Tiny Stricker und wie er die Welt sieht
Die 142. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema kostbar. Klaus Hübner schreibt darin über den München- und Reiseroman von Tiny Stricker.
*
Das Cover zeigt den U-Bahnhof Westfriedhof, und der ist »wie eine Disco, nur dass die Spezialeffekte angehalten und verlängert sind«. Ein »zauberhafter Ort« also, zumindest für sensible U-Bahn-Reiter, denen die U-Bahn »so etwas wie die Seele der ganzen Stadt« ist. »U-Bahn-Fahrten, manchmal und zu bestimmten Stunden war es wirklich ein Eintauchen in eine andere Welt, eine Art Eleusis, einen Raum der Seele, die Stationen schon verwunschene, überwachsene Tempel ... Die Personen sind hier auf eigenartige Weise ›bei sich‹, geben sich dadurch auch preis, verletzlich, wie sie sind«. Gesten, Blicke, Satzfetzen, Dresscodes, Gesichter, Stimmungen – niemals war U-Bahn-Fahren so aufregend wie im neuen Buch von Tiny Stricker. Das Herumschlendern in der Hirschau, am Nymphenburger Kanal oder im Westpark, ein Aufenthalt in der Kneipe oder ein Ausflug ins Kino auch nicht. Selbst ein Besuch beim Frisör wird zu einem prickelnden Erlebnis. Wie kommt es, dass dieser erstaunliche Münchner Autor, dessen Werkausgabe jedes Jahr umfangreicher wird, seine Leserschaft nicht nur wachrütteln und sinnlich beleben, sondern bannen, einlullen, ja geradezu verzaubern kann? Zunächst: Er wertet nicht, sondern schreibt auf, was er sieht. Phänomenologisches Erzählen. Das allerdings mit außergewöhnlichem Sinn für Rhythmus und Klang. Und mit zahlreichen fast lyrisch anmutenden Passagen. Präzision und Seele. Menschen, Dinge oder Bewegungen, die der Großstadtbewohner sonst nur so nebenbei mitkriegt, die ihn eigentlich nur am Rande interessieren und die er vielleicht mit fertigen Meinungen oder gepflegten Vorurteilen abtut, werden plötzlich höchst interessant. Die Welt als Bühne. Ist der Alltag vielleicht doch voller Geheimnisse? Voller Wunder sogar? Hat die Station Giselastraße etwas von einem versunkenen Schiff oder einem verborgenen Tempel am Strand bei Korinth? Ist der Eichendorffplatz wirklich nur langweilig? Wieso kann die verblichene Kopie einer Besprechung in einem Restaurantfenster in der Barer Straße zu Tränen rühren? Tiny Stricker sieht München anders, mit an der Antike und der Klassik geschulten Augen. Menander, Herondas, Wieland und andere Autoren haben ihre Auftritte. Ist das das Entscheidende?
Oder sind es die vielen interkulturellen Begegnungen, die Tiny Stricker sehr aufmerksam registriert? »Vermutlich spricht sie noch wenig Deutsch, denke ich, verlässt sich auf die Sprache der Blicke, die ihr aus ihrem Kulturkreis heraus gut vertraut ist ...« Oder: »Die Chinesin spricht sehr schön Deutsch, man muss aber genau hinhören, weil sie eine ganz andere Intonation hat, die Sprache ist wie ein fließendes, ineinandergleitendes Gewebe, bestimmte Wörter sind so schwach betont, dass sie wie hinter einem Wandschirm gesprochen sind.« Dass der Autor selbst nicht nur in einer Kultur lebt, verleiht seinen Prosaskizzen jedenfalls einen ganz eigentümlichen Reiz. Auch die Beobachtungen auf seinen Reisen mit der Freundin, nach Weimar, Sarajevo und Split oder in die Chiemgauer Alpen, öffnen sich durch die Zauberkraft der Sprache weit in die Zeit und tief in den Raum. Multipel codiert, wie die Kulturwissenschaftler sagen würden. Bei einem simplen Spaziergang durch den Englischen Garten im stürmischen Aprilwetter ist man plötzlich in Bhutan: »Sogar die Plastiktüten hoch oben in den Ästen sehen jetzt gut aus, weil sie die Macht des Windes anzeigen. Eigentlich haben sie etwas von flatternden Tempelfahnen.« Oder man gelangt von den im Park wuchernden Herbstzeitlosen ganz zwanglos an die Ostküste des Schwarzen Meeres: »In meinem Bestimmungsbuch heißt die Blume ›Colchicum autumnale‹, nach Kolchis, dem sagenhaften Land des Goldenen Vlieses, aber auch der Giftmischerin Medea.« Genug der Zitate – es fällt wirklich nicht leicht, dem Sog dieses Prosastroms zu entkommen. Wer Tiny Stricker bereits aus anderen Büchern kennt, mit dem U-Bahn-Reiter lernt er ihn neu kennen. Lesen!
