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10.11.2020, 15:00 Uhr
Bernd Zabel
Text & Debatte
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Erstaunliches aus den Archiven: Zum Nachlass Oskar Panizzas

Um den Nachlass Oskar Panizzas (geb. 1853 in Bad Kissingen), der sich teilweise im Literaturarchiv der Stadt München, der Monacensia, befindet, ranken sich wildeste Geschichten. Der Weg des ausgebildeten Psychiaters Panizza zum Patienten, zum „Exil im Wahn“ und seine Indienstnahme für die nationalsozialistische Ideologie sind dabei nur die hervorstechenden. Um mit tradierten Fälschungen und kolportierten Gerüchten aufzuräumen, hat sich der Germanist Michael Bauer verdienstvollerweise in die Archive begeben und dabei einiges Neue zu Tage befördert. Aus seiner langjährigen Beschäftigung mit Werk und Leben Oskar Panizzas sind zwei Bände entstanden, eine Biografie und eine Lesebuch (letzteres mit Christine Gerstacker).

Deutlich wird, dass sich Panizza zeitlebens an der katholischen Religion abgearbeitet hat. Sein antipapistisches Theaterstück Das Liebeskonzil brachte ihm eine Anklage wegen Blasphemie und 1895 eine einjährige Haftstrafe im Zuchthaus Amberg ein. Der vermögende Vierzigjährige hätte damals durchaus die Möglichkeit gehabt, sich dem Prozess zu entziehen und im Ausland auf bessere Zeiten zu warten. Aber getrieben von Geltungsdrang suchte er die Konfrontation, sich selbst dabei zum Prometheus stilisierend.

Er litt an den psychischen Folgen von Zensur und Zuchthaus, fühlte sich als geächtetes Genie der Verfolgung durch die Obrigkeit ausgesetzt. Gleichzeitig gab ihm sein kritischer Geist ein Überlegenheitsgefühl. „Es ist ein Glück, dass wir Geisteskranke unter uns haben oder doch Halbverrückte, die das politisch, künstlerisch, gedanklich wagen, was wir nicht (…) wagen.“

Nach Verbüßung der Strafe ging er rasch ins Schweizer Exil, denn das Ziel war erreicht: sein Fall war der Literaturskandal der 1890er Jahre, sein Name in weiten Kreisen bekannt. Mit dem Pamphlet Abschied von München, ein Handschlag setzte er zuvor noch ein kräftiges Ausrufezeichen: München als geistferne Stadt von Metzgern und Bierbrauern.

In Zürich versammelte er rasch wieder eine Schar von Bohemiens um sich, gab eine selbstfinanzierte Zeitschrift heraus. Doch sollte sein Bleiben auch hier nicht lange währen. Die publizistischen Aktivitäten und sein Lebenswandel erregten Misstrauen. Im Oktober 1898 erfolgte der Ausweisungsbescheid. Am 21.11. kam er mit seiner eilig verpackten Bibliothek in Paris an, der nächsten Station des Exils. Hier brach sich die Antipathie gegen den vermeintlichen Verfolger, Kaiser Wilhelm II., in den Versen seiner Parisjana Bahn. Die „Majestätsbeleidigung“ blieb nicht folgenlos. Haftbefehl aus München und Konfiszierung seines Vermögens in Deutschland zwangen Panizza, sich den Behörden zu stellen.

Seine psychische Situation verschlechterte sich zusehends, dem Bemühen der Obrigkeit und dem Bestreben der Familie, ihn zu entmündigen, konnte er keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Die letzte Station begann, das Exil im Wahn. Im „rothen Haus“ bei Bayreuth lebte er 17 Jahre und sah sich „in einer Situation völliger geistiger Freiheit“, wie der Biograf anmerkt.

Bauers Recherchen fördern speziell hinsichtlich der Editionsgeschichte Erstaunliches zu Tage. Das Panizza-Bild wurde bis in unsere Tage geprägt durch die Ausgabe seiner Schriften, die der NS-Literat und Kulturfunktionär Kurt Eggers veranstaltet hatte. Linksintellektuellen wie Gustav Landauer und Kurt Tucholsky wurde der Zugang zum Nachlass verweigert. Im Zusammenwirken von Familie, Vormundschaft, Ärzten und Justiz wurde dieser beträchtliche Nachlass zu großen Teilen vernichtet. Manuskripte, Tagebücher, Erzählungen und Theaterstücke, dazu viele Illustrationen des begabten Zeichners – ein Verlust, dessen Ausmaß man bei einem Autor, der mit E.T.A. Hoffmann und E. A. Poe verglichen wird, nur erahnen kann.

Das Lesebuch versammelt neben dem Tagebuch aus der Zeit im Zuchthaus Amberg die bereits erwähnten Abschiedstexte von München, drei Novellen, einige Briefe an Freundinnen (unter ihnen die Venus von Schwabing Franziska zu Reventlow) und das inkriminierte Stück Das Liebeskonzil.

Die erste öffentliche Aufführung des Liebeskonzil fand übrigens als szenische Lesung am 08.12.1965 auf einer Münchner Studentenbühne statt und rief prompt wieder Proteste bei Tugend- und Sittenwächtern hervor.

Es bleibt zu wünschen, dass weitere Bände aus dem noch vorhandenen Nachlass ediert werden und der Autor, dessen 100. Todestag am 28.9. 2021 bevorsteht, dem Vergessen entrissen wird.