Ein möglichst intensives Leben: die Tagebücher von Lion Feuchtwanger
Die 138. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmete sich dem Schwerpunktthema Ankommen. Hannes S. Macher schreibt darin über die Tagebücher von Lion Feuchtwanger.
*
Kein Untertitel eines Buches passt besser als dieser, denn Ein möglichst intensives Leben war Feuchtwangers tägliches Programm. Und das nicht erst seit seinem Schlüsselroman Erfolg (1930), sondern bereits von Jugend an, wie diese Edition seiner Tagebücher bestens belegt. Eine Fundgrube allerersten Ranges sind diese Aufzeichnungen nicht nur für die Biografie dieses »Historikers gerade für moderne Stücke« (Heinrich Mann), sondern auch für das von ihm ebenso knapp wie prägnant beschriebene literarische, politische und gesellschaftliche Geschehen zwischen 1906 und 1940.
Mögen Tagebücher ja Reflexionen über das eigene Ich sein, manchmal nur ein buchhalterisch geführtes Faktenarchiv zur späteren Erinnerung oder bisweilen auch Niederschriften über zerronnenen Hoffnungen und unerfüllte Wünsche, so bezeichnete Feuchtwanger, der Sohn des Münchner Margarinefabrikanten Simon Feuchtwanger und Spross einer angesehenen Gelehrten- und Bankdynastie zur Prinzregentenzeit, seine Tagebuchnotizen als »Heeresberichte«. Höchst aufschlussreiche Zustandsbeschreibungen über seinen Gemütszustand in den Anfangsjahren seiner literarischen Tätigkeit, über die Erlebnisse des Tages und, trotz mancher Rückschläge und häufiger finanzieller Probleme und Spielschulden, über sein unermüdliches Streben, ein anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Dazu in den ersten Jahren seiner Tagebuchaufzeichnungen hochinteressante Notizen über das literarische und kulturelle Geschehen in München und - worauf er zweifellos großen Wert gelegt hat - über seine erotischen Avancen und sexuellen Aktivitäten.
Penibel hat Feuchtwanger (1884-1958) bis zum Jahre 1940 fast täglich in Gabelsberger Kurzschrift notiert, was er erlebte und was ihn umtrieb. Wahrscheinlich hat er seine Aufzeichnungen bis zum Lebensende weitergeführt, glauben zumindest die Herausgeber. Denn seine letzte Sekretärin Hilde Waldo wünschte wohl nicht, dass Feuchtwangers intimes Verhältnis mit ihr publik werde. Weshalb die übrigen Anmerkungen zu seinem Privatleben in der Villa Aurora im kalifornischen »Weimar am Pazifik« und zu den politischen Ereignissen nach 1940 vermutlich nicht mehr vorhanden sind. Die Tagebuchaufzeichnungen aus den frühen Münchner Jahren sind freilich interessant genug und für den Werdegang eines der weltweit erfolgreichsten deutschen Schriftsteller höchst aufschlussreich.
21 Jahre war er alt, als er am Neujahrstag 1906 als Student in Berlin seine Erlebnisse in der Silvesternacht zum ersten Mal festhielt: Obwohl »an begehrenswerten Frauen kein Mangel war«, fühlte er sich von dem »für Berlin typischen Sylvestertrubel angewidert« und ist »mit einem Dirnlein (nach Hause) gegangen, das ich von früher her kannte«.
Abschied von Berlin am 21. Februar 1906, »kühler, reifer, erfahrener und selbstkritischer als ich gekommen bin« und (erwartungsvoll mit drei Ausrufezeichen): »Morgen um 7h 20 fahr' ich in den Münchener Fasching hinein!!!« Rückkehr ins Elternhaus am St.-Anna-Platz mit den wenig schmeichelhaften Feststellungen: »Mama ist von unangenehmster Gehässigkeit« (25. November 1906) und »Auffällig ist die unvornehme Art (des Vaters), mit der er die eigene Freigebigkeit immerwährend rühmt« (11. Dezember 1906).
