Über das Werk von Asta Scheib (2): Psychogramm einer jungen Mutter und Ehefrau
Die am 27. Juli 1939 in Bergneustadt (Nordrhein-Westfalen) geborene und seit den 1970er-Jahren in München lebende Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin Asta Scheib hat letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert. Mit dem zweiten Teil unserer mehrteiligen Blogreihe wollen wir nun den Streifzug durch ihr vielfältiges literarisches Werk fortsetzen (alle Beiträge zur Blogreihe finden Sie HIER). Im Mittelpunkt steht Asta Scheibs Erzählung Langsame Tage (1974) über eine an Depression leidende junge Frau, zunächst als Vorlage von Rainer Werner Fassbinder verfilmt, später ausgearbeitet zum Debütroman (1981). Ein Beitrag von Nastasja S. Dresler.
*
Das Auto ist für Agnes der einzige Ort, an dem sie ihr Alleinsein aushält. Im Auto ist zum Alleinsein keine Zeit. Die Hebel, Knöpfe und Schalter gehorchen, als hätten sie Zauberkräfte, so daß das blauschimmernde Gehäuse, das ruhig wartend in der Garage steht, plötzlich lebt. Leuchtende Augen bekommt, einen Mund mit Metallzähnen. Das komplizierte technische Treiben unter der Kühlerhaube grenzt für Agnes an Hexenwerk. Doch sie gibt sich zufrieden damit, daß sie mittels Knöpfen und Hebeln den fremden Geistern befehlen kann. [...] Die Konzentration, die nötig ist, um diese Spielregeln zu befolgen, erzeugt in Agnes die Illusion von Zugehörigkeit. Sie gehört zu denen, die – eingeschlossen in lackierte Gehäuse – nach feststehenden Gesetzen schalten, gasgeben, bremsen, lenken.
(Asta Scheib: Langsame Tage. Nymphenburger Verlag, München 1981, S. 8.)
Agnes Ruge hat Angst. Plötzlich wird sie in der Nacht von Panikattacken heimgesucht und setzt sich ins Auto, wahllos durch die Stadt fahrend, das beruhigt, und es ist ein Fluchtraum. Mit Ehemann Peter und Sohn Alex wohnt sie unter einem Dach mit Schwiegermutter und Schwägerin Lore und ihrem Mann Karli. Seit der Geburt verspürt sie eine ständige Erschöpfung.
Die beiden Frauen sind Agnes ein unerträgliches Gespann. Vergeblich versucht sie der an sie herangetragenen Rolle der Schwiegertochter gerecht zu werden. Da sie daran offenbar scheitert, suchen sie ihre Aufgaben zu übernehmen und sie regelrecht zu entmündigen.
Agnes wurde immer müder. Manchmal saß sie morgens im Bad und wußte nicht, wie sie ihre Strümpfe anziehen sollte. Sie wollte wieder ins Bett. Doch das war nicht möglich. Gleich würde Mutter mit ihrer korrekten Einschlagfrisur herunterkommen. Fragen, ob sie Alex zum Kindergarten bringen sollte. Und gleich Gemüse vom Markt mitbringen. [...] Agnes wünschte dann, sie wäre alt. Mit all den Büchern, die sich angesammelt hätten, im Altersheim. (S. 16)
Agnes' emotionale Instabilität ist vielschichtig. Sie leidet nicht nur unter Erschöpfungs- und Angstzuständen, wirkt lethargisch und resigniert, sondern entwickelt auch bizarre, morbide Gedanken. Peter wiederum konzentriert sich auf seinen Job und will mit einer Jazzband reüssieren. Er steht den Verstimmungen seiner Frauen ratlos bis unbedarft gegenüber. In ihrer Einsamkeit fokussiert Agnes auf ihr Kind, doch schlägt ihr auch Kritik an ihrem Verhalten als Mutter entgegen. Die Schwiegermutter legt ihr nahe, arbeiten zu gehen und zum Familieneinkommen beizutragen. Agnes' Bindung zu ihrem Sohn erscheint in seiner Intensität nicht mehr nachvollziehbar.
