Kultur trotz Corona: „Landschaft der goldenen Mitte“. Von Margit Heumann
Margit Heumann (* 1949 in Vorarlberg) lebte mehrere Jahre in England und der Schweiz und betrieb bis 2007 einen Islandpferdehof in Westmittelfranken. Als Autorin veröffentlichte sie Sachbücher und zahlreiche Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften, aber auch Städtebücher, Schmunzelkrimis und Romane. Heumann engagiert sich bei den Wortkünstlern Mittelfranken (Nürnberg) und scribere et legere (Wien). Sie ist Mitglied im AutorenVerband Franken, bei Literatur Vorarlberg und in der IG Autorinnen und Autoren. Beim 14. Literaturpreis Nordost 2020 belegte sie mit ihrer Erzählung Im falschen Film den 2. Platz. Die Autorin wohnt derzeit in Nürnberg und Wien.
Mit dem folgenden unveröffentlichten Text beteiligt sich Margit Heumann an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Landschaft der goldenen Mitte
Frei schweift der Blick über das ausgebreitete Tal, wird angenehm begrenzt durch bewaldete Kuppen. Hügeliges Land so weit das Auge reicht. Westmittelfranken ist eine Landschaft der goldenen Mitte. Nichts so abrupt wie im Gebirge, nichts so grenzenlos wie in der Ebene.
Braun- und Grüntöne herrschen vor, immer wechselnd im Ablauf der Jahreszeiten. Schmutziges Rotbraun der Äcker und fahles Gelbbraun der Wiesen in den schneearmen Wintern. Im Frühling leuchtendes Grün der neuen Saat. Goldgelb bis rötlich im Sommer, wenn Weizen, Gerste und Hafer reifen, dazwischen weite Flächen mit mannshohem, sattgrünem Mais. Im Herbst dann wieder rotbraune frisch gepflügte Erde, von bunten Laubbäumen durchsetzte Fichten- und Föhrenbestände.
Wälder sind entweder dicht und dunkel, richtige Märchenwälder (oder Rehschlupfwinkel, wenn man Jäger ist), der Boden dicht mit alten Tannennadeln bedeckt. Bei jedem Schritt geben sie nach, gebärden sich wie Moos ohne Moos zu sein. Oder die Bäume stehen licht, lassen Raum für Büsche, Gräser, Heidelbeeren, Waldmeister. Und in regenreichen Sommern schießen die Pilze wie – ja, eben wie Pilze – aus dem Boden.
Einen Fluss gibt es auch: Die Wörnitz. Sie ist hier knapp vier Meter breit und eher ein Bach als ein Fluss. Ich wundere mich über die hohen breiten Brücken, die über dieses friedliche Rinnsal führen. Bis es dauerregnet: Da überschwemmt die Scheinheilige in kürzester Zeit die ebenen Wiesen zu beiden Seiten, zehn, zwanzig, vierzig Meter weit. Ebenso schnell geht sie nach dem Regen zurück und wird wieder zu dem lahmen Bächlein, dem man die Fließrichtung kaum ansieht. Im Gegenteil: bei entsprechendem Wind kräuselt sich die Oberfläche sogar in Richtung Wörnitz, wo – wie einfallsreich! – die Wörnitz entspringt.
Überhaupt fällt mir die gleichförmige Namengebung auf. Wo es eine Ortschaft mit -bach oder -ling oder -weiler gibt, findet man im Umkreis von einigen Kilometern bestimmt noch ein paar von der Sorte.
Mein Dorf ist fünfzig Hausnummern groß. Wenige alte, schiefe Häuser, noch weniger neue. Die meisten sind zwischen dreißig und sechzig Jahre alt, gut erhalten, an einigen wird gebaut. In alter Weise: ein- bis zweistöckig mit viel Dach. Und nur für den eigenen Bedarf. Wohnungssuche muss scheitern.
