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01.12.2020, 11:54 Uhr
Katrin Diehl
Text & Debatte
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Geschichte, Kunst, Kultur: Ein Buch über böhmische Spuren in München

Es ist reiner Zufall. Im Februar 1897 bezog der Dichter Rainer Maria Rilke in der Blütenstraße 8 sein neues Zuhause. Für den 22-jährigen Studenten der Kunstgeschichte war das bereits – nach der Brienner Straße 48 – die zweite Adresse in der königlichen Residenzstadt. Jetzt also Schwabing, und das Haus, in dem er untergekommen war, konnte sich ja durchaus auch sehen lassen: ein Eckgebäude mit Erkern, die sich über einem stattlichen Eingang von Stockwerk zu Stockwerk zu einem Turm formierten, den ganz oben ein spitzes Dach krönte, was alles ganz und gar den Architekturmoden des zu der Zeit recht beliebten Historismus entsprach. Nicht weit von Rilke entfernt wohnte, in der Schellingstraße, die Dichterin Lou Andreas-Salomé, in die sich Rilke verliebte und mit der er dann auch Ende des Jahres nach Wolfratshausen zog.

Ein Brief, den er im Mai 1897, gerichtet an die „Gnädigste Frau“, in der Blütenstraße 8 verfasst hat, zeugt von dieser Liaison. Er lässt sich heute – für Sütterlin-Kundige – auf einer Erinnerungstafel, die sich im Treppenhaus des Gebäudes Blütenstraße 8 befindet, nachlesen. Von außen erinnert nichts mehr ans gutbürgerliche Stadtgebäude aus Rilkes Zeiten. Das ist, wie so vieles, im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.

Es ist reiner Zufall, dass Jozo Džambo in der Blütenstraße 8 wohnt. Aber weil der 71-jährige Historiker und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter des Münchner Adalbert Stifter Vereins (über 20 Jahre war er dort beschäftigt gewesen) die Beziehungen zwischen Böhmen und München schon lange fest im Blick hatte, konnte es ihm schwerlich verborgen bleiben, dass er sich mit Rilke eine Adresse teilte.

Rilke kam aus Prag. Und damit war er nicht alleine. München übte als Kunst- wie Verlagsstadt mit einer über die Grenzen hinaus gerühmten Kunstakademie auf viele Intellektuelle Böhmens – dem Kronland Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien – eine starke Anziehungskraft aus. Sie ließen sich locken und kamen, darunter – um nur wenige von ihnen zu nennen – Franz Kafka, Max Reger, Alfred Kubin … Aber auch die entgegengesetzte Richtung wurde frequentiert. Und so machten sich „Münchner“ auf den Weg ins östliche Nachbarland – darunter Oskar Maria Graf, T. Th. Heine, Thomas Mann, Golo Mann. Sie gingen nach Prag, flohen ihre Heimat. Dieses Hin und Her übte hier wie dort seinen Einfluss aus auf Literatur, Musik, Architektur, ja und auch auf Speisekarten.

Den „Böhmischen Spuren in München“ nachzugehen, liegt also recht nahe. Jozo Džambo hat das im gleichnamigen Band als Herausgeber getan, hat 16 Beiträge zu einzelnen Themen wie einzelnen Persönlichkeiten zusammengestellt, tritt da selbst einige Male als Autor auf, zum Beispiel dann, wenn es um Rilke geht. Auch historische Ereignisse, wie das „Münchner Abkommen“ vom September 1938, werden beleuchtet, bei dem Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien über die Abtretung der Sudetengebiete an Nazi-Deutschland verfügt haben. Eine Gedenktafel am ehemaligen „Führerbau“ in der Arcisstraße 12 erinnert an diesen „Akt“, der die Vorzeichen eines Krieges in sich trug.

Wer mit Jozo Džambo durch München schlendert, bekommt sie zu hören, die Geschichten von Menschen, die sich aufgemacht haben aus Böhmen in die bayerische Hauptstadt. Er könnte sie alle abgehen die Stellen, von denen nicht wenige mit Informationstafeln versehen sind. Auch das Gebäude des „Radio Free Europe“ in der Oettingenstraße ist ja noch – wenn auch stark verändert – irgendwie vorhanden. Bei der Rundfunkstation hatte es bis in die 90er Jahre eine „tschechoslowakische Abteilung“ gegeben, in der viele Intellektuelle, unter ihnen auch Schriftsteller, aus „Böhmen“ untergekommen waren. Sie hatten sich nach der kommunistischen Machtübernahme oder – 20 Jahre später – nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in den Westen „gerettet“.

Jozo Džambo ist es bei dem Spaziergang durch die Stadt aber eben auch ein Anliegen, auf Orte hinzuweisen, an denen heute und tagtäglich mit der böhmischen Geschichte hantiert wird, „denn die enge Verzahnung von München und Böhmen ist ja weiter am Werk“. Und sie wird bis heute weiter „bearbeitet“. Zum Beispiel im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, wo Ingrid Sauer, zuständig für das „Sudetendeutsche Archiv“, „Wäschekörbe“ von Zeugnissen und Erinnerungen von Menschen, die die böhmische Heimat verlassen haben und in Deutschland gelandet sind, entgegennimmt, sie sachgemäß bearbeitet und umgänglich macht (auch von Ingrid Sauer gibt es einen Beitrag im Buch). Oder im vor kurzem frisch renovierten Osteuropa-Lesesaal in der Bayerischen Staatsbibliothek, wo Leute wie Filip Hlušička von der Osteuropa-Abteilung dafür sorgen, dass die Studierenden über Medien den Kontakt zum tschechischen Nachbarland halten und erforschen können.

Auch für Jozo Džambo ist die „Sache“ mit seinem Buch längst nicht erledigt. „Das ist ein work in progress.“ Leser und Leserinnen lassen ihm Ergänzungen, Korrekturen, neue Geschichten zukommen. „Es geht weiter und vielleicht gibt es irgendwann einen nächsten Band.“

Sekundärliteratur:

Jozo Džambo (Hg.) (2020): Böhmische Spuren in München. Geschichte, Kunst und Kultur. Volk Verlag, München. 280 Seiten, 19,90 Euro.

 

Externe Links:

Böhmische Spuren in München im Volk Verlag

LiteraturSeiten München (wo dieser Artikel zuerst erschien)