Niemandem […] hätte Agnes erklären können, was das ist. Das zwischen ihr und Alex. Das hatte vor vier Jahren mit Alexanders Geburt begonnen und wuchs. Es wuchs, seit Alexander sich herausgequält hatte aus ihr. Seit er sich mit unsäglicher Mühe, Stunde um Stunde, ans Licht hervorgearbeitet hatte. Ihrer beider Qualen waren identisch. Wie ihrer beider Schrei, als die Geburt geschehen und weit und breit keine Seligkeit zu finden war. Alexanders Qual breitete sich aus auf seinem geschundenen Gesicht. Agnes lag in einem tiefen Graben der Erschöpfung. So wird es immer sein, dachte Agnes. (S. 33f.)
© dtv
Die Angst wird zum Dämon
Mutter und Lore mischen sich vom ersten Tag an in die Versorgung des Säuglings ein. Die Schwägerin lehnt es ab, dass Agnes ihren Sohn stillen möchte, und erhält obendrein Anlass zum Triumphieren. Immer weiter gerät sie in einen Strudel aus Ängsten und Depressionen. Mann Peter ist überfordert und alarmiert den Arzt bei ihrer nächsten nächtlichen Attacke, vereinbart einen Termin in der Praxis, wo sie Beruhigungsmittel verordnet bekommt.
Einzige Bezugsperson außerhalb der Familie ist Freundin Iris, die ein unorthodoxes, selbstbestimmtes Leben führt. Agnes beneidet Iris um ihren Mut, als unverheiratete Frau ihren Weg zu gehen, hätte selbst jedoch viel zu wenig Selbstbewusstsein, um ihr Leben genauso zu entwerfen:
Man heiratet, weil das Leben einer Frau nicht komplett ist ohne Ehe, sagt Mutter. [...] Quatsch, die Zeiten sind lange vorbei, sagt Iris. Die Ehe als große Bestätigung dafür, daß man okay ist, keinen Klumpfuß hat. [...] Wenn eine Frau meint, daß sie erst einen Wert bekommt durch einen Mann, dann wählt sie anders, als wenn sie weiß, daß sie selbst ein Wert ist. Verdammt, wir sind doch selber ein Wert. Und meinetwegen kann sich jede Frau einen Wert suchen, der zu ihr paßt. Aber sie muß es doch nicht, sie kann doch auch prima allein, also ich jedenfalls, sagt Iris. (S. 61f.)
Agnes versucht mit ausgedehnten Putzaktionen und täglichem morgendlichen Schwimmprogramm im Hallenbad dem Tag Struktur zu geben und die Attacken auf diese Weise zu bewältigen. Die Angst wird zum Dämon, der sie auf Schritt und Tritt verfolgt, bereit, jederzeit wieder über sie herzufallen. Hinzu kommt eine unangenehme Begegnung mit dem Nachbarn Herrn Bauer, dem sie fortan konsequent aus dem Weg zu gehen versucht:
Von ihm wissen alle, daß er nicht richtig im Kopf ist. Daß er oft monatelang in die Klapsmühle muß, nur zwischendurch mal heimkommt. Dabei hat er Abitur, sagt Mutter. Sogar studiert hat er. Volkswirtschaft. Aber gearbeitet hat er nie was. Seinen Lebtag nicht, sagt Mutter. Der Schlawiner, der stiehlt dem lieben Gott den Tag. Der ist bekloppt, sagt Lore. Liegt seiner Familie auf der Tasche und macht sich ein schlaues Leben. [...] Agnes kann Herrn Bauer gut leiden. Sein abwesendes Lächeln im blassen Gesicht. Doch jetzt, seit es ihr selbst nicht gut geht, kann sie Herrn Bauer nicht mehr aushalten. Es scheint ihr, als sehe Herr Bauer sie forschend an. Du bist wie ich, sagen seine Augen. Aber sie will nicht sein wie Herr Bauer. (S. 75)
Agnes sucht ihre Verlorenheit in einer Affäre mit dem Apotheker, über den sie die Beruhigungsmittel bezieht, zu überwinden. Der will ihr jedoch keine langfristige Perspektive eröffnen. Es bleiben „Langsame Tage. Valium-Nächte.“ (S. 127) Agnes gibt sich, angeregt durch den Tablettenkonsum, dem Alkohol hin, der ihre Attacken befördert. In ihrer Angst spürt sie sich nicht mehr und verletzt sich an einem zerbrochenen Glas. Peter weist sie in die Psychiatrie ein: „Schöne Panik. Hilfreiche Panik. Sie lächelt den Notarzt an, der die Wunde versorgt. [...] Mutters Empörung. Das hat es in unserer Familie noch nicht gegeben.“ (S. 132) In der geschlossenen Abteilung wird ihr ein „Heilschlaf“ verordnet. Abgesehen von den beklemmenden Eindrücken in der Heilanstalt verläuft die Behandlung positiv: Die Patientin stabilisiert sich und wird in die offene Abteilung überstellt. Sie gewinnt das erste Mal Vertrauen zu einer einfühlsamen Ärztin. Nach langer, intensiver Therapie kehrt sie guten Mutes in ihren Alltag zurück. Kaum wieder zu Hause, macht sie jedoch eine verstörende Beobachtung...
