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22.12.2019, 11:40 Uhr
Nastasja S. Dresler
Text & Debatte
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Gedenktafel Schalom Ben-Chorin am Geburtshaus

Schalom Ben-Chorin zum 20. Todesjahr (I)

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Glockenspiel am Neuen Rathaus in München, 2019

Vor 20 Jahren starb der 1913 in München als Fritz Rosenthal geborene jüdische Intellektuelle Schalom Ben-Chorin in Jerusalem. In seiner Autobiografie Jugend an der Isar (1974) gewährt der Autor nicht nur Einblicke in persönliche Erlebnisse, sondern hinterlässt uns ein Zeugnis bayerisch-jüdischer Geschichte. Kindheit und Jugend von Fritz Rosenthal führen entlang der blühenden Isarauen und werden verdüstert durch den Aufzug der Nationalsozialisten in der „Stadt der Bewegung“. Bis zu seinem Tode in Israel bewahrt er sich jedoch sein inneres „Zweistromland“, bleibt sein Herz zwischen Jordan und Isar angesiedelt. Ben-Chorin erinnert sich daran, wie seine jüdische Familie das christliche Weihnachtsfest in ihr Brauchtum integrierte, er sich während seiner Jugendzeit in die Geisteswelt Schwabings begab, und wie die Schikanen der neuen Machthaber ihn dazu bewogen, seine Münchner Heimat – rechtzeitig – zu verlassen. Anlässlich des 20. Todesjahres von Schalom Ben-Chorin wandelt dieser zweiteilige Blog auf den Pfaden einer jüdischen Jugend an der Isar. Den ersten Teil bringen wir heute, den zweiten am zweiten Weihnachtstag.

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Prolog: Glockenspiel

Nicht vom Glockenspiel am Münchner Rathaus ist hier die Rede, obwohl es das Entzücken meiner Kindheit war. Wenn täglich um 11 Uhr am Marienplatz sich das Turnier der Landshuter Fürstenhochzeit im Puppenspiel wiederholt, wenn in anderer Etage sich der Schäfflertanz immer neu ereignet, versammeln sich Reisende aus Europa und Amerika um dieses mechanische Wunderwerk zu bestaunen, aber auch der Münchner selbst hält wohl den Schritt an, um diese harmlose Schaustellung unter Glockenmusik immer wieder zu genießen. (Schalom Ben-Chorin: Jugend and der Isar. List, München 1993, S. 9.)

Die Schilderung dieser Münchner Sehenswürdigkeit aus den 1920er-Jahren liest sich wie ein Stück Stadtgeschichte der Gegenwart. Wir alle wissen, wovon Ben-Chorin spricht, wenn auf dem Marienplatz zur vollen Stunde alle Blicke nach oben gehen und die stumme Menge zu Fuße des Rathauses das kleine Schauspiel verfolgt. Das Arrangement ist ein Relikt aus der Vergangenheit und bewahrt sich dennoch als fester Bestandteil des Stadtbildes seine Zeitlosigkeit. Dabei hält die Darbietung für den jungen Ben-Chorin, Fritz Rosenthal, auch ein furchteinflößendes Moment bereit.

Das Glockenspiel vom Rathaus läutete durch meine Kinderträume, wobei sich die Freude über die bunten Figuren und die klingenden Glocken mit einer seltsamen Angst vermählte. Ich selbst stand inmitten der Szenerie, mußte vor den anreitenden Rittern oder den tanzenden Schäfflern, den Fanfarenbläsern und Narren fliehen und in kühnem Sprung vom Rathausturm in die Tiefe fallen. [...] [Dieses Kindheitstrauma] hängt innig zusammen mit einem Horrortraum, der auf das in München so beliebte Handspielpuppentheater mit dem Kasperl zurückgeht, das ich auf der Auer Dult und bei Darbietungen eines Giesinger Gesellenvereins gesehen hatte. Der Münchner Humor macht nicht einmal vor dem Tode halt, der als Totenschädel im langen Sterbehemd erschien. Dieser makabre Scherz verdüsterte das kindliche Gemüt. Bis heute ist mir eine gewisse Scheu vor Handspielpuppen geblieben, vielleicht weil ich sie – natürlich im Unterbewußtsein – frühzeitig als Symbol des manipulierten Menschen erkannte. (Ebd., S. 9f.)

