Kultur trotz Corona: Corona-Blog von Lena Gorelik (8)
Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen.
Bereits im Frühjahr 2020 hat Lena Gorelik einen Corona-Blog geschrieben. Mit dem folgenden Text einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern setzt sie ihren Corona-Blog fort und beteiligt sich an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
10.12.2020
Wie ich das mit Weihnachten handhaben will, immer wieder dieselbe Frage. Bis ich wie ein störrisches Kind denke, ich will gar nichts mehr handhaben. Will nicht antworten, und will nicht nachdenken, weil ich mich an dieser christlichen Ausrichtung aller Gedanken seit Wochen schon störe, Hauptsache, Weihnachten ist gerettet. Dieses Weihnachtsfest, von dem die meisten erschöpft und genervt heimkehren, Familien, die wieder gezwungen werden, miteinander am Tisch zu sitzen, und die ewige Frage, was es zu essen gibt, und die nach den richtigen Geschenken und deren Anzahl. Zehn Personen aus zehn Haushalten, an drei Tagen, und dann wieder alles zu. Wochenlang, und dann sitzen wir wieder zuhause, sehen niemanden, sind erschöpft und besorgt und vermutlich einsam. Wie ich das mit Weihnachten handhaben will, immer noch dieselbe Frage.
Und dann sind wir wieder da, wo wir im Frühjahr schon waren, wo jede Entscheidung zählt. Jede noch so kleine Entscheidung, wen treffe ich, wo gehe ich hin, und wen treffe ich nicht. Die Kinder sind eingeladen zu einem Kind, das nicht zu ihrem schulischen Cluster gehört: Muss das sein. Muss es nicht, wahrscheinlich. Wo früher die Frage zählte, wie lang sind sie denn dort, was schaffe ich alles in der Zeit, in der sie nicht da sind. Vergessene Fragen, sind nicht mehr von Bedeutung. Erst nach drei Tagen fällt mir auf: Ich habe das Haus seit drei Tagen nicht mehr verlassen, war nicht mehr an der frischen Luft. Mache alle Fenster im Wohnzimmer auf, lasse die frische Luft hinein.
Vergessene Erinnerungen: Wie wir uns vor einem Jahr nach den Weihnachtstagen zu einem Road Trip aufmachten, nach Den Haag, und zwischendrin Freund*innen besuchten, und uns Amsterdam anschauten, und wie alles funkelte vor Lachen, Umarmungen, zu viel Essen, Gelächter, Nächten, in denen niemand schlief, auch die Kinder nicht. Musik aus unserer Jugend, unzählige Kartenspiele, alles geht ineinander über, die Tage, die Nächte, die Menschen, die Freundschaften, die Erinnerungen driften ins Jetzt. Immer lacht jemand, und immer wieder weint irgendein Kind. Jetzt träume ich von einem Zimmer im Motel One, von diesem kleinen hässlich-türkisen Zimmer und den Fischen, die über den Fernsehbildschirm schwimmen. Träume davon, auf dem Bett zu sitzen, die Fische anzustarren und nicht zu wissen, in welcher Stadt ich bin, weil das Hotel überall sein könnte. Träume davon, überall zu sein.
Kann nicht überall sein, kann ja noch nicht mal guten Gewissens Freund*innen besuchen. Kann nur hier sein und die Fenster aufreißen, und hinausgehen könnte ich auch, tue ich aber nicht. Kaufe stattdessen (naja, bestelle ehrlicherweise) diese im Dunkeln leuchtenden Sterne, um sie an die Zimmerdecke zu kleben. Nicht im Kinderzimmer, im Wohnzimmer. Krame die Schlafsäcke heraus. Plane eine Camping-Nacht auf dem Wohnzimmerboden. Waldgeräusche vom Handy und glühende Sterne an der Decke. Plane auch, in der Nacht aufzustehen, wenn mir der Boden zu hart werden sollte. Plane diese große Reise.
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Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen.
Bereits im Frühjahr 2020 hat Lena Gorelik einen Corona-Blog geschrieben. Mit dem folgenden Text einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern setzt sie ihren Corona-Blog fort und beteiligt sich an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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10.12.2020
Wie ich das mit Weihnachten handhaben will, immer wieder dieselbe Frage. Bis ich wie ein störrisches Kind denke, ich will gar nichts mehr handhaben. Will nicht antworten, und will nicht nachdenken, weil ich mich an dieser christlichen Ausrichtung aller Gedanken seit Wochen schon störe, Hauptsache, Weihnachten ist gerettet. Dieses Weihnachtsfest, von dem die meisten erschöpft und genervt heimkehren, Familien, die wieder gezwungen werden, miteinander am Tisch zu sitzen, und die ewige Frage, was es zu essen gibt, und die nach den richtigen Geschenken und deren Anzahl. Zehn Personen aus zehn Haushalten, an drei Tagen, und dann wieder alles zu. Wochenlang, und dann sitzen wir wieder zuhause, sehen niemanden, sind erschöpft und besorgt und vermutlich einsam. Wie ich das mit Weihnachten handhaben will, immer noch dieselbe Frage.
Und dann sind wir wieder da, wo wir im Frühjahr schon waren, wo jede Entscheidung zählt. Jede noch so kleine Entscheidung, wen treffe ich, wo gehe ich hin, und wen treffe ich nicht. Die Kinder sind eingeladen zu einem Kind, das nicht zu ihrem schulischen Cluster gehört: Muss das sein. Muss es nicht, wahrscheinlich. Wo früher die Frage zählte, wie lang sind sie denn dort, was schaffe ich alles in der Zeit, in der sie nicht da sind. Vergessene Fragen, sind nicht mehr von Bedeutung. Erst nach drei Tagen fällt mir auf: Ich habe das Haus seit drei Tagen nicht mehr verlassen, war nicht mehr an der frischen Luft. Mache alle Fenster im Wohnzimmer auf, lasse die frische Luft hinein.
Vergessene Erinnerungen: Wie wir uns vor einem Jahr nach den Weihnachtstagen zu einem Road Trip aufmachten, nach Den Haag, und zwischendrin Freund*innen besuchten, und uns Amsterdam anschauten, und wie alles funkelte vor Lachen, Umarmungen, zu viel Essen, Gelächter, Nächten, in denen niemand schlief, auch die Kinder nicht. Musik aus unserer Jugend, unzählige Kartenspiele, alles geht ineinander über, die Tage, die Nächte, die Menschen, die Freundschaften, die Erinnerungen driften ins Jetzt. Immer lacht jemand, und immer wieder weint irgendein Kind. Jetzt träume ich von einem Zimmer im Motel One, von diesem kleinen hässlich-türkisen Zimmer und den Fischen, die über den Fernsehbildschirm schwimmen. Träume davon, auf dem Bett zu sitzen, die Fische anzustarren und nicht zu wissen, in welcher Stadt ich bin, weil das Hotel überall sein könnte. Träume davon, überall zu sein.
Kann nicht überall sein, kann ja noch nicht mal guten Gewissens Freund*innen besuchen. Kann nur hier sein und die Fenster aufreißen, und hinausgehen könnte ich auch, tue ich aber nicht. Kaufe stattdessen (naja, bestelle ehrlicherweise) diese im Dunkeln leuchtenden Sterne, um sie an die Zimmerdecke zu kleben. Nicht im Kinderzimmer, im Wohnzimmer. Krame die Schlafsäcke heraus. Plane eine Camping-Nacht auf dem Wohnzimmerboden. Waldgeräusche vom Handy und glühende Sterne an der Decke. Plane auch, in der Nacht aufzustehen, wenn mir der Boden zu hart werden sollte. Plane diese große Reise.