Mit seinen ersten literarischen Arbeiten aus dem Jahr 1906 Weib des Urias, Braut von Korinth (»Sie ist nichts Großes, soll ja auch nichts Großes sein«), Ich, der Seminararbeit als Studie über Penthesilea, Der Fetisch, Jael und der Promotion zum Dr. phil. mit einer Untersuchung zu Heinrich Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach ist er ebenso voll beschäftigt wie mit dem unermüdlichen »Cherchez la femme«: »Abends ein kleines, kerniges liebes junges Nähmädel getroffen. [...] Eine vergnügte Nacht mit ihr verbracht.« Am 21. Oktober: »Mit Marie [...] in Groß-Hesselohe. Sie hat das Küssen gelernt.« Und am 25. Oktober: » Mit Emy eine stürmische Liebesnacht durchlebt, die hoffentlich keine Folgen hat. « Die zahlreichen Besuche bei Prostituierten nicht zu vergessen: »Mit einer sehr willfährigen Dirne gegangen. Kreuz str.6/Ilr.« (22. April). Und schließlich kaum ein Tag ohne »Exceß in Priapo«. Doch auch (am 11. August 1910): »Ebenso hab' ich mir aufs festeste vorgenommen 1) alle Masturbation aufs peinlichste zu meiden und 2) kein Geld mehr auszugeben außer für Marie und Marta L«, mit dem Zusatz: »Abends war Marie da und sie war sehr lieb und herzlich.«
Vor allem jedoch vermitteln Feuchtwangers Notizen einen lebendigen Einblick in das literarische Leben Münchens vor dem Ersten Weltkrieg, wenngleich so manche Urteile über seine Kollegen keinen Bestand haben. Etwa seine Einschätzungen der zahlreichen in den Kammerspielen uraufgeführten Stücke von Henrik Ibsen: »Seine ‚Dichtungen‘ [...] haben keine Stimmung, sie sind wie Blumen, die nicht duften. « (25. Juni 1906) Oder (am 18. Juli): »Wedekinds Erdgeist im Schauspielhaus gesehen. Ein scheußliches Stück. Es hat nichts als die Gestalt der Lulu und des Dr. Schön, gesehen durch die Brille eines misogynen Fanatikers. Es arbeitet mit den rohesten Mitteln, ohne jede Kunst.«
Zielstrebig verkehrt Feuchtwanger nach seiner Ankunft in München in den literarischen Zirkeln der Stadt, knüpft Kontakte zu Kollegen und Verlagen und verschlingt als Student der Germanistik, Geschichte und Philosophie die Dramen, Romane, Novellen, Erzählungen und Gedichte der Schriftstellerkollegen vom Mittelalter bis zu den zeitgenössischen Autoren wie Arno Holz, Max Halbe, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und anderen mehr, wobei er stets kurze und prägnante Kommentare über das Gelesene abgibt: Über Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag beispielsweise: »Wie liebenswürdig ist dieses Stimmungsbild « (8. Januar 1906) oder über Fontanes Irrungen, Wirrungen: »schlicht und klar und fast zu vernünftig. Selbstzufrieden und doch ohne Prätention« (1. August). Und als Theaterkritiker für die von ihm ins Leben gerufene - und nach 15 Heften aus finanziellen Gründen wieder eingestellte - Münchener Halbmonatsschrift für Literatur, Musik und Bühne bespricht er nicht nur die heimischen Schauspielpremieren, sondern reist auch nach Berlin und Wien, um über die wichtigsten Theateraufführungen meinungsstark zu berichten: eine einzigartige Dokumentation des Theaterlebens der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.
