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Kultur trotz Corona: „Evolution im Tunnelblick“. Von Nikolai Vogel

Nikolai Vogel (* 1971 in Münchenlebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschienen sein 2520 Verse umfassender Gedichtband Fragmente zu einem Langgedicht im gutleut Verlag (2019) und sein 200-seitiges Gedicht Vielzweckbuch in der edition offenes feld (2021). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Text beteiligt sich Nikolai Vogel an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Evolution im Tunnelblick

In der U-Bahn lauter Zombies. Starren in ihre Smartphones. Wenigstens liegt nicht mehr so viel Zeitung herum wie früher. Na gut, manchmal konnte man die ja noch lesen. Einen Augenblick abtauchen, abschweifen, sich ablenken lassen von irgendeiner, längst vergessenen Schlagzeile. Aber meistens waren es nur noch irgendwelche milzigen Innereien. Die Werbebeilagen, der Immobilienteil – oder das ganze Blatt ein einziger Müll. Wollte man nicht anfassen. Las man aus dem Gegenüber mit. Bruchstücke. Umgeblätterte Seiten. Geraschel. Was von der Welt hineinkam. Die Geschichten um Ruhm und Ehre. Träumereien von einem anderen, erfolgreichen Leben. Die Reichen, der Adel, die Augenweiden. Und mehr noch die Morde, Abstürze, Schlüssellochgeschichten. Meist für die niedrigen Sinne. Davon, was anderen widerfahren ist. Nicht schön. Aber die Gesichter dahinter wenigstens nicht mehr sichtbar. Nicht so wie heute. Alle in diesem fahlen Licht. Angestrahlt und die starren Augen im nach unten geneigten Blick. Die gekrümmten Hälse. Hände verkrampft. Alle zu groß irgendwie für die Apparatur. Ferngesteuert. Gebannt. Völlig weg und ganz bei sich. Nicht so wie ich nur den eigenen Gedanken überlassen. Die Langeweile weggewischt. Und ich sitze da und habe nichts in der Hand. Schaue raus durchs Fenster, nur da ist nichts. Bloß der schwarze Schacht, Tunnel, Fahrt. Bis zur nächsten Station. Etwas Licht. Zombies steigen aus. Zombies steigen zu. Ich sitze da und starre sie an. Sie starren ins Nirgendwo. Irgendwo hinter den Bildschirmen in ihren Händen. Hallo! Irgendjemand hier. Na, dann nicht. Und ich will sowieso meine Ruhe. Brav sind sie ja alle. Wie früher die mit den Büchern. Aber die waren wirklich in ihrer Welt. Die haben nicht dauernd nach den anderen gelangt. Die, die nicht da sind. Und sind selbst nicht mehr da. Sag mir, dass ich schön bin. Nein, tippe mir … Sind ja alle stumm. Knöpfe im Ohr, höchstens. Die Sinne auf Remote. Das Gegenüber ist nicht mehr hier. Ich bin nicht mehr hier. Ich bin nur Zufall. Und Gespräche. Gab es außen herum. Früher. Auch die mit den Büchern. Haben gelegentlich hochgeblickt. Und einen Blick gesehen. Manchmal hat jemand was gefragt. Nach dem Weg. Nach der Uhrzeit. Oder dem Wetter. Oder Unsinn gelabert. Musste einfach was los werden. Und der Alkohol. Die mit dem Bier. Oder Schnaps. Übernächtigte. Welche mit Liebeskummer. Oder albernes Rumgekicher, Lachanfälle. Vom Leben erzählen. Die mitgeschleppten Dinge. Tüten, Taschen, Kisten, Leisten, Bilder, Farbe, ein kompletter Hausrat. Verfahren. Falsch umgestiegen. Eine ganze Welt. Und nun – Zombies. Sind irgendwo unterwegs. Nur nicht hier. Daumentier. Schaue raus durchs Fenster, aber da ist nichts, außer der Spiegelung meines eigenen Gesichts.

Was ist jetzt? Die schauen alle so erschreckt. Ich will es auch wissen. Was ist los? Wie versteinert. Ist was passiert? Katastrophe. Jetzt sagt doch was! – Nehmen mich gar nicht wahr. Wie aus der Zeit gefallen. Es wird dunkel. Stromausfall? Quietschen da Bremsen? Fahren wir schneller? Ich sehe nichts. Warum ist es so still? Angehaltener Atem. Beschleunigter Puls. Bin ich allein? Notbremse? Notruf. Auf der Wählscheibe die 110 oder die 112? Das Tackern der Relais. Die zwischen leere Joghurtbecher gespannte Schnur. Das Gespräch über die Entfernung. Ich bin ein Phonograph und meine Mutter war ein Graphophon. Oder andersrum. Die Geheimbotschaften. Enigma. Codes und all die verschiedenen Stecker. Das erste Mal. Ihr Mund. Halt mich fest. So lange schon. Ich will nicht allein sein. Hallo. Ich will nicht. Allein sein. Die Welt ist stumm. Alles Welle. Alles Teilchen. – Nein, alles gut. Licht wieder an. Gott sei Dank. Wir fahren.

