Kultur trotz Corona: „leerraum für zwei“. Ein unveröffentlichter Text von SAID (1947-2021)
Der erst kürzlich am 15. Mai 2021 in München verstorbene, aus Teheran stammende Schriftsteller SAID kam 1965 als Student in die bayerische Landeshauptstadt. Nach dem Sturz des Schah 1979 kehrte er wieder zurück in seine iranische Heimat, sah aber unter dem Regime der Mullahs keine Möglichkeit zu bleiben. Seither lebte er in München – als deutschsprachiger Dichter aus dem Iran. Von 1995 bis 1996 war er Vizepräsident, von 2000 bis 2002 Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums. Für sein literarisches Schaffen in deutscher Sprache erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Preis (2002), den Literaturpreis des Freien Deutschen Autorenverbands (2010), den Friedrich-Rückert-Preis (2016) und zuletzt den Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur (2017).
Heute, am 27. Mai hätte SAID seinen 74. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass publiziert das Literaturportal Bayern einen bislang unveröffentlichten Text, mit dem sich SAID im Rahmen von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender, beteiligt hatte. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
leerraum für zwei
er kniete vor der tapetentür und zog ihr die schuhe und strümpfe aus. edith schwieg und genoß seine geschickten hantierungen.
plötzlich sagte sie.
- machen wir das licht aus.
ihre stimme klang unbeherrscht.
- aller anfang entsteht im dunkeln.
sie sprach die worte halb für sich.
- am anfang stelle ich mich auf den geruch ein, bis ich überwältigt bin.
vielleicht weil sie keine schuhe anhatte, legte sie beide hände auf den hintern und drückte die brüste nach vorne.
er wählte als ruhepunkt für sein auge das muttermal an ihrem unterarm.
edith wußte bereits, daß hier der besiegte weiterkommt.
jeder ist hier an seinem platz. der mann im cutaway, die frau in einem engen kleid. sie wissen nur eines: wer sich zuerst rührt, verliert.
nach einer weile mochte edith erkannt haben, daß ihr nichts blieb, als die leeren handflächen vorzuzeigen. er reagierte nicht und dachte.
- hier fehlt ein raum zur betrachtung.
edith brach das schweigen.
- nur die wollust, die das leben mit der erkenntnis verbindet, beherrscht die liebenden.
er erwiderte.
- sonst steht ein kaltes wissen im raum.
sie resümierte.
- da jede illustrierende gebärde fehlt.
jetzt schwiegen beide, als hätten sie angst vor dem kommenden wort.
edith wagte sich vor.
- statistische wahrheiten nehmen mir die letzte möglichkeit, unvernünftig zu sein.
langsam näherte er sich und streichelte ihre hände, die das hinterteil zu verteidigen schienen.
er taxierte diesen körper, der sich einer betrachtung kaum entzog.
sie rechtfertigte sich.
- weil ich an einen wirklichen unterschied zwischen innen und außen nicht glaube, werde ich mich entblößen.
edith bückte sich, griff zum saum des kleids und zog es hoch. nun stand sie nackt vor ihm, das kleid in der hand, verlegen.
beide wissen, wie das urteil im falle einer verfehlung lautet:
die aufforderung zu einer autobiographie. dann drängt der innere trieb bis zu äußeren weiterungen.
da er nichts tat, sagte sie.
- zum ersten mal habe ich dich durch ein offenes fenster gesehen
er nahm ihr das kleid ab, warf es gegen die wand und griff zu den brüsten. sie sind groß, bebend und wissen nicht wohin.
er zog den cuteaway aus, dann die weste und behauptete.
- jeder weg hat seine würde und ist immer mehr als ein sieg.
sie antwortete mit einer zitterstimme.
- es muss nur der windstoß kommen, der auf uns lauert.
sie gestand, sie sei belastbar. beim richtigen griff würde sie durch den raum schweben und die gesetze außer acht lassen.
er knöpfte das hemd auf und fragte etwas.
- meine schwächen? oh, schwer zu sagen, wir werden sehen.
er nahm sich wieder die brüste vor, einzeln. er glaubte fest daran, seine küsse würden sie beruhigen.
edith stöhnte.
- irgendwann müßte man sich entscheiden, mensch zu bleiben oder ein tier zu werden.
wieder stellte er eine frage.
- welches tier? auch das müßte ich allein entscheiden?
sie drehte sich um und bot dem mann und seiner nacktheit ihren hintern an.
- wenn ich aus diesem vergessen erwache, lasse ich eine erinnerung, eine verwirrung an seiner stelle blühen.
er hielt ihren hintern fest, auf daß sie nicht durch das fenster hinausflöge.
- wir müssen neue schritte erfinden, selbst wenn sie gegen uns gerichtet sind.
sie schrie auf und hoffte auf seinen griff –
er hielt sie lange.
sie richtete sich auf, drehte sich um und küßte seine brust.
sein antwortkuß landete auf dem muttermal.
edith nahm ihn bei der hand und führte ihn zum fenster, stumm.
ein hinterhof, trist und leer.
sie legte die hand auf seine schulter und erzählte von dieser leere.
daß sie erregt war, blieb ihm nicht verborgen.
sie erzählte –
seine hand suchte auf ihrem rücken nach irgendetwas.