Finanzielle Probleme und Spielschulden plagen ihn in den folgenden Jahren, in denen er als Bohemien sich anschickt, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Auf einem Faschingsball lernt er 1909 die 19-jährige Marta Löffler, Tochter eines bayerisch-jüdischen Kaufmannsehepaars, kennen, die am 19. Januar 1910 in seinem Tagebuch wieder auftaucht: »Mich gut amüsiert. Mit [...] einem Fräulein Marta Löffler, einer nicht eben gescheiten, aber recht temperamentvollen jungen Jüdin. Sie hernach ins Cafe geschleppt und schließlich richtig abgeküsst.« 1912 Hochzeit mit Marta, die trotz Lions Affären mit anderen Frauen - und selbst als sie Mitte der 30er-Jahre seine Tagebücher fand - fast ein halbes Jahrhundert an seiner Seite blieb, obwohl er sie (wie er beispielsweise am 6. November 1916 notierte) »schlecht behandelte« und mit ihr des Öfteren »strindbergelte«.
Im Ersten Weltkrieg als untauglich eingestuft, schreibt er neben Jud Süß einige Theaterstücke gegen den Krieg, die ihn finanziell über Wasser halten. Doch erstaunlich, dass Feuchtwanger in seinen Notizen die Ereignisse der Revolution 1918/19 kaum erwähnt, sondern sie nur »etwas besichtigt« hat (7. November 1918), obwohl er den Roman Thomas Wendt verfasste, in dem er (autobiografisch?) die Entwicklung eines Schriftstellers zum Deserteur nachvollzieht.
Vor allem jedoch pflegt Feuchtwanger in diesen Jahren intensiv den Umgang mit Heinrich Mann, Alfred Döblin und fördert den jungen, noch unbekannten Eugen Berthold Friedrich Brecht, der in München studiert und als Dramaturg an den Kammerspielen tätig ist: » Ein junger Mensch bringt mir ein ausgezeichnetes Stück« (2. April 1919). » Ein anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: Baal« (4. April). Die lebenslange Freundschaft zwischen Feuchtwanger und Brecht beginnt und ihre Zusammenarbeit nimmt ihren Lauf.
Bis zur endgültigen Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1925, um dem sich verstärkenden Antisemitismus in München zu entfliehen, handeln die Einträge in den Kladden hauptsächlich von seinen Erfolgen und auch manchen Flops als Theater- und Romanautor, von inkompetenten Regisseuren und noch inkompetenteren Theaterkritikern. Und zunehmend stilisiert er sich als Starautor der Weimarer Zeit ebenso wie als wachen Beobachter und prägnanten Schilderer der politischen Ereignisse.
Schließlich ist er auch Chronist seiner und Martas Emigration nach Sanary-sur-Mer, der Ausbürgerung und der Beschlagnahmung von Haus und Vermögen, der Internierung als »feindlicher Ausländer« im Lager Les Milles und der Hoffnung, bald eine Ausreisegenehmigung in die USA zu erhalten. Sein letzter Eintrag am 20. Mai 1940: »In aller Frühe bei herrlichem Wetter die Nachricht erhalten, dass ich wieder nach Les Milles muß. Vorbereitungen.« Vorbereitungen für die abenteuerliche Flucht über Spanien und Portugal nach New York, um 1943 in die Villa Aurora in Pacific Palisades einzuziehen.
Eine bewegende Chronik eines wahrlich »intensiven Lebens«, von den Herausgebern ergänzt mit einem über 150-seitigen (!), staunenswert fundierten Anmerkungsapparat samt Literatur-, Personen- und Werkverzeichnis. Ein einzigartiger Lesegenuss von und über den »interessanten, kenntnisreichen, sorgfältig komponierenden Romancier« (Hans Mayer) und eine aufschlussreiche Chronik über Feuchtwangers Leben, sein Werk und seine Zeit.
Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher, hrsg. von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 640 S., 26 Euro. Hörfassung: Der Audio Verlag, 2018, 5 CDs, Laufzeit 395 Min., 19,45 Euro.
Und als Ergänzung die sehr empfehlenswerte Biografie von: Andreas Heusler: Lion Feuchtwanger. Münchner - Emigrant - Weltbürger. Residenz Verlag, St. Pölten 2014, 364 S., 24,90 Euro.
