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Mit Wissenschaft in die Zukunft: Die Prospektive COVID-19 Kohorte München

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Illustration: Tobi Frank

Am 9. Februar 2020 hielt ich im Münchner Hofspielhaus einen Vortrag über Künstliche Intelligenz in der Medizin. Dabei erwähnte ich das kanadische KI-Programm BlueDot, das die Weltöffentlichkeit auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten hinweist. Am 31. Dezember 2019 hatte BlueDot über den Ausbruch eines grippeähnlichen Virus im Wuhan-Gebiet in China berichtet und vor Reisen dahin gewarnt. Neun Tage vor den Coronavirus-Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 9. Januar 2020.

Mit BlueDot wollte ich nur zeigen, was man mit KI alles machen kann. Niemand von uns im Hofspielhaus ahnte, dass wir bald alle in Wuhan sitzen würden: Am 20. März 2020 wurden Ausgangsbeschränkungen für den Freistaat Bayern verhängt. Das Virus SARS-CoV-2 und seine Krankheit COVID-19 fingen an, die Welt zu ändern. Nicht nur aber zu ihrem Nachteil: Auch etwas Gutes begann zu wachsen: Als ob alle Forscher*innen der Welt sich vereinigen würden und die Wissenschaft nur noch ein gemeinsames Ziel hätte – das Virus in seine Schranken zu weisen. So konnte die New York Times am 14. April 2020 schlagzeilen: »COVID-19 Changed How the World Does Science, Together”: Die Zeitung schrieb: »… noch nie zuvor … haben sich so viele Experten in so vielen Ländern gleichzeitig und mit solcher Dringlichkeit auf ein einziges Thema konzentriert.«

Hier dürfen wir »a bissl« stolz sein: München machte mit! Bereits am 3. April stellten Bayerns Ministerpräsident Dr. Markus Söder und Wissenschaftsminister Bernd Sibler gemeinsam mit dem Leiter des Tropeninstituts am LMU Klinikum München Prof. Dr. Michael Hoelscher ein neues wissenschaftliches Projekt vor: Bei der Studie »Prospektive COVID-19 Kohorte München« (KoCo19) erheben Forscher*innen in München umfassend Daten und werten diese aus, um die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung einzuschätzen. Über Antikörpertests ermitteln sie, wie viele Münchner*innen sich mit dem Virus bereits infiziert haben. Antikörper gegen SARS-CoV-2 im Organismus können auf eine überstandene Infektion hinweisen.

Die Studie kann helfen, wichtige Fragen zu beantworten: Wie hoch sind die echten Ansteckungsraten? Wie wirken die aktuellen Maßnahmen – wie wirksam ist beispielsweise der Verzicht auf soziale Kontakte? Was bringen Mobilitätseinschränkungen? Wie sind die Ansteckungsmechanismen? In welcher Zeitspanne stecken sich die Mitglieder eines Haushalts an?

Für die Studie schlossen sich Münchner Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Prof. Hoelscher zusammen: Forscher*innen und Studierende des Tropeninstituts am LMU Klinikum in Zusammenarbeit mit dem Helmholtz Zentrum München sowie vom München Center for International Health (CIH), des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin und des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) des LMU Klinikums. Ab 5. April 2020 rekrutierten die KoCo19-Teams 3.000 zufällig ausgewählte Haushalte in 755 Münchner Stimmbezirken.

Um Trickbetrügern vorzubeugen, erschienen die Studienteams beim ersten Kontakt »nur echt in Polizeibegleitung«. Bei den anschließenden Hausbesuchen baten die Mediziner*innen um eine Blutprobe zur Bestimmung der Antikörper gegen SARSCoV-2, was im Abstand von mehreren Monaten wiederholt wird. Außerdem wird jedes Haushaltsmitglied durch ein Symptom-, Aufenthalts- und Kontakttagebuch per App befragt. Das alles streng anonym und freiwillig. So trägt auch die Münchner Wissenschaft dazu bei, Pandemien der Zukunft besser und schneller zu bekämpfen.

»Das Coronavirus ist nicht schlimmer als Grippeviren«, sagte eine Nachbarin. »Der Lockdown soll uns knechten!« Das habe sie bei YouTube gehört. In München sei kein einziger Mensch an SARS-CoV-2 gestorben, obwohl die Hälfte von uns mit dem Virus infiziert sei.

Warum hört man die Verschwörungstheoretiker am lautesten, obwohl durch sie bis jetzt kein einziger Krankheitserreger bekämpft wurde? Durch die naturwissenschaftliche Medizin dagegen eine Menge davon. Doch nicht nur deswegen können wir den wissenschaftlichen Fakten mehr vertrauen als denen von Facebook. Entgegen den Theorien der Verschwörung gelten die naturwissenschaftlichen nur so lange, bis jemand durch nachvollziehbare Ergebnisse zeigt, dass sie falsch seien. Ein Verschwörungstheoretiker kann alles behaupten.

KoCo19 ist eine wissenschaftliche Studie. Eine solche kostet viel Zeit, auch die von Hunderten Menschen, die ihre Daten erheben. Nach der Auswertung der Antikörpertests wissen wir, wie hoch die Ansteckungsrate in München ist. Wie viele von uns waren mit SARS-CoV-2 infiziert? Die ersten Ergebnisse der KoCo19-Studie werden vielleicht noch 2020 veröffentlicht. Diesen Sommer konnten wir genießen, weil in Deutschland und in Bayern schon im Frühjahr entschlossen und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der damaligen Zeit auf das neuartige Corona-Virus reagiert wurde. Nicht nach aus der Luft gegriffenen Behauptungen der YouTube- und Facebook-Möchtegernexperten.

Mit den KoCo19-Ergebnissen bekommen wir endlich eine echte Grundlage für YouTube-Videos über München in Zeiten von SARSCoV-2. Sie werden hoffentlich mehr geschaut als herbeigegrübelte »alternative Fakten«. Vielleicht sieht auch meine Nachbarin sich ein solches Video an. Bald wissen wir mehr.

*

Weitere Informationen

Die von der Bayerischen Staatsregierung geförderte Studie KoCo19 (»Prospektive COVID-19 Kohorte München«) soll Einblicke in die Verbreitung von SARS-CoV-2 in München und die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen geben. Sie wird unter der Leitung des Tropeninstituts des LMU Klinikums in einem Zusammenschluss Münchner Forschungseinrichtungen, darunter das Helmholtz Zentrum München, durchgeführt.

Prof. Dr. med. Michael Hoelscher ist Leiter der KoCo19 Studie und Direktor des Münchner Tropeninstituts (Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin) am LMU Klinikum München. Der Infektions- und Tropenmediziner ist Standortsprecher des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF). Seine Forschungsschwerpunkte sind HIV und Tuberkulose, mit zahlreichen globalen Projekten (z. B. in Afrika).

Dr. Jaromir Konecny ist Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Dozent für Künstliche Intelligenz und KI Speaker, zweifacher Vizemeister der deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften. Im Herbst 2020 erscheint bei Langen/Müller sein Sachbuch über KI Ist das intelligent oder kann das weg. Im September erscheinen auch die ersten zwei Bände seiner Kinderbuchreihe Datendetektive über Roboter und KI.



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