**
Fassbinders Verfilmung Angst vor der Angst (1975)
Mit 35 Jahren schickt Asta Scheib ihre Erzählung an Rainer Werner Fassbinder. Sie schreibt damals gelegentlich freiberuflich für eine Lokalzeitung und Frauenzeitschrift und ist hauptsächlich mit der Erziehung ihrer beiden Kinder beschäftigt; ihr literarisches Debüt ist noch in weiter Ferne. Fassbinder reagiert begeistert auf das Werk und verfilmt es für den WDR. Er ermutigt sie auch dazu, den Stoff noch weiter auszuarbeiten. „Er war der Erste, der mir gesagt hat, du kannst was“, sagt Asta Scheib. 1981 legt die Autorin dann die erweiterte Romanfassung ihrer Filmvorlage vor. Die Hauptrolle Agnes besetzt Fassbinder mit Margit Carstensen. Gegenüber dem Plot der späteren Romanfassung fällt der 88-minütige Spielfilm deutlich reduzierter aus – Fassbinder hielt sich ziemlich genau an die Erzählvorlage. Im Roman erweitert die Autorin das Narrativ um die wichtigen Sequenzen der (nächtlichen) Autofahrten. Aber auch die Geburt des Kindes, damals noch ein Mädchen, in der Romanfassung ein Junge, sowie die Erfahrungen in der Geburtsklinik werden ausgedehnt dargestellt. Die dortigen Erlebnisse verschränken sich mit dem Gefühl der Verlassenheit und bereiten die intensive Bindung zu dem Kind vor. Wie wenig Anteilnahme Mann Peter zeigt, muss Agnes vor allem bei der Geburt ihres Sohnes feststellen:
Wie schnell war ihre freudige Erwartung verflogen, als sie in der Klinik von einer Wehe in die andere ächzte. Lange Zeit war sie am Fenster gestanden, hatte Peters Auto nachgesehen. Es war halb zwei in der Nacht und Peter hatte einen anstrengenden Tag vor sich. Peter wollte nicht bleiben. Ich kann so was nicht sehen, ehrlich, Spatz. Agnes wäre jetzt gern hinterhergelaufen hinter Peter. Sie bekam plötzlich Furcht vor ihren rießigen Brüsten, die, blaugeädert, spannten und schmerzten. Der unförmige Bauch schien bedrohlich. [...] (S. 45ff.)
Eine weitere wesentliche Erweiterung stellt der Aufenthalt in der Psychiatrie dar, den Scheib geradezu minutiös wiedergibt:
Keine der Kranken widersprach oder muckte mal auf. Alle wirkten wie Marionetten, ausgeliefert oder unbeteiligt. Wie Agnes. Es war ihr klar, daß sie die neue Ruhe, diesen dumpfen Frieden in sich, den Wissenschaftlern in den Chemiekonzernen verdankte. Aber auch die Gewißheit, nicht verrückt, nicht geisteskrank zu sein, rollte einen Stein weg von ihrer Grabstätte. [...] Von Professor F. hatte sie nach Beendigung ihres Heilschlafs gehört, daß sie an einer endogenen [...] Depression leide. Das ist Alltag für uns, hatte Professor F. gesagt [...]. Das bringen wir bald wieder hin. (S. 143f.)
