Kurze Notiz zu Hans Magnus Enzensberger
Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Klaus Hübner rezensiert darin das neue Buch von Hans Magnus Enzensberger.
*
Der 11. November 2019, Martinstag und Faschingsanfang, war ein besonderer Tag für die deutsche Literatur. Kein Fernsehzuschauer, kein Radiohörer und kein Zeitungsleser konnte es übersehen: Hans Magnus Enzensberger wurde 90! Runder Geburtstag eines Weltstars der Literatur! Der Medienrummel war gewaltig. Kein Porträt, das seinen Kosmopolitismus, seine Vielsprachigkeit, sein Heimisch-sein in den Literaturen dieser Welt nicht erwähnte – seine einen radikal neuen Ton in die deutsche Lyrik bringenden Gedichte sowieso, das Kursbuch ebenfalls. In Italien hat er gelebt, in Norwegen, Frankreich, den USA und Kuba, und viele, sehr viele andere Länder hat er ausführlich bereist. In den meisten Geburtstagsgrüßen kam auch Bayern vor. Aber eher unter »ferner liefen«.
In sein jüngstes Buch mit dem schönen Titel Fallobst hat HME einen Text vom Juni 1951 aufgenommen: Curriculum vitae. Mit diesem Lebenslauf stellte sich der junge Mann der »Studienstiftung des deutschen Volkes« vor. Er beginnt so: »Ich bin am 11. November 1929 zu Kaufbeuren im bayerischen Allgäu geboren und wenige Tage später daselbst katholisch getauft. Nach einigen Jahren wurde mein Vater [...] als höherer Postbeamter nach Nürnberg versetzt. An die Stelle jenes großen, summenden Gartens, der in Kaufbeuren mein Teil war und in den mein frühestes Erinnern zurückreicht, trat die alte, unversehrte Stadt mit ihren Gräben, Mauern und Türmen.« Unversehrt blieb Nürnberg bekanntlich nicht mehr lange – die Sirenen des Luftkriegs wurden ein Grundgeräusch des Alltags. 1943 konnte die Familie Enzensberger entkommen. Wassertrüdingen am Hesselberg wurde ihr neuer Wohnort, für immerhin sechs nicht gerade einfache Jahre. Hans Magnus fuhr, solange das noch ging, mit dem Zug in die Schule, nach Gunzenhausen zuerst und nach dem Krieg nach Nördlingen. 1949 ging's zurück nach Nürnberg. Wichtig für seine Entwicklung wird nun auch die Universität in Erlangen. Das früheste Poem, das er in den zum 90. Geburtstag noch einmal erweiterten Auswahlband Gedichte aufgenommen hat, datiert von 1950. Wenige Jahre später wurde er berühmt. An Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer werden sich viele Zeitgenossen noch vom Deutschunterricht am Gymnasium her erinnern.
Ein Dichter aus Bayern also. Seit Jahrzehnten lebt er in München, in Alt-Schwabing, und dass er sich in der Landeshauptstadt bestens auskennt und sich, selten aber doch, in aktuelle Debatten wie die um die Untertunnelung des geliebten Englischen Gartens einmischt, kann man aus Fallobst erfahren. In diesem Buch sind nicht nur ältere Texte wie Curriculum vitae enthalten, sondern auch zahlreiche neue: skeptische Beobachtungen zur Geschichte und Politik, zeitkritische Sottisen, interessante etymologische Betrachtungen und bemerkenswerte Lesefrüchte – der erste Fallobst-»Korb« beginnt gleich mit Denis Diderot. Eine anregende Lektüre, für die es keinen runden Geburtstag braucht! Oder, um es mit einer Lebensweisheit aus Fallobst zu sagen: »Man tut gut daran, alles abzusagen, was angesagt ist.« Auch das ist: Literatur in Bayern.
Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 368 S.
Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950-2020 (st 5013). Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 243 S.