Die Bewohner sind durchwegs Bauern. Moderne Bauern, das heißt Schichtarbeiter in der nächsten Fabrik, die Landwirtschaft als Nebenerwerb. Immer haben sie es eilig, immer sind sie knapp dran. Wie oft habe ich sie beobachtet: Den ganzen Tag schon ziehen Wolken über den Himmel – keiner fährt hinaus, um das Heu einzubringen. Erst wenn die dunkelgraue Gewitterfront nicht mehr zu ignorieren ist – dann schwärmen sie aus: Auf allen Seiten tuckern die Traktoren, überall fahren die Ladewagen über die Wiesen, die ganze Verwandtschaft wird eingesetzt. Nachher, wenn ein Teil des Heus wieder nass geworden ist, jammern sie: Nur eine Stunde länger wenn es gehalten hätte, dann wäre alles unter Dach gewesen. Mitnichten! Dann hätten sie auch eine Stunde später angefangen.
In diesem Zusammenhang habe ich auch etwas sehr Positives beobachtet und am eigenen Leib erfahren: Nachbarschaftshilfe. Wenn Not am Mann ist, hilft jeder jedem, ohne Gegenleistung – ja, ohne ein Dankeschön zu erwarten. Es ist einfach wichtig, dass jeder sein Heu trocken heimbringt. Hier ist kein Haus gebaut, kein Dach gedeckt, kein Hof gepflastert worden ohne die tätige Hilfsbereitschaft der Nachbarn.
Wie sie leben? Arbeitsreich, würde ich es nennen. Hart zupacken können sie alle. Wohl stehen ihnen Maschinen zur Verfügung, vom Motormäher bis zum Kartoffelernter. Trotzdem bleibt noch viel an körperlicher Arbeit. Ich denke nur an das tagelange Steineklauben auf den Äckern oder die Futterrüben: Sie müssen so ungefähr das Arbeitsaufwendigste sein, was man anbauen kann.
Vergnügen bieten sich wenige. Gelegentlich eine Tanzveranstaltung in den umliegenden Ortschaften, ein Feuerwehrfest, eine Kirchweih, der Stammtisch im Dorfgasthaus. Seit es der Sohn übernommen hat, gibt es eine Musik-Box und einen Spielautomaten: Die Rote Neun. Unter den Jüngeren sind richtige Experten, die regelmäßig zwanzig, dreißig Euro aus dem Automaten holen. Für den Stammtisch aber ist er von Übel: Jedes Gespräch verstummt, wenn einer spielt. Alle starren auf die blinkenden Lichter, die rotierenden Scheiben, die Gewinnuhr, alle nehmen Anteil an der Glücks- oder Pechsträhne des Spielers.
Daneben huldigen die Dorfbewohner ihrem Sportverein. Er zählte kurz nach der Gründung schon hundert Mitglieder. Ins Leben gerufen wurde er von einem jungen Lehrer, den es hierher verschlagen hatte. Gedacht als Attraktion für alle und als Alternative zum Wirtshaussitzen, wurde die Sache bald zu einem reinen Fußballverein mit all seinen Ambitionen und Querelen. Erster Vorstand ist der Bürgermeister. Seinem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Gelder für den Ausbau des Sportheims bewilligt wurden. Als einziger bemüht er sich wirklich darum, dass der Verein nicht nur Fußball anbietet. Er versucht Tischtennis zu fördern und Mädchen und Frauen für Gymnastikabende zu begeistern.
Er tut das mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er die Interessen des Dorfes seit einem halben Jahrzehnt nach außen und innen vertritt. Es spricht für die Klugheit der Dorfbewohner, dass sie schon in den 60er-Jahren diesen tüchtigen Mann ungeachtet seiner preußischen Abstammung zu ihrem Bürgermeister wählten. Wenn er etwas in die Hand nimmt, dann wird es erledigt – das wissen die Leute.
Der Pfarrer gehört der alten Schule an. Zwar verschließt er sich nicht grundsätzlich den Neuerungen innerhalb der Kirche, doch gelangt er immer wieder zu dem Schluss, dass besser alles beim Alten bleibt. Im Dorf akzeptiert man ihn wie er ist, fragt nicht danach, wie ein anderer Pfarrer sein könnte. Gelegentlich regt man sich über eine Predigt auf, schimpft über eine unbequeme Ansicht. Normalerweise aber wird weder Religion im Allgemeinen noch der Pfarrer im Besonderen außerhalb der Kirche zum Gesprächsthema. Trotzdem: Im Advent und in der Fastenzeit tanzt man nicht, zum Sonntag gehört die Messe, zur Kirchgangzeit wird nicht Fußball gespielt. Der Pfarrer ist Respektsperson im Dorf. Auch bei den Jungen.
