte. Zwischen schmutzigen Mauern, hinter ausrangierten Scannern: der Schuppen, der wieder ihr Zuhause ist. Es wie eine Schnecke machen – ganz rein ins Haus, Fühler einziehn, hastse wieder, deine Immobilie, sich aufs Sofa legen. Wenn sie könnte, würde Ameise auch das verkrachte Möbel mit sich schleppen. Ruh dich aus! Ameise summt. Hier gehts dir gut! Schnecke nach ner langen Reise, hier kannste lachen im Salat!
Aber da ist heut nichts mit Ruh-dich-aus! Im Kopf rumort die Kuh Erinnerung, die wiederkäut und Fotos spuckt. Foto 1: Im Park, Ameise wühlt nach Dosen mit Pfand. Foto 2: Ameise im falschen Viertel, wo Mädchen und Knaben angespült, mit Posen auf große Wagen warten. Foto 3: Ameise mit Ameisenstraße, ein paar Lagen Klopapier in der Hand. Solenopsis. Die Feuerameise reagiert aggressiv auf Störungen. 48 Stunden nach dem Biss bildet sich eine Pustel. (Haste nix gefühlt.) Foto 4: Mädchen und Knaben fort. Straße leer, bis auf ’nen überdimensionierten Hirschkäfer: schwarze Limousine. Warn Suff! Am Bordsteinrand ein blutiges Bündel. Am anderen … guckt die Ameise dumm, hat Schiss. Foto 4 … gibs nich, gibs nich mehr, … nur ne blutige Pfote … nur dieses Bellen, das Bellen! Ameise angespannt, schluckt, presst die Hände an die Schläfen, als gäb’s da einen Riss zusammenzuhalten. Biene. Rubina. Das Mädchen nannte sich … Rubina … Ameise nannte sie Biene, Biene-Blondine, fleißig und gut.
Hast ja auch Hunger, denkt sie, schüttelt sich, so kanns nix werden mit Ruh, biste zu aufgeweckt. Musste zum Schäfer! Such deine Strümpf, Mädel, musst wieder los. Raus ausm Mief! Die Tüten hinters Sofa, mit dem Wellblech das Eingangsloch versteckt, sieh mal einer, haste sogar ne Tür, hervorgekrochen aus der Spalte und rum ums Eck, so mir nix dir nix … Ups? Ein kühler Tropfen auf der Stirn, Ameise betastet ihr Geschwür überm Auge, mustert den Himmel, der sich schmal und krank über die Bürotürme verzieht. Wetter is grauer als ne Seifenlauge.
Immer großer Andrang beim Schäfer, besonders, wenn es regnet. Weil der Schäfer nix Böses tut, denkt Ameise und schaut dem Schaum in den Bordsteinrillen nach …, deswegen kommen alle. Auf den kannste dich verlassen. Warst schon bei den Ordensschwestern …, verdrießlich betastet Ameise ihren nassen Pulli, … das sinn Fanatiker! Islamisten! Oder Christen! Außerdem gibs hier jeden Tag warm, ohne Kollekte! Ameise zupft an ihren Hosenträgern, guckt sich um, zählt 19, 20, 21, 22 verlumpte Gestalten, … kommen alle nur zum Prassen, … vor ihr in der Schlange. Doch sie kriegt da einen Spruch nicht aus dem Kopp, einen Schäfer-Spruch, Survival-Tipp, kleines Regelwerk: Wenn was abgeht, was ihr nicht kapiert: Schaut nicht hin, besser rennt! Aber Ameise hat hingeschaut. Und deshalb kriegt sie auch die Fotos nicht aus’m Hirn raus, n Horrortrip, weil einer mal gesagt hat: Frau Kadder, sie ham a foddografisches Gedächtnis, des ham ned viele. Ameise rollt mit den Augen, hat ja nu gar nix mit dir zu tun. Gibt Schlimmeres als dich, alte Schabe, denkt sie, verzieht den Mund. Ein Odeur in der Suppenküche! Angstschweiß, faule Tomaten und nasser Hund füllen die Nasenlöcher.
Vor ihr brüllen sich zwei Kumpels nieder. In einen Moment der Stille hinein poltert Ameises Magen, so laut, dass die beiden Vögel sie anstarren und deppert grinsen, „Na, do rappelts im Karton! Is die Klingonin a wieder do“, witzelt der Kugelbauch und kratzt sich am Hoden. Kennste dieses Aas? Könnst ihn killen! Maul halten Ameise, haste genug Troubles. Sie hakt ihren Napf vom Hosenträger, stellt ihn folgsam auf die Theke. Mit einer Riesenkelle hantiert da munter ein krummes Tantchen. Hat so viel Liebe in ihr drin, dass Ameise jedes Mal Gewissensbisse spürt. Dabei lebt die auch schon ewig auf der Straße. Alle leben auf der Straße, die Ameise kennt, … wüsstest gern, wozu die Häuser sinn.
Ameise verschlingt im Stehen ihren Eintopf – ein Sitzplatz ist nicht drin, nicht bei Regen jedenfalls, da musste früher aufstehn. Und schmeckt’s, Ameise? Haste nix zu meckern, dir gehts doch gut mit warmem Magen. Nur in letzter Zeit verträgt sie’s nicht, da ist Schluss mit Schmausen! Ist es der Magen, ist’s … das Herz? Hirn könnts sein … oder die Augen? Weilst so blöde Sachen siehst. Sie spürt’s sofort: Diesmal kommt’s besonders schlimm, … musste raus, Ameise, raus, kriegste keine Luft hier!