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Die 138. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmete sich dem Schwerpunktthema Ankommen. Hannes S. Macher schreibt darin über die Tagebücher von Lion Feuchtwanger.
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Kein Untertitel eines Buches passt besser als dieser, denn Ein möglichst intensives Leben war Feuchtwangers tägliches Programm. Und das nicht erst seit seinem Schlüsselroman Erfolg (1930), sondern bereits von Jugend an, wie diese Edition seiner Tagebücher bestens belegt. Eine Fundgrube allerersten Ranges sind diese Aufzeichnungen nicht nur für die Biografie dieses »Historikers gerade für moderne Stücke« (Heinrich Mann), sondern auch für das von ihm ebenso knapp wie prägnant beschriebene literarische, politische und gesellschaftliche Geschehen zwischen 1906 und 1940.
Mögen Tagebücher ja Reflexionen über das eigene Ich sein, manchmal nur ein buchhalterisch geführtes Faktenarchiv zur späteren Erinnerung oder bisweilen auch Niederschriften über zerronnenen Hoffnungen und unerfüllte Wünsche, so bezeichnete Feuchtwanger, der Sohn des Münchner Margarinefabrikanten Simon Feuchtwanger und Spross einer angesehenen Gelehrten- und Bankdynastie zur Prinzregentenzeit, seine Tagebuchnotizen als »Heeresberichte«. Höchst aufschlussreiche Zustandsbeschreibungen über seinen Gemütszustand in den Anfangsjahren seiner literarischen Tätigkeit, über die Erlebnisse des Tages und, trotz mancher Rückschläge und häufiger finanzieller Probleme und Spielschulden, über sein unermüdliches Streben, ein anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Dazu in den ersten Jahren seiner Tagebuchaufzeichnungen hochinteressante Notizen über das literarische und kulturelle Geschehen in München und - worauf er zweifellos großen Wert gelegt hat - über seine erotischen Avancen und sexuellen Aktivitäten.
Penibel hat Feuchtwanger (1884-1958) bis zum Jahre 1940 fast täglich in Gabelsberger Kurzschrift notiert, was er erlebte und was ihn umtrieb. Wahrscheinlich hat er seine Aufzeichnungen bis zum Lebensende weitergeführt, glauben zumindest die Herausgeber. Denn seine letzte Sekretärin Hilde Waldo wünschte wohl nicht, dass Feuchtwangers intimes Verhältnis mit ihr publik werde. Weshalb die übrigen Anmerkungen zu seinem Privatleben in der Villa Aurora im kalifornischen »Weimar am Pazifik« und zu den politischen Ereignissen nach 1940 vermutlich nicht mehr vorhanden sind. Die Tagebuchaufzeichnungen aus den frühen Münchner Jahren sind freilich interessant genug und für den Werdegang eines der weltweit erfolgreichsten deutschen Schriftsteller höchst aufschlussreich.
21 Jahre war er alt, als er am Neujahrstag 1906 als Student in Berlin seine Erlebnisse in der Silvesternacht zum ersten Mal festhielt: Obwohl »an begehrenswerten Frauen kein Mangel war«, fühlte er sich von dem »für Berlin typischen Sylvestertrubel angewidert« und ist »mit einem Dirnlein (nach Hause) gegangen, das ich von früher her kannte«.
Abschied von Berlin am 21. Februar 1906, »kühler, reifer, erfahrener und selbstkritischer als ich gekommen bin« und (erwartungsvoll mit drei Ausrufezeichen): »Morgen um 7h 20 fahr' ich in den Münchener Fasching hinein!!!« Rückkehr ins Elternhaus am St.-Anna-Platz mit den wenig schmeichelhaften Feststellungen: »Mama ist von unangenehmster Gehässigkeit« (25. November 1906) und »Auffällig ist die unvornehme Art (des Vaters), mit der er die eigene Freigebigkeit immerwährend rühmt« (11. Dezember 1906).
