DOK.fest 2020 @home: „Vater mein Bruder“
Die 35. Ausgabe des DOK.fest München, Deutschlands größtem Dokumentarfilmfestival, muss dieses Jahr aufgrund der Coronakrise online stattfinden. Die Auswahl der diesjährigen Filme ist dennoch wie immer eindrucksvoll – das Programm kann noch bis zum 24. Mai 2020 von zu Hause aus verfolgt werden. Marie Kleber hat sich den Dokumentarfilm VATER MEIN BRUDER von Regisseur Ingo Baltes angesehen. Der Film ist für den von BR und 3sat gestifteten kinokino Publikumspreis nominiert.
*
„Wenn man zum Beispiel etwas sucht, dann liegt es nicht mehr auf den angestammten Plätzen. Alles kann gleichzeitig überall sein. Überall mit der gleichen Wahrscheinlichkeit.“ VATER MEIN BRUDER ist eine realistische Einsicht in eine Krankheit, die Millionen von Menschen betrifft und für alle anderen so unbegreiflich ist. Auf berührende Art und Weise befasst sich der Film mit der Krankheit Demenz.
2006 erhält Ingo Baltes Vater Heinz die Diagnose „Alzheimer“. Er beschließt seinen Vater von nun an mit der Kamera jahrelang zu begleiten. Es beginnt eine Reise ins Ungewisse. Ingos Film gleicht einem Tagebuch durch eine Realität, in der sich alles verändert.
Wie geht das Leben weiter nach der Diagnose Alzheimer?
Die erste Hälfte des Films befindet sich Heinz noch im Anfangsstadium seiner Krankheit. Er unternimmt noch allerhand mit seinem Sohn Ingo. So filmt er etliche Zug- oder Schifffahrten mit seinem Vater und Familienangehörigen. Dann besuchen sie zum Beispiel etliche Freunde in Thüringen und Mainfranken. Beim guten Essen eines befreundeten Paares merkt man noch kaum etwas von Heinz' Krankheit, da er sich gut an die Ereignisse von früher erinnert. Lebhaft erzählt er von seinen Kriegserlebnissen, als er mit seiner Familie seine Heimatstadt verlassen musste. Es scheint ein locker-fröhlicher Abend, die Freunde spielen sogar Klavier für Ingo und Heinz.
Wenig später erinnert sich Heinz an diesen Abend schon nicht mehr. Das Kurzzeitgedächtnis wird immer schlechter, ein wesentlicher Faktor dieser Krankheit. Ingo filmt ein Telefonat zwischen Heinz und einem Freund, aus dem hervorgeht, dass er sich an nichts mehr von diesem Abend erinnern kann.
Weiter folgen nun große Zeitsprünge im Film. Über Heinz' Frau, Ingos Mutter, erfährt man nicht viel. Auf einmal nimmt uns Ingo mit zum Silvesterabend mit Feuerwerk und Musik, einem Abend, der Heinz sichtlich gealtert zeigt und symbolisch für das Voranschreiten der Krankheit stehen könnte. Er erkennt seinen Sohn nicht mehr.
Flimmereffekte, Tonaussetzer, schonungslose Realität
Immer wieder zeigt der Film verzerrte oder verwackelte Bilder sowie undeutliche Flimmereffekte oder Tonaussetzer. Dies vermittelt ein gutes Verständnis darüber, wie sich Ingo die Krankheit seines Vaters von außen vorstellt. Oft zeigt uns Ingo auch völlig zusammenhangslose Bilder oder lange Szenen, in denen nichts passiert, wahrscheinlich ein Versuch zu verdeutlichen, wie es sich anfühlt, Teile seiner Erinnerung zu verlieren.
Kommentiert werden die Szenen ab und an mit der leisen und sanften Stimme Ingos aus dem Off. Manchmal flüstert er nur, doch meist schweigt er und lässt nur die Bilder sprechen, die die Realität genau zeigen, eine Krankheit, die langsam, aber unaufhörlich voranschreitet, dass sich Heinz am Schluss nicht mal mehr selbst erkennt.
Ingo stellt Heinz immer wieder Testfragen im Film. „Wer ist das denn auf dem Foto dort?“ Heinz lächelt darauf nur oder antwortet Ingo einfach nicht. Für den Zuschauer erschreckend und bedrückend, kann man doch genau auf dem Foto Heinz selbst erkennen.
Heinz' Geschichte berührt sehr, nicht zuletzt, weil er bis zum Ende ein humorvoller und liebenswerter Mensch geblieben ist, der mit seinen Erinnerungen den Zuschauer lächeln lässt. Denn das ist alles was bleibt: die Erinnerung von früher. Als Heinz fehlerfrei Gedichte aus seiner Schulzeit aufsagt, kann man fast nicht glauben, dass er sich nicht mehr an den gestrigen Tag erinnern kann. Dies lässt eine tiefe Betroffenheit zurück. Ein Film, der schonungslos ehrlich zeigt, wie schwer greifbar und unerklärlich die Krankheit Demenz immer noch ist.