Biste draußen jetzt, Ameise, biste draußen! Aber – was ist da los! Vom Regen, der aufzuhören scheint, mitten in die Traufe: in eine wahre Menschentraube! In einen Strom aus Leuten, mit Nebenströmen, die sie mit sich reißen. Was fürn Machen, was fürn Gelaufe! Ameise! Biste mittendrin! Menschen, in farbige Fetzen gehüllt, die Ameise ins Gesicht lachen mit hüpfenden Augen, Pappschildern und Transparenten! Die trillern und megafonieren, die Sahne sprühen, die trommeln, tanzen, „Samba! Samba de janeiro …“ Gehörste jetzt dazu! Mensch, Ameise! Biste eine von der Stadt, eine von den zehn Million … da fliegt ne Friedenstaube! Die Bässe grabschen in den Bauch, kitzeln die Blase – Caramba, Ameise! Ist dir schwindelig? Und heiß im Kopf? War’s dir vorher auch. Du stöhnst und taumelst. Fühlst dich schachmatt: Wärs dir bloß nich so scheiße übel! Wer fängt dich auf, wenn du stolperst, wenn du fällst? „Wir! Wir! Wir!“, ruft das Volk, „Wir!“
Das darfst du nicht verpassen, Ameise! Hochfrequentes Sirren, über der Menge kreiseln Plastikflügel, schwirren, mit hundertfachem Schneid die Luft in Scheibchen kappen und über Köpfe streichen: der Paarungsflug der Quadrokopter! Zur Paarung verlassen beflügelte Weibchen und Männchen in großen Schwärmen den elterlichen Bau. Jetzt, wo die Bässe der Spaßguerillas verstummen … kann man es endlich begreifen: Zwischen irrem Rotorensummen gellt die Plastikflügler-Polonaise, blechern, dissonant, ohne Pause in den Ohren: „Hier spricht Ihr Polizeilicher Stadtsicherheitsservice. Sie stören die öffentliche Ordnung. Verlassen Sie umgehend die Straßen und gehen Sie zügig nach Hause.“
Ameise, wo bist du? Dir fällt das Denken schwer und immer schwerer, müde, als schütte jemand Kies in deine Glieder. Was macht die Stadt, was macht sie nur mit dir! Du liegst im Dreck … was hatse nur aus dir gemacht …, die Leute trampeln über dich hinweg, … wo haste deine Energie? Die Türme neigen sich zur Seite, verneigen sich, gehen zur Neige, … is deine Stadt, die … huldigt dir! Ach, … du alte Trinkerin. Ein Drohn schwirrt zu dir herab, bezirzt, bezoomt dich kühn mit seinen schwarzen Linsenäuglein. Ob die dich riechen könnn … mit ihren Schwärmern? Mit ihren Roboflügel…männchen? Was stecktn da? … in deiner Schulter … hats gepiekt. Gift? Der Himmel riecht nach Zimt. Werbetafeln sprießen. Ach, lasse schwafeln. Lass dich nicht gehen! Die Stadt, dein Volk! Brauchen dich! Staaten mit nur einer Königin … sterben nach ihrem Tod … keine Eier mehr …
Die Häuser fliehen wie träge Geier! Jetzt isses aus. Wir präsentieren Ihnen … und plötzlich reißt der Himmel auf. FOTO 4! Ein schmuckes Vorstadt-Haus. Gepflegte Frau, noch keine 40. Kannstse nich mehr sehn, die Frau, issn Ungeheuer! Echtleder-Businessdress, barbarisch cool, sauteuer: Frau Cutter! Managerin in einem führenden Real Life Real Estate-Unternehmen.
„Anabel Cutter“, surrt ein Drohnen-Plastikstimmchen.
Frau Cutter ist allein. Jeden Abend – besonders, wenn sie nicht alleine ist (krieg’s in Griff, den Alkohol. Nur noch die Beförderung.) … Hasstse, die Frau Cutter, könnste kotzen, mit der kannste … mit der haste nie nen Staat machen könnn! Frau Cutter lässt sich nicht unterkriegen – vor allem nicht von Männern! Hast se schon immer gehasst … Steht eher so auf … barely legal Teengirl-Kitsch, junge Puppenfotzen … Frau Cutter war betrunken, exzellenter Wein, fühlte sich ausgenutzt und ungeliebt wie nie. Hat sie rausgeschmissen. Kein Spaß: vom Sitz getreten! (Weiße Schuppen, dunkles Leder.) Und ihren kleinen Welpen … den hat sie hinterhergeworfen. „Du hast mir nüscht bezahlt, Drecks Money-Bitch! Ick bleib hier stehn!“ Weißt noch, was du geschrien, als du Gas …? Warste nich! Das warste nich! „Dein scheiß Drecksvieh hat mich gebissen“, hast du geschrien, warst von Sinnen. Warste … biste nich! … kranke Ameisen … vorm Tod … Nest verlassen … ist für die Arterhaltung …