Ben-Chorin beschreibt, wie sich diese kindliche Furcht vor den Figuren auch noch im Erwachsenenalter anbahnt. Beim Passieren von hohen Gebäuden mit Karyatiden und anderen Fassadenbewohnern beschleicht ihn Zeit seines Lebens ein Unbehagen. Getreu dem jüdischen (und islamischen) Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ verzichtet man in Jerusalem, der zweiten Heimat des Autors, auf derartigen Dekor von Kirchenhäusern und anderen Gebäuden, weshalb er später nur noch selten an diese frühkindliche Angst erinnert. Das Glockenläuten seiner Geburtsstadt München klingt hingegen ungebrochen in ihm nach.

[I]ch will nicht vom berühmten Glockenspiel auf dem Rathausturm erzählen, sondern von einem anderen Glockenspiel, das unter diesem Namen nicht bekannt, aber in meinem inneren Ohr gegenwärtig ist. Das Glockenspiel, dem ich gegen Mittag in der paradiesischen Umwelt des Englischen Gartens auf dem Monopteros lauschte. In diesem kleinen neugriechischen Tempel saß ich oft lesend. Wenn ich aber den Blick von den Seiten hob, fiel er auf die Türme der Stadt, die ihre Wahrzeichen bilden, und wenn dann die Glocken zu schlagen begannen, konnte ich sie wohl unterscheiden – das Dröhnen vom Dom der Frauenkirche, der Ruf von St. Peter und von Heilig Geist und vordergründig der Klang der barocken Theatinerkirche. Nur wer das Lied, die Symphonie der heimatlichen Glocken so kennt (oder kannte), scheint mir ganz zugehörig zu sein, so sehr es ihm bestritten sein mochte. (Ebd., S. 10.)

Aus seiner Geburtsstadt haben sie, die Nationalsozialisten, ihn vertrieben. Aber den eigentümlichen Klang hat Ben-Chorin in seinem Gedächtnis bewahren können, seiner Erinnerungen haben sie ihn nicht berauben können. In seinem tiefen Inneren hat der Autor seine erste Heimat in die zweite hinüberretten können. So auch die Erinnerung daran, wie er auf seinem täglichen Weg vom Elternhaus in der Oettingenstraße zur Universität bei dem kleinen Tempel auf der Anhöhe des Englischen Gartens vorbeikommt und sich dort regelmäßig einfindet, wo er „tags die Wonnen der Einsamkeit, nachts wohl auch manchmal die der Zweisamkeit kosten durfte.“ (Ebd., S. 10f.) Er liest an Ort und Stelle Thomas Mann und verfasst selbst Verse und Prosa. Die Stufen des Monopteros bieten ihm eine entspanntere Atmosphäre als der häusliche Schreibtisch. Es sind ausgewählte Orte wie dieser, in denen sich für Ben-Chorin Heimat konstituiert.

Was ist Heimat? Ich glaube, nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus Land und Stadt der Herkunft. Für den Reisenden, für den Fremden mag sich eine Stadt wie München als eine Einheit präsentieren. Die großen Sehenswürdigkeiten und die Kunstdenkmäler, die prächtigen Bauten und die imponierenden Straßenzüge fügen sich ihm zum unvergeßlichen Bilde. Nicht so dem, der hier geboren wurde. Er sieht das Große im Kleinen – aus der Perspektive des Kindes, das an der Hand der Mutter geht, aus der Perspektive des jungen Mannes, der schüchtern den Arm um die Hüfte des Mädchens legt [...]. Das alles wird auf ganz wenige Plätze und Gegenden einer großen Stadt reduziert. Weite Viertel der Großstadt blieben mir fremd, so daß es nach Jahrzehnten eigentlich nur ein Wiedersehen mit den vertrautesten Gegenden der Stadt gab. Zu ihnen gehörte der Englische Garten und sein Herzstück – der Monopteros. Immer wieder leuchtete er mir im Traume als ein Tempel der Sehnsucht auf. (Ebd., S. 11.)