Mit seinen ersten literarischen Arbeiten aus dem Jahr 1906 Weib des Urias, Braut von Korinth (»Sie ist nichts Großes, soll ja auch nichts Großes sein«), Ich, der Seminararbeit als Studie über Penthesilea, Der Fetisch, Jael und der Promotion zum Dr. phil. mit einer Untersuchung zu Heinrich Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach ist er ebenso voll beschäftigt wie mit dem unermüdlichen »Cherchez la femme«: »Abends ein kleines, kerniges liebes junges Nähmädel getroffen. [...] Eine vergnügte Nacht mit ihr verbracht.« Am 21. Oktober: »Mit Marie [...] in Groß-Hesselohe. Sie hat das Küssen gelernt.« Und am 25. Oktober: » Mit Emy eine stürmische Liebesnacht durchlebt, die hoffentlich keine Folgen hat. « Die zahlreichen Besuche bei Prostituierten nicht zu vergessen: »Mit einer sehr willfährigen Dirne gegangen. Kreuz str.6/Ilr.« (22. April). Und schließlich kaum ein Tag ohne »Exceß in Priapo«. Doch auch (am 11. August 1910): »Ebenso hab' ich mir aufs festeste vorgenommen 1) alle Masturbation aufs peinlichste zu meiden und 2) kein Geld mehr auszugeben außer für Marie und Marta L«, mit dem Zusatz: »Abends war Marie da und sie war sehr lieb und herzlich.«
Vor allem jedoch vermitteln Feuchtwangers Notizen einen lebendigen Einblick in das literarische Leben Münchens vor dem Ersten Weltkrieg, wenngleich so manche Urteile über seine Kollegen keinen Bestand haben. Etwa seine Einschätzungen der zahlreichen in den Kammerspielen uraufgeführten Stücke von Henrik Ibsen: »Seine ‚Dichtungen‘ [...] haben keine Stimmung, sie sind wie Blumen, die nicht duften. « (25. Juni 1906) Oder (am 18. Juli): »Wedekinds Erdgeist im Schauspielhaus gesehen. Ein scheußliches Stück. Es hat nichts als die Gestalt der Lulu und des Dr. Schön, gesehen durch die Brille eines misogynen Fanatikers. Es arbeitet mit den rohesten Mitteln, ohne jede Kunst.«
Zielstrebig verkehrt Feuchtwanger nach seiner Ankunft in München in den literarischen Zirkeln der Stadt, knüpft Kontakte zu Kollegen und Verlagen und verschlingt als Student der Germanistik, Geschichte und Philosophie die Dramen, Romane, Novellen, Erzählungen und Gedichte der Schriftstellerkollegen vom Mittelalter bis zu den zeitgenössischen Autoren wie Arno Holz, Max Halbe, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und anderen mehr, wobei er stets kurze und prägnante Kommentare über das Gelesene abgibt: Über Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag beispielsweise: »Wie liebenswürdig ist dieses Stimmungsbild « (8. Januar 1906) oder über Fontanes Irrungen, Wirrungen: »schlicht und klar und fast zu vernünftig. Selbstzufrieden und doch ohne Prätention« (1. August). Und als Theaterkritiker für die von ihm ins Leben gerufene - und nach 15 Heften aus finanziellen Gründen wieder eingestellte - Münchener Halbmonatsschrift für Literatur, Musik und Bühne bespricht er nicht nur die heimischen Schauspielpremieren, sondern reist auch nach Berlin und Wien, um über die wichtigsten Theateraufführungen meinungsstark zu berichten: eine einzigartige Dokumentation des Theaterlebens der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.
