Lyrik-Kolumne: »Liebe«. Über ein Gedicht von Mara-Daria Cojocaru
Liebe,
Liebe hero shrew, ich wäre gern so
Stark wie du. Nach jeder Katastrophe
Schmerzt nicht nur mein Rückgrat
Mich, auch bleib ich immer immer
Ich hätt so gern dein Herz
Zu springen ins punktierte.
Gleichgewicht
aus: Mara-Daria Cojocaru: Anstelle einer Unterwerfung (Schöffling & Co. 2016)
Nichts von diesem Gedicht verstehe ich beim ersten Lesen, den springenden Punkt schon gar nicht. Zwar weiß ich, dass Mara-Daria Cojocaru in Anstelle einer Unterwerfung nach Möglichkeiten eines Sprechens über Tiere sucht, das diese nicht einer rein menschlich geprägten Sicht und Redeweise unterwirft. Aber was soll in diesem Kontext ein Gedicht über Liebe oder eine ›heldenhafte Widerspenstige‹, wie ich mir »hero shrew« in Gedanken an Shakespeare übersetze? Warum steht ein Komma nach dem Titel, ein Punkt nach Vers 6, da doch der Satz weitergeht, und warum der Reim »shrew« / »du« nicht am Versende? Was soll der bei »immer immer« offenbar abbrechende Satz?
So ratlos google ich: hero shrew (Panzerspitzmaus, Gewicht ca. 100 Gramm, unterscheidet sich von allen anderen Tieren durch den Aufbau ihrer Wirbelsäule, dank deren sie unter einem Gewicht von ca. 80 kg keinen Schaden nimmt; gilt in der Kongo-Region als ›magisches Tier‹, das diejenigen, die ein Stück von ihr tragen, unverwundbar macht) und »punktiertes Gleichgewicht« (Begriff der Evolutionsbiologie; meint einen jähen Entwicklungssprung einer Spezies zwischen zwei Phasen, in denen sie sich kaum verändert). Also doch ein Gedicht zu einem Tier! Aber anthropozentrischer könnte die Perspektive doch kaum sein als mit jener kultischen Unverwundbarkeits-Projektion und einem Wissenschaftskonzept! Das Befremdliche des Gedichts ärgert mich. Ich lege es weg.
Dann, ein paar Tage später, auf dem morgendlichen Radweg ins Büro: Aus der Erinnerung an eine emotionale Verletzung am Vorabend beginnt etwas wie von selbst in mir zu singen, eine Art Beschwörungszauber. »Liebe, liebe hero shrew / ich wäre gern so stark wie du / Nach jeder Katastrophe [die hier auch rhythmisch verheerend ist!] / schmerzt nicht nur mein Rückgrat mich / auch bleib ich immer immer ich / Hätt so gern dein Herz zu springen – ...«
Genau in diesem Moment springt mir, am Schaufenster eines Yoga-Studios, etwas ins Auge: das chinesische YinYang-Symbol des Höchsten oder Äußersten. Und ebenso jäh ist die Erinnerung an Platons Kugelmenschen da – und daran, dass Liebe letztlich immer Grenzen überschreitet, vor allem die des eigenen Ich. Wie auch Cojocarus Gedicht über traditionsetablierte Grenzen der sprachlichen oder poetischen Form hinwegfließt: vom Titel ins Gedicht; in Enjambements über Versgrenzen; über Reime, die sonst Versenden markieren, und sogar über die stärkste Zäsur unserer Schriftlichkeit, den üblicherweise satzbeendenden Punkt.
Das Gegengewicht zu dieser Dynamik bilden Strukturen der Balance: Der erste und der letzte Vers bestehen nur aus einem Wort. Das »punktierte. Gleichgewicht« dreht sich gleichsam um den Punkt in seinem Zentrum, der zugleich den evolutionären Sprung zwischen zwei Phasen stetiger Entwicklung symbolisiert. Und nicht zuletzt teilen sich zwei Formulierungen ein Wort: »bleib ich immer immer / Ich hätt so gern dein Herz«, wie jedes Ich in der Liebe sowohl es selbst bleibt als auch zu Anderem hinstrebt. Und gesetzt nun, man könnte in diesem Über-sich-Hinaus- und Auf-andere-Zugehen unverwundbar werden – wäre das nicht in der Tat ein markanter evolutionärer Sprung für das Menschsein, ins höchste Äußerste?
PS: Vom tatsächlichen Sein einer Panzerspitzmaus habe ich hiernach natürlich noch immer keine Ahnung. Und doch ... Da sie mir durch das Gedicht als Symboltier plötzlich so lieb geworden ist: Muss ich nicht, wenn ich mit jenem Liebesverständnis ernst machen will, auch in Bezug auf diese Spezies über mich und mein Denken hinauswachsen – zu der Frage, wie sie wohl die Welt sieht?
Mara-Daria Cojocaru, geboren 1980 in Hamburg, ist Lyrikerin und Essayistin. Sie forscht und lehrt an der Hochschule für Philosophie in München, u.a. zum philosophischen Pragmatismus und zur Tierphilosophie.
*
Die 141. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Schuld und ... Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts in München, hat darin diesen Artikel im Rahmen ihrer Lyrik-Kolumne veröffentlicht.