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Die 35. Ausgabe des DOK.fest München, Deutschlands größtem Dokumentarfilmfestival, muss dieses Jahr aufgrund der Coronakrise online stattfinden. Die Auswahl der diesjährigen Filme ist dennoch wie immer eindrucksvoll – das Programm kann noch bis zum 24. Mai 2020 von zu Hause aus verfolgt werden. Marie Kleber hat sich den Dokumentarfilm VATER MEIN BRUDER von Regisseur Ingo Baltes angesehen. Der Film ist für den von BR und 3sat gestifteten kinokino Publikumspreis nominiert.
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„Wenn man zum Beispiel etwas sucht, dann liegt es nicht mehr auf den angestammten Plätzen. Alles kann gleichzeitig überall sein. Überall mit der gleichen Wahrscheinlichkeit.“ VATER MEIN BRUDER ist eine realistische Einsicht in eine Krankheit, die Millionen von Menschen betrifft und für alle anderen so unbegreiflich ist. Auf berührende Art und Weise befasst sich der Film mit der Krankheit Demenz.
2006 erhält Ingo Baltes Vater Heinz die Diagnose „Alzheimer“. Er beschließt seinen Vater von nun an mit der Kamera jahrelang zu begleiten. Es beginnt eine Reise ins Ungewisse. Ingos Film gleicht einem Tagebuch durch eine Realität, in der sich alles verändert.
Wie geht das Leben weiter nach der Diagnose Alzheimer?
Die erste Hälfte des Films befindet sich Heinz noch im Anfangsstadium seiner Krankheit. Er unternimmt noch allerhand mit seinem Sohn Ingo. So filmt er etliche Zug- oder Schifffahrten mit seinem Vater und Familienangehörigen. Dann besuchen sie zum Beispiel etliche Freunde in Thüringen und Mainfranken. Beim guten Essen eines befreundeten Paares merkt man noch kaum etwas von Heinz' Krankheit, da er sich gut an die Ereignisse von früher erinnert. Lebhaft erzählt er von seinen Kriegserlebnissen, als er mit seiner Familie seine Heimatstadt verlassen musste. Es scheint ein locker-fröhlicher Abend, die Freunde spielen sogar Klavier für Ingo und Heinz.
Wenig später erinnert sich Heinz an diesen Abend schon nicht mehr. Das Kurzzeitgedächtnis wird immer schlechter, ein wesentlicher Faktor dieser Krankheit. Ingo filmt ein Telefonat zwischen Heinz und einem Freund, aus dem hervorgeht, dass er sich an nichts mehr von diesem Abend erinnern kann.
Weiter folgen nun große Zeitsprünge im Film. Über Heinz' Frau, Ingos Mutter, erfährt man nicht viel. Auf einmal nimmt uns Ingo mit zum Silvesterabend mit Feuerwerk und Musik, einem Abend, der Heinz sichtlich gealtert zeigt und symbolisch für das Voranschreiten der Krankheit stehen könnte. Er erkennt seinen Sohn nicht mehr.
Flimmereffekte, Tonaussetzer, schonungslose Realität
Immer wieder zeigt der Film verzerrte oder verwackelte Bilder sowie undeutliche Flimmereffekte oder Tonaussetzer. Dies vermittelt ein gutes Verständnis darüber, wie sich Ingo die Krankheit seines Vaters von außen vorstellt. Oft zeigt uns Ingo auch völlig zusammenhangslose Bilder oder lange Szenen, in denen nichts passiert, wahrscheinlich ein Versuch zu verdeutlichen, wie es sich anfühlt, Teile seiner Erinnerung zu verlieren.
Kommentiert werden die Szenen ab und an mit der leisen und sanften Stimme Ingos aus dem Off. Manchmal flüstert er nur, doch meist schweigt er und lässt nur die Bilder sprechen, die die Realität genau zeigen, eine Krankheit, die langsam, aber unaufhörlich voranschreitet, dass sich Heinz am Schluss nicht mal mehr selbst erkennt.
Ingo stellt Heinz immer wieder Testfragen im Film. „Wer ist das denn auf dem Foto dort?“ Heinz lächelt darauf nur oder antwortet Ingo einfach nicht. Für den Zuschauer erschreckend und bedrückend, kann man doch genau auf dem Foto Heinz selbst erkennen.
Heinz' Geschichte berührt sehr, nicht zuletzt, weil er bis zum Ende ein humorvoller und liebenswerter Mensch geblieben ist, der mit seinen Erinnerungen den Zuschauer lächeln lässt. Denn das ist alles was bleibt: die Erinnerung von früher. Als Heinz fehlerfrei Gedichte aus seiner Schulzeit aufsagt, kann man fast nicht glauben, dass er sich nicht mehr an den gestrigen Tag erinnern kann. Dies lässt eine tiefe Betroffenheit zurück. Ein Film, der schonungslos ehrlich zeigt, wie schwer greifbar und unerklärlich die Krankheit Demenz immer noch ist.