Info
19.12.2020, 12:19 Uhr
Katrin Diehl
Text & Debatte
images/lpbblogs/instblog/2020/gross/HMS_gross.jpg

Der neue Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger

Die an die 70 Gedichte sind nichts Besonderes. Im Gegenteil. Sie stecken voller Gefälligkeit. Routinierte, lebenslange Schreiberfahrung kann man ihnen anmerken, auch eine Art Mühelosigkeit, wie sie da, eines nach dem anderen, recht artig aufs Papier geglitten sein mögen. Und das macht schlechte Laune.

Denn sie sind – erschienen unter dem vielversprechenden Titel Wirrwarr – eben von Hans Magnus Enzensberger, dem Ewigen, dem fast programmatischen Einzelgänger, dem Sucher nach dem Speziellen, dem Anstimmer von Abgesängen (zum Beispiel auf die „Literaturkritik“), dem Anstoßer und Macher (zum Beispiel vom Kursbuch in den 60er Jahren), dem Träger einer ganzen Latte von Preisen (darunter auch, verliehen 1963, der Georg-Büchner-Preis). Nun ja, da war er eben noch jünger. Heute ist er über 90, was von einiger Bedeutung ist und doch auch wieder nicht, wenn es darum geht, ob er die Chance, die jedes Gedicht rein potentiell bietet, zu nutzen versteht. Den Lyrik-Band einfach durchzuwinken, hätte jedenfalls etwas Falsches.

HME hat uns oft und recht fordernd auf Alltags-Schieflagen aufmerksam gemacht, auch in seiner Lyrik, in der er sich als mutiger Jongleur der Worte zeigte, die Kunst austestete, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren. Immer war ein gewisser Freiheitsdrang bei ihm spürbar, die Freude am Experiment. Dass das alles so nicht mehr sein kann, ist nicht der Punkt. Aber es fehlt ein Ersatz, es fehlt die sprachliche wie inhaltliche Besonderheit. Und dabei geht es kein bisschen darum, dass es aus diesem oder jenem Grund jetzt eben die kleinen Dinge des Lebens sind, die in den Mittelpunkt gerückt werden, der Alltag, ein Grashalm, der eigene, gut beobachtete Körper ins Blickfeld geraten („Spürst du nicht, / daß du eine Röhre bist, / nichts weiter, / durch die es tröpfelt, / rinnt, gleitet oder rutscht?“). Ein kleiner Radius bietet viel, und ausscheren aus dem Trampelpfad lässt sich immer.

In HMEs Wirrwarr gibt es ein wenig viel Bodenhaftung wie Skepsis gegenüber Höhenflügen à la Ikarus, dem Schneider von Ulm oder Lilienthal. Es gibt ein wenig viel konservativen Touch, der jetzt eben auch HME ereilt hat. Und auch die Klima-„Propheten im Studio“ kriegen ihr Fett ab: „Fünf Minuten auf Sendung, / und schon steht fest für euch, / daß wir Verbrecher sind, / Ungeziefer, das die Erde / befallen hat. Allerdings, / wenn ich erwäge, / wer sie hervorbringt, / all diese Abgesänge / auf den homo sapiens – / immerhin eine Kreatur, die Gott erfunden hat …“ Und ja, wir haben es bemerkt: Das „daß“ durfte durchgängig sein scharfes ß behalten.

Die Dinggedichte („Vinyl / Das leise knistern der Platte …“) im Wirrwarr haben ihren Charme, wie die Dinge selbst, wenn sie mal ganz neu betrachtet oder überhöht werden. Ein nettes Spiel. Aber wirklich schwer zu ertragen, weil so einfach gestrickt, sind die nicht wenigen Aufzählgedichte („Warten“, „Was es nicht braucht“, „Die wunderbaren Glückumstände einer alten Dame“…), die man eigentlich seit Günter Eichs wirkungsmächtiger Inventur nur noch deutschen Schlagern zugestehen und verzeihen möchte.

HMEs Lyrikband als „schön“ zu bezeichnen, geht in Ordnung, zumal da noch die vielen „Akrylbilder“ von Jan Peter Tripp zwischen die Gedichte gestreut wurden (wie bereits 2013 in HMEs Blauwärts), ebenso hyperrealistisch wie absurd und fremd. Sie übersteigen in ihrer Rätselhaftigkeit um einiges HMEs Verse. Und deshalb warten wir auf seine nächsten.

 

Hans Magnus Enzensberger: Wirrwarr – Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin (2020), 140 Seiten, 24 Euro.

Externe Links:

Wirrwarr im Suhrkamp Verlag

LiteraturSeiten München (wo dieser Artikel zuerst erschien)