Das Anliegen des Films umreißt Fassbinder mit den Worten:
In Angst vor der Angst geht es gar nicht wirklich um Geisteskrankheit, es ist ein Film über den ganz ‚normalen‘ menschlichen Zustand. Geisteskrankheiten sind unerlässlicher Bestandteil einer Gesellschaft wie der, in der wir leben. Ich zeige lediglich das Leben eines ganz normalen Menschen, keine extreme Situation. [...] Der Film zeigt, wie jemand, der versucht, ein Leben zu führen, das sich selber fremd ist, entfremdet vom wahren Selbst, unvermeidlich zerschmettert wird. Das Leben, das diese Frau führen muss, ist nicht ihr Leben. Ihr Unbewusstes beginnt zu begreifen, dass sie ein Leben führt, das in Wirklichkeit nichts mit ihr zu tun hat. Diese Art von „Krankheit“ setzt bei jedem ein, der wahrzunehmen beginnt, dass das Leben, das er führt, vielleicht nicht das Leben ist, das er führen möchte, und dass die meisten Leute in ihrem Leben einfach eine Rolle spielen, die nicht ihre Rolle ist. Auf diese Weise wird man „krank“.
(Robert Fischer [Hg.]: Fassbinder über Fassbinder. Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 2004.)
Das Ende des Narrativs hält eine bedrückende existentielle Botschaft bereit. Die Protagonistin kehrt gelöst nach Hause zurück, dann aber kommt die Szene, in der der Sarg des Nachbarn vor dem Fenster vorbeigetragen wird, der sich das Leben genommen hat. Agnes Gedanken lauten: „[E]r hat es geschafft“. Da ist die gelöste Atmosphäre dahin – um den Filmtitel aufzugreifen: Die Angst vor der Angst ist nie wirklich weggewesen.
Über das Werk von Asta Scheib (2): Psychogramm einer jungen Mutter und Ehefrau>
Die am 27. Juli 1939 in Bergneustadt (Nordrhein-Westfalen) geborene und seit den 1970er-Jahren in München lebende Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin Asta Scheib hat letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert. Mit dem zweiten Teil unserer mehrteiligen Blogreihe wollen wir nun den Streifzug durch ihr vielfältiges literarisches Werk fortsetzen (alle Beiträge zur Blogreihe finden Sie HIER). Im Mittelpunkt steht Asta Scheibs Erzählung Langsame Tage (1974) über eine an Depression leidende junge Frau, zunächst als Vorlage von Rainer Werner Fassbinder verfilmt, später ausgearbeitet zum Debütroman (1981). Ein Beitrag von Nastasja S. Dresler.
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Das Auto ist für Agnes der einzige Ort, an dem sie ihr Alleinsein aushält. Im Auto ist zum Alleinsein keine Zeit. Die Hebel, Knöpfe und Schalter gehorchen, als hätten sie Zauberkräfte, so daß das blauschimmernde Gehäuse, das ruhig wartend in der Garage steht, plötzlich lebt. Leuchtende Augen bekommt, einen Mund mit Metallzähnen. Das komplizierte technische Treiben unter der Kühlerhaube grenzt für Agnes an Hexenwerk. Doch sie gibt sich zufrieden damit, daß sie mittels Knöpfen und Hebeln den fremden Geistern befehlen kann. [...] Die Konzentration, die nötig ist, um diese Spielregeln zu befolgen, erzeugt in Agnes die Illusion von Zugehörigkeit. Sie gehört zu denen, die – eingeschlossen in lackierte Gehäuse – nach feststehenden Gesetzen schalten, gasgeben, bremsen, lenken.
(Asta Scheib: Langsame Tage. Nymphenburger Verlag, München 1981, S. 8.)