Die nachwachsende Generation ist von zu Hause nichts anderes gewohnt, als dass der Bauer das Sagen hat. So selbständig sie sich auf dem Sportplatz und im Wirtshaus gebärden – wenn es ans Handeln geht, haben die wenigsten wirklich freie Hand. Spätestens bei der Geldfrage kann der Vater sein Veto einlegen. Er entscheidet nach wie vor über jede größere Anschaffungen, ob es sich nun um ein Mofa, eine Kuh, ein Auto oder ein Grundstück dreht.
Andererseits haben die meisten Jungen auch nicht genug Interesse an der Landwirtschaft, als dass sich die Alten auf sie verlassen könnten.
Ich möchte je gern übergeben, seufzen die Väter oft, aber der Junge denkt nur an Fußball und Tanz.
Der Vater will überall das letzte Wort haben, schimpfen die Söhne.
Es ist eine Spirale ohne Ende und keiner fragt danach, was Ursache und was Folge ist.
Inzwischen lernen die meisten Fünfzehnjährigen, die aus der Schule kommen, einen Beruf. Wer jetzt noch auf dem Hof bleibt ist entweder faul oder er will wirklich Bauer werden. Die Mädchen werden Verkäuferin, Bankgehilfin, Schneiderin, die Buben mit Vorliebe Kfz-Mechaniker, Maurer oder Zimmermann. Eine Lehrstelle finden sie allerdings im Dorf schon seit Jahren nicht mehr. Der Kramladen liegt in den letzten Zügen, der Bäcker hat vor ein paar Jahren aufgehört, und sogar der Sohn des Dorfschmieds arbeitet in der Fabrik.
Der alte Schmied, inzwischen weit über siebzig, ist zwar noch da, doch es gibt keine Arbeit mehr für ihn. Eisenteile, Nägel und Schrauben werden fertig in der Stadt gekauft, und das letzte Pferd ist vor fünf Jahren aus dem Dorf verschwunden. Trotzdem loben ihn die Bauern heute noch als den besten Hufschmied weit und breit. Sogar aus den umliegenden Dörfern hat man die Gäule von ihm beschlagen lassen, erzählen sie. Erst seit ein Städter seine Pferde in der Nähe hält, bekommt der Schmied gelegentlich wieder Arbeit, die er trotz seines Alters bereitwillig und sachverständig erledigt.
Für den Städter ist es nicht einfach, im Dorf Fuß zu fassen. Zuerst stößt er überall auf Ablehnung. Niemand glaubt, dass seine Pferdehaltung mehr als kurzfristiges verrücktes Hobby ist. Es gelingt ihm nur unter Schwierigkeiten und durch kräftige finanzielle Nachhilfe, ein paar Wiesen zu pachten. Mehr als genug gute Ratschläge bekommt er gratis dazu. Da er sie nicht kritiklos umsetzt, ziehen sich die Experten beleidigt zurück. Soll er nur sehen, wie er allein zurechtkommt.
Doch er kommt zurecht: Seine Wiesen sind genau so grün wie die ihren, die Pferde bleiben gesund und die Nachzucht gedeiht prächtig. Das bringt dem Städter – spät, aber doch – die Anerkennung der gelernten Landwirte. Es wird noch so weit kommen, dass die Einheimischen in die Fabrik gehen und die Städter Bauern werden, sagen sie oft.
Warum nicht? Hauptsache, das Land verödet nicht. Aber immer wird sich der Hobbybauer vom Erwerbslandwirt unterscheiden: Wo dieser Stall- und Feldarbeit vor allem am Ertrag misst – messen muss, schließlich lebt er davon! – da erlebt jener Täler und Höhen, Wiesen und Wälder, das wechselnde Spiel der Farben und weithin hügeliges Land.