Externe Links:Kurze Notiz zu Hans Magnus Enzensberger>
Die 139. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema In Worten wohnen. Klaus Hübner rezensiert darin das neue Buch von Hans Magnus Enzensberger.
*
Der 11. November 2019, Martinstag und Faschingsanfang, war ein besonderer Tag für die deutsche Literatur. Kein Fernsehzuschauer, kein Radiohörer und kein Zeitungsleser konnte es übersehen: Hans Magnus Enzensberger wurde 90! Runder Geburtstag eines Weltstars der Literatur! Der Medienrummel war gewaltig. Kein Porträt, das seinen Kosmopolitismus, seine Vielsprachigkeit, sein Heimisch-sein in den Literaturen dieser Welt nicht erwähnte – seine einen radikal neuen Ton in die deutsche Lyrik bringenden Gedichte sowieso, das Kursbuch ebenfalls. In Italien hat er gelebt, in Norwegen, Frankreich, den USA und Kuba, und viele, sehr viele andere Länder hat er ausführlich bereist. In den meisten Geburtstagsgrüßen kam auch Bayern vor. Aber eher unter »ferner liefen«.
In sein jüngstes Buch mit dem schönen Titel Fallobst hat HME einen Text vom Juni 1951 aufgenommen: Curriculum vitae. Mit diesem Lebenslauf stellte sich der junge Mann der »Studienstiftung des deutschen Volkes« vor. Er beginnt so: »Ich bin am 11. November 1929 zu Kaufbeuren im bayerischen Allgäu geboren und wenige Tage später daselbst katholisch getauft. Nach einigen Jahren wurde mein Vater [...] als höherer Postbeamter nach Nürnberg versetzt. An die Stelle jenes großen, summenden Gartens, der in Kaufbeuren mein Teil war und in den mein frühestes Erinnern zurückreicht, trat die alte, unversehrte Stadt mit ihren Gräben, Mauern und Türmen.« Unversehrt blieb Nürnberg bekanntlich nicht mehr lange – die Sirenen des Luftkriegs wurden ein Grundgeräusch des Alltags. 1943 konnte die Familie Enzensberger entkommen. Wassertrüdingen am Hesselberg wurde ihr neuer Wohnort, für immerhin sechs nicht gerade einfache Jahre. Hans Magnus fuhr, solange das noch ging, mit dem Zug in die Schule, nach Gunzenhausen zuerst und nach dem Krieg nach Nördlingen. 1949 ging's zurück nach Nürnberg. Wichtig für seine Entwicklung wird nun auch die Universität in Erlangen. Das früheste Poem, das er in den zum 90. Geburtstag noch einmal erweiterten Auswahlband Gedichte aufgenommen hat, datiert von 1950. Wenige Jahre später wurde er berühmt. An Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer werden sich viele Zeitgenossen noch vom Deutschunterricht am Gymnasium her erinnern.
Ein Dichter aus Bayern also. Seit Jahrzehnten lebt er in München, in Alt-Schwabing, und dass er sich in der Landeshauptstadt bestens auskennt und sich, selten aber doch, in aktuelle Debatten wie die um die Untertunnelung des geliebten Englischen Gartens einmischt, kann man aus Fallobst erfahren. In diesem Buch sind nicht nur ältere Texte wie Curriculum vitae enthalten, sondern auch zahlreiche neue: skeptische Beobachtungen zur Geschichte und Politik, zeitkritische Sottisen, interessante etymologische Betrachtungen und bemerkenswerte Lesefrüchte – der erste Fallobst-»Korb« beginnt gleich mit Denis Diderot. Eine anregende Lektüre, für die es keinen runden Geburtstag braucht! Oder, um es mit einer Lebensweisheit aus Fallobst zu sagen: »Man tut gut daran, alles abzusagen, was angesagt ist.« Auch das ist: Literatur in Bayern.
Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 368 S.
Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950-2020 (st 5013). Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 243 S.