Agnes Ruge hat Angst. Plötzlich wird sie in der Nacht von Panikattacken heimgesucht und setzt sich ins Auto, wahllos durch die Stadt fahrend, das beruhigt, und es ist ein Fluchtraum. Mit Ehemann Peter und Sohn Alex wohnt sie unter einem Dach mit Schwiegermutter und Schwägerin Lore und ihrem Mann Karli. Seit der Geburt verspürt sie eine ständige Erschöpfung.
Die beiden Frauen sind Agnes ein unerträgliches Gespann. Vergeblich versucht sie der an sie herangetragenen Rolle der Schwiegertochter gerecht zu werden. Da sie daran offenbar scheitert, suchen sie ihre Aufgaben zu übernehmen und sie regelrecht zu entmündigen.
Agnes wurde immer müder. Manchmal saß sie morgens im Bad und wußte nicht, wie sie ihre Strümpfe anziehen sollte. Sie wollte wieder ins Bett. Doch das war nicht möglich. Gleich würde Mutter mit ihrer korrekten Einschlagfrisur herunterkommen. Fragen, ob sie Alex zum Kindergarten bringen sollte. Und gleich Gemüse vom Markt mitbringen. [...] Agnes wünschte dann, sie wäre alt. Mit all den Büchern, die sich angesammelt hätten, im Altersheim. (S. 16)
Agnes' emotionale Instabilität ist vielschichtig. Sie leidet nicht nur unter Erschöpfungs- und Angstzuständen, wirkt lethargisch und resigniert, sondern entwickelt auch bizarre, morbide Gedanken. Peter wiederum konzentriert sich auf seinen Job und will mit einer Jazzband reüssieren. Er steht den Verstimmungen seiner Frauen ratlos bis unbedarft gegenüber. In ihrer Einsamkeit fokussiert Agnes auf ihr Kind, doch schlägt ihr auch Kritik an ihrem Verhalten als Mutter entgegen. Die Schwiegermutter legt ihr nahe, arbeiten zu gehen und zum Familieneinkommen beizutragen. Agnes' Bindung zu ihrem Sohn erscheint in seiner Intensität nicht mehr nachvollziehbar.
Niemandem […] hätte Agnes erklären können, was das ist. Das zwischen ihr und Alex. Das hatte vor vier Jahren mit Alexanders Geburt begonnen und wuchs. Es wuchs, seit Alexander sich herausgequält hatte aus ihr. Seit er sich mit unsäglicher Mühe, Stunde um Stunde, ans Licht hervorgearbeitet hatte. Ihrer beider Qualen waren identisch. Wie ihrer beider Schrei, als die Geburt geschehen und weit und breit keine Seligkeit zu finden war. Alexanders Qual breitete sich aus auf seinem geschundenen Gesicht. Agnes lag in einem tiefen Graben der Erschöpfung. So wird es immer sein, dachte Agnes. (S. 33f.)
© dtv
Die Angst wird zum Dämon
Mutter und Lore mischen sich vom ersten Tag an in die Versorgung des Säuglings ein. Die Schwägerin lehnt es ab, dass Agnes ihren Sohn stillen möchte, und erhält obendrein Anlass zum Triumphieren. Immer weiter gerät sie in einen Strudel aus Ängsten und Depressionen. Mann Peter ist überfordert und alarmiert den Arzt bei ihrer nächsten nächtlichen Attacke, vereinbart einen Termin in der Praxis, wo sie Beruhigungsmittel verordnet bekommt.
Einzige Bezugsperson außerhalb der Familie ist Freundin Iris, die ein unorthodoxes, selbstbestimmtes Leben führt. Agnes beneidet Iris um ihren Mut, als unverheiratete Frau ihren Weg zu gehen, hätte selbst jedoch viel zu wenig Selbstbewusstsein, um ihr Leben genauso zu entwerfen:
Man heiratet, weil das Leben einer Frau nicht komplett ist ohne Ehe, sagt Mutter. [...] Quatsch, die Zeiten sind lange vorbei, sagt Iris. Die Ehe als große Bestätigung dafür, daß man okay ist, keinen Klumpfuß hat. [...] Wenn eine Frau meint, daß sie erst einen Wert bekommt durch einen Mann, dann wählt sie anders, als wenn sie weiß, daß sie selbst ein Wert ist. Verdammt, wir sind doch selber ein Wert. Und meinetwegen kann sich jede Frau einen Wert suchen, der zu ihr paßt. Aber sie muß es doch nicht, sie kann doch auch prima allein, also ich jedenfalls, sagt Iris. (S. 61f.)