Monopteros im Englischen Garten, Sommer 2013. Foto: Frank Piontek

Dem Brauch, den eigenen Namen auf die Säulen zu kritzeln, wie es viele Besucher tun, schließt sich der Autor nicht an. Im Unsichtbaren verbirgt sich jedoch auch ein Teil seiner Jugend hier. Der Monopteros hat seine eigene Magie. Während die Türme der Stadt und ihre anderen formgebenden Bauwerke in der Dunkelheit der Nacht ihre Konturen einbüßen und das Stadtbild verschattet wird, ragt der Monopteros aus der finsteren Nacht hervor:

Unter den Bauten, die sich in der Nacht verflüchtigen, sind vor allem auch die mittelalterlichen Tore der Stadt zu nennen, das Isartor, das Sendlinger Tor, das Karlstor, und wie sie alle heißen mögen, auch die gewaltigen Kirchen – aber nie der Monopteros. Dieser besonders zarte Bau, wie mit Pastellfarben in die künstliche Landschaft hineingezeichnet, trotzte der Dunkelheit... Stärke, Dauerkraft des Schwachen, Fragilen [...] so möchte ich den Monopteros gleichsam zum Stadtquartier wählen und von ihm aus den Rückblick wagen, ihn zu meinem „Lug ins Land“ machen. Was ist es für ein Land, das der Blick vom Monopteros umfängt? Ein geliebtes und ein erlittenes Land, ein Land fragloser Vorgegebenheit, in welcher nicht nur die Kastanienbäume und die Pfingstrosen blühten, sondern auch [...] die Fragen wuchsen und wucherten, die die Fraglosigkeit wie mit Moos überzogen. (Ebd., S. 12.)

In sieben Kapiteln, auf sieben Stationen, will Ben-Chorin aus dem Schatz seiner Erinnerungen die Erlebnisse in seiner Heimatstadt bergen und die Schauplätze dieser begehen. Wie so vieles in den Sog des Vergessens gerät, ist die Reise in die Vergangenheit notwendigerweise ein Zerrbild, in dem sich bedeutende – und sehr individuelle – Fragmente eines verschütteten Ganzen erhalten.

Was wir bewahren, ist nicht immer das Wesentliche, aber es ist für uns das Wesentliche – und nur davon können wir Zeugnis ablegen. [...] So unrepräsentativ jugendliche Existenz war, so gibt ihr doch die Patina der Jahrzehnte eine nicht geahnte und nicht erstrebte Repräsentanz. Man wird Exponent einer Vergangenheit, die in die Gegenwart ragt. Aus Bibliotheken und Archiven, aus Tagebüchern und Korrespondenzen berühmter und weniger berühmter Zeitgenossen, kann der Historiker versuchen, das Bild einer Epoche zu formen. Nicht so der sich Erinnernde. Er lauscht dem Glockenspiel der abgelebten Zeiten, bringt es noch einmal zum Tönen und läßt die Vergangenheit als seine bewahrte Gegenwart für Minuten aufklingen. Das Glockenspiel, dem ich vom Monopteros lauschte, klingt mir weiter nach. Es war die Symphonie meiner Kindheit und Jugend. (Ebd., S. 13.)

In seiner Urheimat erklingen für Ben-Chorin andere Klänge: In Jerusalem vernimmt er den Ruf des Muezzin, der von Turm des Minaretts schallt und sich mit dem tiefen Schmettern des Widderhorns an der Klagemauer verwebt. Diese sind die „Urtöne Jerusalems“, und die Töne im Land der Zionisten stehen zu den Tönen in der bayerischen Heimat in keinem Widerspruch:

[D]as alles klingt zusammen in der Symphonie meines Lebens, Symphonie mit Glockentönen, vox humana und Hornpartien. Da ich leider keine Noten schreiben kann, mußte ich die Symphonie in Worte umsetzen. Hier ist sie – eine Abschiedssymphonie. (Ebd., S. 14.)

Mit diesen Worten beendet Schalom Ben-Chorin (gezeichnet S. B. C. in Jerusalem, im Februar 1974) seinen Prolog. Die erste Station seiner Rückblende wird beim Weihnachtsfest im Jahr 1928 ansetzen.