Lyrik-Kolumne: »Liebe«. Über ein Gedicht von Mara-Daria Cojocaru>
Liebe,
Liebe hero shrew, ich wäre gern so
Stark wie du. Nach jeder Katastrophe
Schmerzt nicht nur mein Rückgrat
Mich, auch bleib ich immer immer
Ich hätt so gern dein Herz
Zu springen ins punktierte.
Gleichgewicht
aus: Mara-Daria Cojocaru: Anstelle einer Unterwerfung (Schöffling & Co. 2016)
Nichts von diesem Gedicht verstehe ich beim ersten Lesen, den springenden Punkt schon gar nicht. Zwar weiß ich, dass Mara-Daria Cojocaru in Anstelle einer Unterwerfung nach Möglichkeiten eines Sprechens über Tiere sucht, das diese nicht einer rein menschlich geprägten Sicht und Redeweise unterwirft. Aber was soll in diesem Kontext ein Gedicht über Liebe oder eine ›heldenhafte Widerspenstige‹, wie ich mir »hero shrew« in Gedanken an Shakespeare übersetze? Warum steht ein Komma nach dem Titel, ein Punkt nach Vers 6, da doch der Satz weitergeht, und warum der Reim »shrew« / »du« nicht am Versende? Was soll der bei »immer immer« offenbar abbrechende Satz?
So ratlos google ich: hero shrew (Panzerspitzmaus, Gewicht ca. 100 Gramm, unterscheidet sich von allen anderen Tieren durch den Aufbau ihrer Wirbelsäule, dank deren sie unter einem Gewicht von ca. 80 kg keinen Schaden nimmt; gilt in der Kongo-Region als ›magisches Tier‹, das diejenigen, die ein Stück von ihr tragen, unverwundbar macht) und »punktiertes Gleichgewicht« (Begriff der Evolutionsbiologie; meint einen jähen Entwicklungssprung einer Spezies zwischen zwei Phasen, in denen sie sich kaum verändert). Also doch ein Gedicht zu einem Tier! Aber anthropozentrischer könnte die Perspektive doch kaum sein als mit jener kultischen Unverwundbarkeits-Projektion und einem Wissenschaftskonzept! Das Befremdliche des Gedichts ärgert mich. Ich lege es weg.
Dann, ein paar Tage später, auf dem morgendlichen Radweg ins Büro: Aus der Erinnerung an eine emotionale Verletzung am Vorabend beginnt etwas wie von selbst in mir zu singen, eine Art Beschwörungszauber. »Liebe, liebe hero shrew / ich wäre gern so stark wie du / Nach jeder Katastrophe [die hier auch rhythmisch verheerend ist!] / schmerzt nicht nur mein Rückgrat mich / auch bleib ich immer immer ich / Hätt so gern dein Herz zu springen – ...«
Genau in diesem Moment springt mir, am Schaufenster eines Yoga-Studios, etwas ins Auge: das chinesische YinYang-Symbol des Höchsten oder Äußersten. Und ebenso jäh ist die Erinnerung an Platons Kugelmenschen da – und daran, dass Liebe letztlich immer Grenzen überschreitet, vor allem die des eigenen Ich. Wie auch Cojocarus Gedicht über traditionsetablierte Grenzen der sprachlichen oder poetischen Form hinwegfließt: vom Titel ins Gedicht; in Enjambements über Versgrenzen; über Reime, die sonst Versenden markieren, und sogar über die stärkste Zäsur unserer Schriftlichkeit, den üblicherweise satzbeendenden Punkt.
Das Gegengewicht zu dieser Dynamik bilden Strukturen der Balance: Der erste und der letzte Vers bestehen nur aus einem Wort. Das »punktierte. Gleichgewicht« dreht sich gleichsam um den Punkt in seinem Zentrum, der zugleich den evolutionären Sprung zwischen zwei Phasen stetiger Entwicklung symbolisiert. Und nicht zuletzt teilen sich zwei Formulierungen ein Wort: »bleib ich immer immer / Ich hätt so gern dein Herz«, wie jedes Ich in der Liebe sowohl es selbst bleibt als auch zu Anderem hinstrebt. Und gesetzt nun, man könnte in diesem Über-sich-Hinaus- und Auf-andere-Zugehen unverwundbar werden – wäre das nicht in der Tat ein markanter evolutionärer Sprung für das Menschsein, ins höchste Äußerste?
PS: Vom tatsächlichen Sein einer Panzerspitzmaus habe ich hiernach natürlich noch immer keine Ahnung. Und doch ... Da sie mir durch das Gedicht als Symboltier plötzlich so lieb geworden ist: Muss ich nicht, wenn ich mit jenem Liebesverständnis ernst machen will, auch in Bezug auf diese Spezies über mich und mein Denken hinauswachsen – zu der Frage, wie sie wohl die Welt sieht?
Mara-Daria Cojocaru, geboren 1980 in Hamburg, ist Lyrikerin und Essayistin. Sie forscht und lehrt an der Hochschule für Philosophie in München, u.a. zum philosophischen Pragmatismus und zur Tierphilosophie.
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Die 141. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Schuld und ... Pia-Elisabeth Leuschner, Mitarbeiterin des Lyrik Kabinetts in München, hat darin diesen Artikel im Rahmen ihrer Lyrik-Kolumne veröffentlicht.