Agnes versucht mit ausgedehnten Putzaktionen und täglichem morgendlichen Schwimmprogramm im Hallenbad dem Tag Struktur zu geben und die Attacken auf diese Weise zu bewältigen. Die Angst wird zum Dämon, der sie auf Schritt und Tritt verfolgt, bereit, jederzeit wieder über sie herzufallen. Hinzu kommt eine unangenehme Begegnung mit dem Nachbarn Herrn Bauer, dem sie fortan konsequent aus dem Weg zu gehen versucht:
Von ihm wissen alle, daß er nicht richtig im Kopf ist. Daß er oft monatelang in die Klapsmühle muß, nur zwischendurch mal heimkommt. Dabei hat er Abitur, sagt Mutter. Sogar studiert hat er. Volkswirtschaft. Aber gearbeitet hat er nie was. Seinen Lebtag nicht, sagt Mutter. Der Schlawiner, der stiehlt dem lieben Gott den Tag. Der ist bekloppt, sagt Lore. Liegt seiner Familie auf der Tasche und macht sich ein schlaues Leben. [...] Agnes kann Herrn Bauer gut leiden. Sein abwesendes Lächeln im blassen Gesicht. Doch jetzt, seit es ihr selbst nicht gut geht, kann sie Herrn Bauer nicht mehr aushalten. Es scheint ihr, als sehe Herr Bauer sie forschend an. Du bist wie ich, sagen seine Augen. Aber sie will nicht sein wie Herr Bauer. (S. 75)
Agnes sucht ihre Verlorenheit in einer Affäre mit dem Apotheker, über den sie die Beruhigungsmittel bezieht, zu überwinden. Der will ihr jedoch keine langfristige Perspektive eröffnen. Es bleiben „Langsame Tage. Valium-Nächte.“ (S. 127) Agnes gibt sich, angeregt durch den Tablettenkonsum, dem Alkohol hin, der ihre Attacken befördert. In ihrer Angst spürt sie sich nicht mehr und verletzt sich an einem zerbrochenen Glas. Peter weist sie in die Psychiatrie ein: „Schöne Panik. Hilfreiche Panik. Sie lächelt den Notarzt an, der die Wunde versorgt. [...] Mutters Empörung. Das hat es in unserer Familie noch nicht gegeben.“ (S. 132) In der geschlossenen Abteilung wird ihr ein „Heilschlaf“ verordnet. Abgesehen von den beklemmenden Eindrücken in der Heilanstalt verläuft die Behandlung positiv: Die Patientin stabilisiert sich und wird in die offene Abteilung überstellt. Sie gewinnt das erste Mal Vertrauen zu einer einfühlsamen Ärztin. Nach langer, intensiver Therapie kehrt sie guten Mutes in ihren Alltag zurück. Kaum wieder zu Hause, macht sie jedoch eine verstörende Beobachtung...
