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13.05.2021, 15:04 Uhr
Doris Dörrie
Text & Debatte
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© Amrei-Marie, CC BY-SA 4.0

Ernst-Hoferichter-Preis: Doris Dörries Laudatio auf Barbara Yelin

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© Martin Friedrich

In die Zeichnungen von Barbara Yelin kann man abtauchen wie in immer andere Gewässer: Mal sind sie still und kontemplativ, zart, mal wild und stürmisch. Sie erzählt mit Vorliebe Geschichten von Widersprüchen, Ambivalenzen und Brüchen, z.B. von der Deutschen Irmina, die sich in den 30er Jahren in London in einen jungen Mann aus der Karibik verliebt, aber es nicht schafft, der Naziideologie zu widerstehen. Diese Geschichte basiert auf der Biografie der Großmutter von Barbara Yelin und stellt uns allen die Frage: Wie lebt man mit dem Widerspruch in sich selbst?

Diese Charakterfrage stellt Barbara Yelin einer Giftmörderin im 19. Jahrhundert ebenso wie einer alten Frau und Astrophysikerin oder der israelischen Schauspielerin und Friedenskämpferin Channa Maron. Immer wieder die Frage nach dem Menschen und der Absicht seiner Seele.

Manchmal erzählt sie zusammen mit anderen Autoren wie Thomas von Steinaecker oder Alex Rühle, und jedes Mal versenkt sie sich tief in die Geschichte, liebt die Recherchearbeit, das Kennenlernen von Figuren in ihrer Zeit und ihrer Welt. Während sie zeichnet, lernt sie über Geschichte und ihre Zusammenhänge und über das Leben allgemein. Sie liebt dieses Lernen. Und genau das spürt man, dieses aufregende Kribbeln in ihrem Erzählen, das sich vorsichtig herantastet, von einem Bild zum nächsten. Sie selbst sagt, sie zeichnet Licht und Schatten und alles dazwischen. Meist arbeitet sie analog, baut ihre Bilder Schicht um Schicht auf, ihr Zeichenprozess ist ein Forschungsprozess. Sie lehrt uns schieres Schauen, umgarnt uns mit der Schönheit ihrer Bilder, ihrem eleganten und gleichzeitig klaren Strich, ihrer oft ganz neuen Art, Text und Bilder zusammenzusetzen. 

Diese Verschränkung macht das Magische aus, das Besondere ihres Genres der Graphic Novel, deren Grenzen sie immer wieder austestet. Sie zieht uns hinein in ihre Bilder, wir sind als Betrachter*innen im Bild. Und staunen. Immer wieder probiert sie Neues aus, auch den Zufall, wenn die Wasserfarbe verläuft und neue Strukturen erschafft. Wenn wenige Striche ganz viel zeigen können. Nie gibt es Routine. Immer sucht sie. Auch die Projekte sucht sie selbst aus. Oft sind sie politisch, historisch, wie das aktuelle Projekt über und mit Emmie Arbel, die mit sechs Jahren ins Konzentrationslager kam.

In ihrem Kurz-Comic „Es passiert“ hat sie über die Flüchtlingskrise berichtet. Den Widerspruch unseres Lebens hat sie in zwei riesige Bilder gefasst, die am Lenbachplatz aufgespannt waren: auf der einen Seite eine lächelnde Mutter im Park im Badeanzug mit ihrem Baby im Arm an einem schönen Sommertag, auf der anderen Seite ein Flüchtender im Meer mit seinem Kind in einer Rettungsweste im Arm, zu seinen Füßen schwimmen Rettungswesten ohne Menschen darin. In nur zwei Bildern zeigt sie uns die Gleichzeitigkeit von Glück und Elend, Reichtum und Armut, und unsere  Weigerung, die andere Seite zu sehen. Barbara Yelin fordert uns auf, hinzuschauen. Und wir schauen tatsächlich hin, weil ihre Bilder so zart und eindringlich sind. Den Kontext schaffen wir, die Betrachter*innen selbst. Das ist wahre Meisterschaft. Zeichnen bedeutet hinschauen.

Wie ist sie dazu gekommen? Als Kind künstlerisch begabt, gefördert von den Eltern, hat sie viel gezeichnet, lange Zeit Ponys, dann die Mitschülerinnen skizziert, bis sie als Teenager mit einem Mal gespürt hat, dass das Zeichnen ganz eigener Ausdruck sein kann. Ihr ganz und gar eigener. Zu unserem und auch ihrem großen Glück hat sie dieses Geschenk begriffen und angenommen. An der FH Hamburg hat sie Illustration studiert, aber wenn man angesichts der vielen Preise und Ehrungen meint, es sei von da an ein leichter Weg gewesen, täuscht man sich gewaltig.

Jahrelang hat sie keinerlei Aufmerksamkeit für ihre Geschichten bekommen. Sie war eine der wenigen Frauen, die Comics gezeichnet haben. Es gab kaum Vorbilder und wenig Geld. Immer wieder hat sie sich dafür eingesetzt, dass sich das ändert, was viel Kraft gekostet hat.

Jetzt anerkannt und etabliert, kämpft sie immer noch täglich mit der großen Lücke, die zwischen der Erwartung der „alten“ Comic-Leserschaft und der Skepsis der Hochkultur klafft. Für die alten Hasen ist ihre Arbeit zu abgehoben und kein echter Comic. Für die Literatur sind Comics wie die ihren weiterhin ein Spezialfall, der nur ausnahmsweise anerkannt und selten gefördert wird. Wünsche hat sie viele: mehr Selbstverständnis dem Medium Comic gegenüber. Ganz konkret für München und Bayern mehr Förderung und Sichtbarkeit der Erzählform Comic, Comicstipendien und integrierte Studiengänge an den Kunstakademien und der Designhochschule wie in Hamburg oder Berlin. Mehr Comics in den Buchläden wäre schön, und dort gleichberechtigt präsentiert zu werden.

Als Mutter würde sie gern weniger arbeiten, aber die Bücher brauchen den vollen Einsatz, und deshalb hat sie jetzt immer Augenringe. Das Zeichnen ist extrem zeitintensiv. Am sehnlichsten wünscht sie sich deshalb mehr Zeit und mehr Schlaf.

Wir hingegen wünschen uns mehr, mehr, mehr Geschichten von Barbara Yelin, mehr von ihren fantastischen und komplexen Bilderwelten, mehr von ihren aufregenden, beglückenden Forschungsreisen. Wer das Glück hat, einen ihrer Zeichenkurse und Workshops zu besuchen, schwärmt von ihrer ruhigen, geduldigen, klaren Art, das Hinschauen zu lehren. Michelangelo hat von Künstler*innen gefordert, den Menschen zu malen und die Absicht der Seele. Und genau das macht  Barbara Yelin.

Externe Links:

Website Barbara Yelin