Kultur trotz Corona: „Landschaft der goldenen Mitte“. Von Margit Heumann>
Margit Heumann (* 1949 in Vorarlberg) lebte mehrere Jahre in England und der Schweiz und betrieb bis 2007 einen Islandpferdehof in Westmittelfranken. Als Autorin veröffentlichte sie Sachbücher und zahlreiche Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften, aber auch Städtebücher, Schmunzelkrimis und Romane. Heumann engagiert sich bei den Wortkünstlern Mittelfranken (Nürnberg) und scribere et legere (Wien). Sie ist Mitglied im AutorenVerband Franken, bei Literatur Vorarlberg und in der IG Autorinnen und Autoren. Beim 14. Literaturpreis Nordost 2020 belegte sie mit ihrer Erzählung Im falschen Film den 2. Platz. Die Autorin wohnt derzeit in Nürnberg und Wien.
Mit dem folgenden unveröffentlichten Text beteiligt sich Margit Heumann an „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Landschaft der goldenen Mitte
Frei schweift der Blick über das ausgebreitete Tal, wird angenehm begrenzt durch bewaldete Kuppen. Hügeliges Land so weit das Auge reicht. Westmittelfranken ist eine Landschaft der goldenen Mitte. Nichts so abrupt wie im Gebirge, nichts so grenzenlos wie in der Ebene.
Braun- und Grüntöne herrschen vor, immer wechselnd im Ablauf der Jahreszeiten. Schmutziges Rotbraun der Äcker und fahles Gelbbraun der Wiesen in den schneearmen Wintern. Im Frühling leuchtendes Grün der neuen Saat. Goldgelb bis rötlich im Sommer, wenn Weizen, Gerste und Hafer reifen, dazwischen weite Flächen mit mannshohem, sattgrünem Mais. Im Herbst dann wieder rotbraune frisch gepflügte Erde, von bunten Laubbäumen durchsetzte Fichten- und Föhrenbestände.
Wälder sind entweder dicht und dunkel, richtige Märchenwälder (oder Rehschlupfwinkel, wenn man Jäger ist), der Boden dicht mit alten Tannennadeln bedeckt. Bei jedem Schritt geben sie nach, gebärden sich wie Moos ohne Moos zu sein. Oder die Bäume stehen licht, lassen Raum für Büsche, Gräser, Heidelbeeren, Waldmeister. Und in regenreichen Sommern schießen die Pilze wie – ja, eben wie Pilze – aus dem Boden.
Einen Fluss gibt es auch: Die Wörnitz. Sie ist hier knapp vier Meter breit und eher ein Bach als ein Fluss. Ich wundere mich über die hohen breiten Brücken, die über dieses friedliche Rinnsal führen. Bis es dauerregnet: Da überschwemmt die Scheinheilige in kürzester Zeit die ebenen Wiesen zu beiden Seiten, zehn, zwanzig, vierzig Meter weit. Ebenso schnell geht sie nach dem Regen zurück und wird wieder zu dem lahmen Bächlein, dem man die Fließrichtung kaum ansieht. Im Gegenteil: bei entsprechendem Wind kräuselt sich die Oberfläche sogar in Richtung Wörnitz, wo – wie einfallsreich! – die Wörnitz entspringt.
Überhaupt fällt mir die gleichförmige Namengebung auf. Wo es eine Ortschaft mit -bach oder -ling oder -weiler gibt, findet man im Umkreis von einigen Kilometern bestimmt noch ein paar von der Sorte.
Mein Dorf ist fünfzig Hausnummern groß. Wenige alte, schiefe Häuser, noch weniger neue. Die meisten sind zwischen dreißig und sechzig Jahre alt, gut erhalten, an einigen wird gebaut. In alter Weise: ein- bis zweistöckig mit viel Dach. Und nur für den eigenen Bedarf. Wohnungssuche muss scheitern.