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Fassbinders Verfilmung Angst vor der Angst (1975)
Mit 35 Jahren schickt Asta Scheib ihre Erzählung an Rainer Werner Fassbinder. Sie schreibt damals gelegentlich freiberuflich für eine Lokalzeitung und Frauenzeitschrift und ist hauptsächlich mit der Erziehung ihrer beiden Kinder beschäftigt; ihr literarisches Debüt ist noch in weiter Ferne. Fassbinder reagiert begeistert auf das Werk und verfilmt es für den WDR. Er ermutigt sie auch dazu, den Stoff noch weiter auszuarbeiten. „Er war der Erste, der mir gesagt hat, du kannst was“, sagt Asta Scheib. 1981 legt die Autorin dann die erweiterte Romanfassung ihrer Filmvorlage vor. Die Hauptrolle Agnes besetzt Fassbinder mit Margit Carstensen. Gegenüber dem Plot der späteren Romanfassung fällt der 88-minütige Spielfilm deutlich reduzierter aus – Fassbinder hielt sich ziemlich genau an die Erzählvorlage. Im Roman erweitert die Autorin das Narrativ um die wichtigen Sequenzen der (nächtlichen) Autofahrten. Aber auch die Geburt des Kindes, damals noch ein Mädchen, in der Romanfassung ein Junge, sowie die Erfahrungen in der Geburtsklinik werden ausgedehnt dargestellt. Die dortigen Erlebnisse verschränken sich mit dem Gefühl der Verlassenheit und bereiten die intensive Bindung zu dem Kind vor. Wie wenig Anteilnahme Mann Peter zeigt, muss Agnes vor allem bei der Geburt ihres Sohnes feststellen:
Wie schnell war ihre freudige Erwartung verflogen, als sie in der Klinik von einer Wehe in die andere ächzte. Lange Zeit war sie am Fenster gestanden, hatte Peters Auto nachgesehen. Es war halb zwei in der Nacht und Peter hatte einen anstrengenden Tag vor sich. Peter wollte nicht bleiben. Ich kann so was nicht sehen, ehrlich, Spatz. Agnes wäre jetzt gern hinterhergelaufen hinter Peter. Sie bekam plötzlich Furcht vor ihren rießigen Brüsten, die, blaugeädert, spannten und schmerzten. Der unförmige Bauch schien bedrohlich. [...] (S. 45ff.)
Eine weitere wesentliche Erweiterung stellt der Aufenthalt in der Psychiatrie dar, den Scheib geradezu minutiös wiedergibt:
Keine der Kranken widersprach oder muckte mal auf. Alle wirkten wie Marionetten, ausgeliefert oder unbeteiligt. Wie Agnes. Es war ihr klar, daß sie die neue Ruhe, diesen dumpfen Frieden in sich, den Wissenschaftlern in den Chemiekonzernen verdankte. Aber auch die Gewißheit, nicht verrückt, nicht geisteskrank zu sein, rollte einen Stein weg von ihrer Grabstätte. [...] Von Professor F. hatte sie nach Beendigung ihres Heilschlafs gehört, daß sie an einer endogenen [...] Depression leide. Das ist Alltag für uns, hatte Professor F. gesagt [...]. Das bringen wir bald wieder hin. (S. 143f.)
Das Anliegen des Films umreißt Fassbinder mit den Worten:
In Angst vor der Angst geht es gar nicht wirklich um Geisteskrankheit, es ist ein Film über den ganz ‚normalen‘ menschlichen Zustand. Geisteskrankheiten sind unerlässlicher Bestandteil einer Gesellschaft wie der, in der wir leben. Ich zeige lediglich das Leben eines ganz normalen Menschen, keine extreme Situation. [...] Der Film zeigt, wie jemand, der versucht, ein Leben zu führen, das sich selber fremd ist, entfremdet vom wahren Selbst, unvermeidlich zerschmettert wird. Das Leben, das diese Frau führen muss, ist nicht ihr Leben. Ihr Unbewusstes beginnt zu begreifen, dass sie ein Leben führt, das in Wirklichkeit nichts mit ihr zu tun hat. Diese Art von „Krankheit“ setzt bei jedem ein, der wahrzunehmen beginnt, dass das Leben, das er führt, vielleicht nicht das Leben ist, das er führen möchte, und dass die meisten Leute in ihrem Leben einfach eine Rolle spielen, die nicht ihre Rolle ist. Auf diese Weise wird man „krank“.
(Robert Fischer [Hg.]: Fassbinder über Fassbinder. Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 2004.)
Das Ende des Narrativs hält eine bedrückende existentielle Botschaft bereit. Die Protagonistin kehrt gelöst nach Hause zurück, dann aber kommt die Szene, in der der Sarg des Nachbarn vor dem Fenster vorbeigetragen wird, der sich das Leben genommen hat. Agnes Gedanken lauten: „[E]r hat es geschafft“. Da ist die gelöste Atmosphäre dahin – um den Filmtitel aufzugreifen: Die Angst vor der Angst ist nie wirklich weggewesen.