Moment? Aber die haben jetzt ja alle Brillen auf? Und ihre Bildschirmtelefone sind verschwunden. Sitzen aufrechter. Aber stieren immer noch in sich hinein. Ich winke mal … Nichts. Keine Reaktionen. Zombies! Manche wackeln ganz leicht mit dem Kopf. Brillen also. Schwarze Brillen. Undurchsichtig. Habe da wohl was nicht mitbekommen. Ist schon so weit. Bekommen es auf die Netzhaut gestrahlt. Das Auge als Leinwand. Na schön. Möchte aber doch gerne wissen, wo ihr seid. Aber dafür bräuchte ich auch eine. Brille. Brillenschlange. Adam und Eva. Apfel. Turing-Test. Dass die wohin müssen? Ob die überhaupt wohin müssen? Sind ja überall. Alles anwesend. Nur sie nicht hier. Wie ihre eigenen Hüllen. Die Welt hinein lassen. Die Welt vorbeiziehen lassen. Wie lange fahren wir denn noch? – Schon wieder ruckelt es so. Halt mich fest! Flackerndes Licht. Mir rumort es im Magen.

Und jetzt sind die Brillen weg. Na also. Sitzen da wie ich. Zumindest fast. Ich schaue sie an. Sie mich nicht. Die blicken immer noch so ins Leere. Und ihre Pupillen spiegeln. Sind nicht ansprechbar. Sind unterwegs. So gläsern. Meine Zombies. Ich hab euch lieb. Was macht die Welt, sagt es mir doch. Und schauen mich an und schauen durch mich durch. Ich bin da. In der U-Bahn. Im Tunnel. Ich könnte schreien. Kommt, sagt was, erzählt mir was Neues. Nur flackerndes Licht. Und die Gesichter? Die sind doch viel glatter? Und die Hände ganz anders geformt. Was ist mit den Augen passiert? Die sind so klein. Nein, da ist Haut drüber. Milchig. Aber sitzen da wie vorher. Der hier hört offensichtlich Musik. Aber kein Kopfhörer. Was ist mit seinen Ohren passiert? Wo sind die? Zombies. Wann sind wir da? Ach, kommt doch. Milchig. Und ich schaue raus durchs Fenster, aber den Tunnel sehe ich nicht. Nur mich. Und ich bin auch durchsichtig, irgendwie. Selbstgespräch. Kein Gegenüber. – Das Licht, Aussetzer wieder. Stroboskopfahrt.

Meine Augen sind offen. Und ihre auch. Ich sehe es doch. Die müssen im Nebel leben. Überblendung. Gerade noch milchig, aber da ist doch jetzt richtig Haut drüber. Über der Pupille, über der Iris. Und die Lider verschwunden. Aber die sehen. Ich sehe es. Die sehen. Nur mich schauen sie nicht an. Die schauen anderswo in die Welt. Und manche bewegen ganz leicht ihre Lippen. Dünne Lippen. Blutleer. Da zuckt ab und an was die Wange hoch. Aber bei vielen überhaupt keine Mimik. Ich will jetzt hier raus. Oder wissen, was los ist. Wohin die Reise geht. Die haben alle ihr Bild, nur für mich ist es völlig blind. Ich sehe gar nichts. Ich bin gar nicht hier. Doch! Ich bin der Einzige, der wirklich noch hier ist. Nur hier ist. Und ihr? Zombies. Nicht hier, nicht wirklich. In diesem Raum, dieser U-Bahn. Ihr seid irgendwo. Denkt ihr. Ihr seid irgendwann. Denkt ihr. Die Haut ist ganz weiß, fast transparent. Ihr müsst mehr essen, vielleicht. In die Sonne gehen. Na gut, wir sind im Tunnel. Immer noch. Tunnel. Lange Fahrt. Tunnelblick. Ich hoffe, ihr amüsiert euch? Schon gut, ihr müsst nicht mit mir reden. Ich bin nicht hier. Und ihr auch nicht. Was für eine Begegnung. Ich rechne nicht mehr mit euch. Und ihr, ihr lasst rechnen, für euch. Ich starre euch an. Ihr starrt durch mich durch. Am Raum vorbei. Und auf die Beleuchtung hier ist wirklich kein Verlass mehr. Funzel. Schon wieder aus. An. Aus. An.

Wo sind sie hin? Da. Ich sehe euch noch. Fast durchsichtig. Nur mehr zu erahnen. Lichtbrechung. Silhouetten. Schemen. Sitzen da wie eh und je. Starren. Geht es euch gut? Wo seid ihr? Was seht ihr? Wer mag euch? Alles im Lot? Bin ich alleine oder kann ich noch auf euch zählen? Bin ich überhaupt noch hier? Ich? Habt ihr mich aufgelöst? Wohin bin denn ich unterwegs? Bin ich der Zombie? Habt mich einfach zurückgelassen. Vergessen. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir fahren, nur das Gefühl, dass Zeit vergeht.