Die Bewohner sind durchwegs Bauern. Moderne Bauern, das heißt Schichtarbeiter in der nächsten Fabrik, die Landwirtschaft als Nebenerwerb. Immer haben sie es eilig, immer sind sie knapp dran. Wie oft habe ich sie beobachtet: Den ganzen Tag schon ziehen Wolken über den Himmel – keiner fährt hinaus, um das Heu einzubringen. Erst wenn die dunkelgraue Gewitterfront nicht mehr zu ignorieren ist – dann schwärmen sie aus: Auf allen Seiten tuckern die Traktoren, überall fahren die Ladewagen über die Wiesen, die ganze Verwandtschaft wird eingesetzt. Nachher, wenn ein Teil des Heus wieder nass geworden ist, jammern sie: Nur eine Stunde länger wenn es gehalten hätte, dann wäre alles unter Dach gewesen. Mitnichten! Dann hätten sie auch eine Stunde später angefangen.
In diesem Zusammenhang habe ich auch etwas sehr Positives beobachtet und am eigenen Leib erfahren: Nachbarschaftshilfe. Wenn Not am Mann ist, hilft jeder jedem, ohne Gegenleistung – ja, ohne ein Dankeschön zu erwarten. Es ist einfach wichtig, dass jeder sein Heu trocken heimbringt. Hier ist kein Haus gebaut, kein Dach gedeckt, kein Hof gepflastert worden ohne die tätige Hilfsbereitschaft der Nachbarn.
Wie sie leben? Arbeitsreich, würde ich es nennen. Hart zupacken können sie alle. Wohl stehen ihnen Maschinen zur Verfügung, vom Motormäher bis zum Kartoffelernter. Trotzdem bleibt noch viel an körperlicher Arbeit. Ich denke nur an das tagelange Steineklauben auf den Äckern oder die Futterrüben: Sie müssen so ungefähr das Arbeitsaufwendigste sein, was man anbauen kann.
Vergnügen bieten sich wenige. Gelegentlich eine Tanzveranstaltung in den umliegenden Ortschaften, ein Feuerwehrfest, eine Kirchweih, der Stammtisch im Dorfgasthaus. Seit es der Sohn übernommen hat, gibt es eine Musik-Box und einen Spielautomaten: Die Rote Neun. Unter den Jüngeren sind richtige Experten, die regelmäßig zwanzig, dreißig Euro aus dem Automaten holen. Für den Stammtisch aber ist er von Übel: Jedes Gespräch verstummt, wenn einer spielt. Alle starren auf die blinkenden Lichter, die rotierenden Scheiben, die Gewinnuhr, alle nehmen Anteil an der Glücks- oder Pechsträhne des Spielers.
Daneben huldigen die Dorfbewohner ihrem Sportverein. Er zählte kurz nach der Gründung schon hundert Mitglieder. Ins Leben gerufen wurde er von einem jungen Lehrer, den es hierher verschlagen hatte. Gedacht als Attraktion für alle und als Alternative zum Wirtshaussitzen, wurde die Sache bald zu einem reinen Fußballverein mit all seinen Ambitionen und Querelen. Erster Vorstand ist der Bürgermeister. Seinem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Gelder für den Ausbau des Sportheims bewilligt wurden. Als einziger bemüht er sich wirklich darum, dass der Verein nicht nur Fußball anbietet. Er versucht Tischtennis zu fördern und Mädchen und Frauen für Gymnastikabende zu begeistern.
Er tut das mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er die Interessen des Dorfes seit einem halben Jahrzehnt nach außen und innen vertritt. Es spricht für die Klugheit der Dorfbewohner, dass sie schon in den 60er-Jahren diesen tüchtigen Mann ungeachtet seiner preußischen Abstammung zu ihrem Bürgermeister wählten. Wenn er etwas in die Hand nimmt, dann wird es erledigt – das wissen die Leute.
Der Pfarrer gehört der alten Schule an. Zwar verschließt er sich nicht grundsätzlich den Neuerungen innerhalb der Kirche, doch gelangt er immer wieder zu dem Schluss, dass besser alles beim Alten bleibt. Im Dorf akzeptiert man ihn wie er ist, fragt nicht danach, wie ein anderer Pfarrer sein könnte. Gelegentlich regt man sich über eine Predigt auf, schimpft über eine unbequeme Ansicht. Normalerweise aber wird weder Religion im Allgemeinen noch der Pfarrer im Besonderen außerhalb der Kirche zum Gesprächsthema. Trotzdem: Im Advent und in der Fastenzeit tanzt man nicht, zum Sonntag gehört die Messe, zur Kirchgangzeit wird nicht Fußball gespielt. Der Pfarrer ist Respektsperson im Dorf. Auch bei den Jungen.