Kultur trotz Corona: „leerraum für zwei“. Ein unveröffentlichter Text von SAID (1947-2021)>
Der erst kürzlich am 15. Mai 2021 in München verstorbene, aus Teheran stammende Schriftsteller SAID kam 1965 als Student in die bayerische Landeshauptstadt. Nach dem Sturz des Schah 1979 kehrte er wieder zurück in seine iranische Heimat, sah aber unter dem Regime der Mullahs keine Möglichkeit zu bleiben. Seither lebte er in München – als deutschsprachiger Dichter aus dem Iran. Von 1995 bis 1996 war er Vizepräsident, von 2000 bis 2002 Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums. Für sein literarisches Schaffen in deutscher Sprache erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Preis (2002), den Literaturpreis des Freien Deutschen Autorenverbands (2010), den Friedrich-Rückert-Preis (2016) und zuletzt den Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur (2017).
Heute, am 27. Mai hätte SAID seinen 74. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass publiziert das Literaturportal Bayern einen bislang unveröffentlichten Text, mit dem sich SAID im Rahmen von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender, beteiligt hatte. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
leerraum für zwei
er kniete vor der tapetentür und zog ihr die schuhe und strümpfe aus. edith schwieg und genoß seine geschickten hantierungen.
plötzlich sagte sie.
- machen wir das licht aus.
ihre stimme klang unbeherrscht.
- aller anfang entsteht im dunkeln.
sie sprach die worte halb für sich.
- am anfang stelle ich mich auf den geruch ein, bis ich überwältigt bin.
vielleicht weil sie keine schuhe anhatte, legte sie beide hände auf den hintern und drückte die brüste nach vorne.
er wählte als ruhepunkt für sein auge das muttermal an ihrem unterarm.
edith wußte bereits, daß hier der besiegte weiterkommt.
jeder ist hier an seinem platz. der mann im cutaway, die frau in einem engen kleid. sie wissen nur eines: wer sich zuerst rührt, verliert.
nach einer weile mochte edith erkannt haben, daß ihr nichts blieb, als die leeren handflächen vorzuzeigen. er reagierte nicht und dachte.
- hier fehlt ein raum zur betrachtung.
edith brach das schweigen.
- nur die wollust, die das leben mit der erkenntnis verbindet, beherrscht die liebenden.
er erwiderte.
- sonst steht ein kaltes wissen im raum.
sie resümierte.
- da jede illustrierende gebärde fehlt.
jetzt schwiegen beide, als hätten sie angst vor dem kommenden wort.
edith wagte sich vor.
- statistische wahrheiten nehmen mir die letzte möglichkeit, unvernünftig zu sein.
langsam näherte er sich und streichelte ihre hände, die das hinterteil zu verteidigen schienen.
er taxierte diesen körper, der sich einer betrachtung kaum entzog.
sie rechtfertigte sich.
- weil ich an einen wirklichen unterschied zwischen innen und außen nicht glaube, werde ich mich entblößen.
edith bückte sich, griff zum saum des kleids und zog es hoch. nun stand sie nackt vor ihm, das kleid in der hand, verlegen.
beide wissen, wie das urteil im falle einer verfehlung lautet:
die aufforderung zu einer autobiographie. dann drängt der innere trieb bis zu äußeren weiterungen.
da er nichts tat, sagte sie.
- zum ersten mal habe ich dich durch ein offenes fenster gesehen
er nahm ihr das kleid ab, warf es gegen die wand und griff zu den brüsten. sie sind groß, bebend und wissen nicht wohin.
er zog den cuteaway aus, dann die weste und behauptete.
- jeder weg hat seine würde und ist immer mehr als ein sieg.
sie antwortete mit einer zitterstimme.
- es muss nur der windstoß kommen, der auf uns lauert.
sie gestand, sie sei belastbar. beim richtigen griff würde sie durch den raum schweben und die gesetze außer acht lassen.
er knöpfte das hemd auf und fragte etwas.
- meine schwächen? oh, schwer zu sagen, wir werden sehen.
er nahm sich wieder die brüste vor, einzeln. er glaubte fest daran, seine küsse würden sie beruhigen.
edith stöhnte.
- irgendwann müßte man sich entscheiden, mensch zu bleiben oder ein tier zu werden.
wieder stellte er eine frage.
- welches tier? auch das müßte ich allein entscheiden?
sie drehte sich um und bot dem mann und seiner nacktheit ihren hintern an.
- wenn ich aus diesem vergessen erwache, lasse ich eine erinnerung, eine verwirrung an seiner stelle blühen.
er hielt ihren hintern fest, auf daß sie nicht durch das fenster hinausflöge.
- wir müssen neue schritte erfinden, selbst wenn sie gegen uns gerichtet sind.
sie schrie auf und hoffte auf seinen griff –
er hielt sie lange.
sie richtete sich auf, drehte sich um und küßte seine brust.
sein antwortkuß landete auf dem muttermal.
edith nahm ihn bei der hand und führte ihn zum fenster, stumm.
ein hinterhof, trist und leer.
sie legte die hand auf seine schulter und erzählte von dieser leere.
daß sie erregt war, blieb ihm nicht verborgen.
sie erzählte –
seine hand suchte auf ihrem rücken nach irgendetwas.