Finanzielle Probleme und Spielschulden plagen ihn in den folgenden Jahren, in denen er als Bohemien sich anschickt, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Auf einem Faschingsball lernt er 1909 die 19-jährige Marta Löffler, Tochter eines bayerisch-jüdischen Kaufmannsehepaars, kennen, die am 19. Januar 1910 in seinem Tagebuch wieder auftaucht: »Mich gut amüsiert. Mit [...] einem Fräulein Marta Löffler, einer nicht eben gescheiten, aber recht temperamentvollen jungen Jüdin. Sie hernach ins Cafe geschleppt und schließlich richtig abgeküsst.« 1912 Hochzeit mit Marta, die trotz Lions Affären mit anderen Frauen - und selbst als sie Mitte der 30er-Jahre seine Tagebücher fand - fast ein halbes Jahrhundert an seiner Seite blieb, obwohl er sie (wie er beispielsweise am 6. November 1916 notierte) »schlecht behandelte« und mit ihr des Öfteren »strindbergelte«.
Im Ersten Weltkrieg als untauglich eingestuft, schreibt er neben Jud Süß einige Theaterstücke gegen den Krieg, die ihn finanziell über Wasser halten. Doch erstaunlich, dass Feuchtwanger in seinen Notizen die Ereignisse der Revolution 1918/19 kaum erwähnt, sondern sie nur »etwas besichtigt« hat (7. November 1918), obwohl er den Roman Thomas Wendt verfasste, in dem er (autobiografisch?) die Entwicklung eines Schriftstellers zum Deserteur nachvollzieht.
Vor allem jedoch pflegt Feuchtwanger in diesen Jahren intensiv den Umgang mit Heinrich Mann, Alfred Döblin und fördert den jungen, noch unbekannten Eugen Berthold Friedrich Brecht, der in München studiert und als Dramaturg an den Kammerspielen tätig ist: » Ein junger Mensch bringt mir ein ausgezeichnetes Stück« (2. April 1919). » Ein anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: Baal« (4. April). Die lebenslange Freundschaft zwischen Feuchtwanger und Brecht beginnt und ihre Zusammenarbeit nimmt ihren Lauf.
Bis zur endgültigen Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1925, um dem sich verstärkenden Antisemitismus in München zu entfliehen, handeln die Einträge in den Kladden hauptsächlich von seinen Erfolgen und auch manchen Flops als Theater- und Romanautor, von inkompetenten Regisseuren und noch inkompetenteren Theaterkritikern. Und zunehmend stilisiert er sich als Starautor der Weimarer Zeit ebenso wie als wachen Beobachter und prägnanten Schilderer der politischen Ereignisse.
Schließlich ist er auch Chronist seiner und Martas Emigration nach Sanary-sur-Mer, der Ausbürgerung und der Beschlagnahmung von Haus und Vermögen, der Internierung als »feindlicher Ausländer« im Lager Les Milles und der Hoffnung, bald eine Ausreisegenehmigung in die USA zu erhalten. Sein letzter Eintrag am 20. Mai 1940: »In aller Frühe bei herrlichem Wetter die Nachricht erhalten, dass ich wieder nach Les Milles muß. Vorbereitungen.« Vorbereitungen für die abenteuerliche Flucht über Spanien und Portugal nach New York, um 1943 in die Villa Aurora in Pacific Palisades einzuziehen.
Eine bewegende Chronik eines wahrlich »intensiven Lebens«, von den Herausgebern ergänzt mit einem über 150-seitigen (!), staunenswert fundierten Anmerkungsapparat samt Literatur-, Personen- und Werkverzeichnis. Ein einzigartiger Lesegenuss von und über den »interessanten, kenntnisreichen, sorgfältig komponierenden Romancier« (Hans Mayer) und eine aufschlussreiche Chronik über Feuchtwangers Leben, sein Werk und seine Zeit.
Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher, hrsg. von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 640 S., 26 Euro. Hörfassung: Der Audio Verlag, 2018, 5 CDs, Laufzeit 395 Min., 19,45 Euro.
Und als Ergänzung die sehr empfehlenswerte Biografie von: Andreas Heusler: Lion Feuchtwanger. Münchner - Emigrant - Weltbürger. Residenz Verlag, St. Pölten 2014, 364 S., 24,90 Euro.