Tiny Stricker: U-Bahn-Reiter (= Werkausgabe Bd. 11). verlag p.machinery, Winnert 2020, 196 S., € 21,90
Tiny Stricker und wie er die Welt sieht>
Die 142. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema kostbar. Klaus Hübner schreibt darin über den München- und Reiseroman von Tiny Stricker.
*
Das Cover zeigt den U-Bahnhof Westfriedhof, und der ist »wie eine Disco, nur dass die Spezialeffekte angehalten und verlängert sind«. Ein »zauberhafter Ort« also, zumindest für sensible U-Bahn-Reiter, denen die U-Bahn »so etwas wie die Seele der ganzen Stadt« ist. »U-Bahn-Fahrten, manchmal und zu bestimmten Stunden war es wirklich ein Eintauchen in eine andere Welt, eine Art Eleusis, einen Raum der Seele, die Stationen schon verwunschene, überwachsene Tempel ... Die Personen sind hier auf eigenartige Weise ›bei sich‹, geben sich dadurch auch preis, verletzlich, wie sie sind«. Gesten, Blicke, Satzfetzen, Dresscodes, Gesichter, Stimmungen – niemals war U-Bahn-Fahren so aufregend wie im neuen Buch von Tiny Stricker. Das Herumschlendern in der Hirschau, am Nymphenburger Kanal oder im Westpark, ein Aufenthalt in der Kneipe oder ein Ausflug ins Kino auch nicht. Selbst ein Besuch beim Frisör wird zu einem prickelnden Erlebnis. Wie kommt es, dass dieser erstaunliche Münchner Autor, dessen Werkausgabe jedes Jahr umfangreicher wird, seine Leserschaft nicht nur wachrütteln und sinnlich beleben, sondern bannen, einlullen, ja geradezu verzaubern kann? Zunächst: Er wertet nicht, sondern schreibt auf, was er sieht. Phänomenologisches Erzählen. Das allerdings mit außergewöhnlichem Sinn für Rhythmus und Klang. Und mit zahlreichen fast lyrisch anmutenden Passagen. Präzision und Seele. Menschen, Dinge oder Bewegungen, die der Großstadtbewohner sonst nur so nebenbei mitkriegt, die ihn eigentlich nur am Rande interessieren und die er vielleicht mit fertigen Meinungen oder gepflegten Vorurteilen abtut, werden plötzlich höchst interessant. Die Welt als Bühne. Ist der Alltag vielleicht doch voller Geheimnisse? Voller Wunder sogar? Hat die Station Giselastraße etwas von einem versunkenen Schiff oder einem verborgenen Tempel am Strand bei Korinth? Ist der Eichendorffplatz wirklich nur langweilig? Wieso kann die verblichene Kopie einer Besprechung in einem Restaurantfenster in der Barer Straße zu Tränen rühren? Tiny Stricker sieht München anders, mit an der Antike und der Klassik geschulten Augen. Menander, Herondas, Wieland und andere Autoren haben ihre Auftritte. Ist das das Entscheidende?
Oder sind es die vielen interkulturellen Begegnungen, die Tiny Stricker sehr aufmerksam registriert? »Vermutlich spricht sie noch wenig Deutsch, denke ich, verlässt sich auf die Sprache der Blicke, die ihr aus ihrem Kulturkreis heraus gut vertraut ist ...« Oder: »Die Chinesin spricht sehr schön Deutsch, man muss aber genau hinhören, weil sie eine ganz andere Intonation hat, die Sprache ist wie ein fließendes, ineinandergleitendes Gewebe, bestimmte Wörter sind so schwach betont, dass sie wie hinter einem Wandschirm gesprochen sind.« Dass der Autor selbst nicht nur in einer Kultur lebt, verleiht seinen Prosaskizzen jedenfalls einen ganz eigentümlichen Reiz. Auch die Beobachtungen auf seinen Reisen mit der Freundin, nach Weimar, Sarajevo und Split oder in die Chiemgauer Alpen, öffnen sich durch die Zauberkraft der Sprache weit in die Zeit und tief in den Raum. Multipel codiert, wie die Kulturwissenschaftler sagen würden. Bei einem simplen Spaziergang durch den Englischen Garten im stürmischen Aprilwetter ist man plötzlich in Bhutan: »Sogar die Plastiktüten hoch oben in den Ästen sehen jetzt gut aus, weil sie die Macht des Windes anzeigen. Eigentlich haben sie etwas von flatternden Tempelfahnen.« Oder man gelangt von den im Park wuchernden Herbstzeitlosen ganz zwanglos an die Ostküste des Schwarzen Meeres: »In meinem Bestimmungsbuch heißt die Blume ›Colchicum autumnale‹, nach Kolchis, dem sagenhaften Land des Goldenen Vlieses, aber auch der Giftmischerin Medea.« Genug der Zitate – es fällt wirklich nicht leicht, dem Sog dieses Prosastroms zu entkommen. Wer Tiny Stricker bereits aus anderen Büchern kennt, mit dem U-Bahn-Reiter lernt er ihn neu kennen. Lesen!
Tiny Stricker: U-Bahn-Reiter (= Werkausgabe Bd. 11). verlag p.machinery, Winnert 2020, 196 S., € 21,90