Die nachwachsende Generation ist von zu Hause nichts anderes gewohnt, als dass der Bauer das Sagen hat. So selbständig sie sich auf dem Sportplatz und im Wirtshaus gebärden – wenn es ans Handeln geht, haben die wenigsten wirklich freie Hand. Spätestens bei der Geldfrage kann der Vater sein Veto einlegen. Er entscheidet nach wie vor über jede größere Anschaffungen, ob es sich nun um ein Mofa, eine Kuh, ein Auto oder ein Grundstück dreht.
Andererseits haben die meisten Jungen auch nicht genug Interesse an der Landwirtschaft, als dass sich die Alten auf sie verlassen könnten.
Ich möchte je gern übergeben, seufzen die Väter oft, aber der Junge denkt nur an Fußball und Tanz.
Der Vater will überall das letzte Wort haben, schimpfen die Söhne.
Es ist eine Spirale ohne Ende und keiner fragt danach, was Ursache und was Folge ist.
Inzwischen lernen die meisten Fünfzehnjährigen, die aus der Schule kommen, einen Beruf. Wer jetzt noch auf dem Hof bleibt ist entweder faul oder er will wirklich Bauer werden. Die Mädchen werden Verkäuferin, Bankgehilfin, Schneiderin, die Buben mit Vorliebe Kfz-Mechaniker, Maurer oder Zimmermann. Eine Lehrstelle finden sie allerdings im Dorf schon seit Jahren nicht mehr. Der Kramladen liegt in den letzten Zügen, der Bäcker hat vor ein paar Jahren aufgehört, und sogar der Sohn des Dorfschmieds arbeitet in der Fabrik.
Der alte Schmied, inzwischen weit über siebzig, ist zwar noch da, doch es gibt keine Arbeit mehr für ihn. Eisenteile, Nägel und Schrauben werden fertig in der Stadt gekauft, und das letzte Pferd ist vor fünf Jahren aus dem Dorf verschwunden. Trotzdem loben ihn die Bauern heute noch als den besten Hufschmied weit und breit. Sogar aus den umliegenden Dörfern hat man die Gäule von ihm beschlagen lassen, erzählen sie. Erst seit ein Städter seine Pferde in der Nähe hält, bekommt der Schmied gelegentlich wieder Arbeit, die er trotz seines Alters bereitwillig und sachverständig erledigt.
Für den Städter ist es nicht einfach, im Dorf Fuß zu fassen. Zuerst stößt er überall auf Ablehnung. Niemand glaubt, dass seine Pferdehaltung mehr als kurzfristiges verrücktes Hobby ist. Es gelingt ihm nur unter Schwierigkeiten und durch kräftige finanzielle Nachhilfe, ein paar Wiesen zu pachten. Mehr als genug gute Ratschläge bekommt er gratis dazu. Da er sie nicht kritiklos umsetzt, ziehen sich die Experten beleidigt zurück. Soll er nur sehen, wie er allein zurechtkommt.
Doch er kommt zurecht: Seine Wiesen sind genau so grün wie die ihren, die Pferde bleiben gesund und die Nachzucht gedeiht prächtig. Das bringt dem Städter – spät, aber doch – die Anerkennung der gelernten Landwirte. Es wird noch so weit kommen, dass die Einheimischen in die Fabrik gehen und die Städter Bauern werden, sagen sie oft.
Warum nicht? Hauptsache, das Land verödet nicht. Aber immer wird sich der Hobbybauer vom Erwerbslandwirt unterscheiden: Wo dieser Stall- und Feldarbeit vor allem am Ertrag misst – messen muss, schließlich lebt er davon! – da erlebt jener Täler und Höhen, Wiesen und Wälder, das wechselnde Spiel der Farben und weithin hügeliges Land.