Info

Fotografien aus der Sammlung Karl Valentin im Stadtarchiv München

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern, die im Allitera Verlag erscheint. Seit über 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen des Freistaats. Herausgeber Gerd Holzheimer schreibt im folgenden Beitrag über ein echtes Original, zu besichtigen im Stadtarchiv München: Karl Valentin.

*

Wer meint, er hätte schon alles von Karl Valentin gehört, gelesen und gesehen, könnte eine dicke Überraschung erleben. Der Allitera Verlag hat nach beharrlicher Suche eine Schatztruhe aufgestöbert, die im Münchner Stadtarchiv gelagert war: eine Sammlung von Diapositiven, mit denen Valentin durch die Gaststätten tingelte und versuchte, damit Geld zu verdienen.

Zur Ausstellung des Bezirks Oberbayern im ehemaligen Kloster Benediktbeuern erscheint der Band Münchner Originale. Fotografien aus der Sammlung Karl Valentin im Stadtarchiv München – mit Texten von Karl Stankiewitz, herausgegeben vom Stadtarchiv München, versehen mit einem Vorwort seines Direktors, Dr. Michael Stephan. Er weist darauf hin, dass Valentin eben nicht nur »Schriftsteller, Musiker, Komiker, Schauspieler, (Film-)Regisseur und Maler« war, sondern auch »ein passionierter Sammler.« Nun wird also erstmals seine Serie »Bilder berühmter Persönlichkeiten« vollständig veröffentlicht. Sie »besteht aus 75 Glasdiapositiven (74 Porträts plus ein Titelblatt im Format 9 x 12 cm), die zum größten Teil handkoloriert sind. Sie wurden für die vorliegende Publikation erstmals konservatorisch und restauratorisch bearbeitet, erfasst und gescannt.« 

Was folgt, ist eine Serie tatsächlich tief berührender Porträts, überwiegend mit kurzen Biographien begleitend versehen, sodass nicht nur ein Stück Geschichte München entsteht, es ist Ausschnitt unser aller Menschheitsgeschichte, in der exemplarisch die Rede ist von geglückten oder auch gar nicht beglückenden Lebensläufen.

»Jede Lokalgeschichte ist ein Stück Weltgeschichte«, befindet der Historiker Max Lenz. Man sieht die beschriebenen Personen in diesem auch wunderschön ausgestatteten Band in den von Karl Valentin gesammelten Porträts und kann selbst in ihre Gesichter schauen und sich so manchen Reim drauf machen. Über die aktuelle Situation der jeweiligen Menschen hinaus erhebt sich die immer wiederkehrende Frage, unter welchen Umständen denn ein Leben gelingen kann – und welche zum Misslingen beitragen.

Jede einzelne Geschichte verdiente es, hier wiedergegeben zu werden, aber das geht natürlich nicht. Dafür gibt es ja das Buch. So sei unter all den Spaßmachern, Musikanten, Volkssängern, Wirtsleuten und Kellnerinnen, Unternehmern, Athleten, Theaterleuten, Schaustellern, Schreiberlingen und Handwerksleuten (so die Kapitelüberschriften) wenigstens das »Schlüsselfräulein« Thekla Foag hier erwähnt. Sie war eben weit mehr als ein schrulliges, einschichtiges Frauenzimmer, das in der Blumenstraße 14 »den Verkauf von verrostetem alten Glump« betrieben hat. Ihr Laden war eher ein Hausdurchgang, abgeschlossen mit einer großen Flügeltür, an deren Innenseite ebenso wie im Innenraum bündelweise die Schlüssel hingen. »Wo immer ein Schlüssel verloren ging«, heißt es in ihrer Lebensbeschreibung, »die Thekla fand immer passenden Ersatz in ihren eisernen Schätzen, die sie täglich putzte und ölte. Meist genügte ihr schon ein Blick auf ein mitgebrachtes Schloss … Bei Bedarf feilte sie halt den Bart ein bisschen nach. ... Für das glückliche Zusammenfinden von Schloss und Schlüssel verlangte sie in der Regel ›a Zwanzgerl‹, und wenn einen die 20 Pfennig drückten, dann durfte er sich einfach mit einem alten Schlüssel bedanken.« 

Nein, halt, ein Beispiel genügt nicht, das »Weltoriginal« Max Duffek will noch erwähnt werden, der »im Handstand einer Militärpatrouille voranmarschieren« konnte, »auf Rollschuhen mit einem Automobil um die Wette rasen«, auf einem »Ziegen-Equipagenwagen« fahren oder »sich auf einem Teppich und auf einer Bratpfanne durch die Straßen schleifen« lassen. »Man sieht ihn hupfen, tanzen, springen, klettern, schwimmen, surfen, rodeln, radeln, rudern. Und immer wieder reiten, zum Beispiel auf einem Alligator oder einem Nashorn.«

Und er konnte sich gleichzeitig schlangenartig verbiegen, aberwitzige Grimassen schneiden und Flöte spielen. Zusammen mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt spielte er 1932 in Valentins erstem Tonfilm, der Verkauften Braut. Seinen Lebensunterhalt musste er im Alter als Busfahrer verdienen, sein »Weltreisemuseum« in der Au, in dem es alles zu sehen gab vom Haifischzahn über den verwelkten Lorbeerkranz bis zum Restgeld, das ihm von seinen Reisen übrig geblieben war, fiel den Bomben zum Opfer, er selbst als Radfahrer einem Lastwagen. 

Ach, und dann gibt es noch den »Wasserbeschwörer«, den »Professor der unentdeckten Wissenschaften«, den »Christus von Neuhausen«, »Sailer-Wastl«, der sogar der Königin Schuhe aus farbigen Spagat fertigen konnte, aber dazu musste man ihn einsperren, ehe er wieder von Neuem dem Alkohol verfiel und so weiter und so weiter.

Lauter »Sonderlinge, Sprücheklopfer, Hofnarren, Gaudiburschen, Kraftlackln, Volkssäner, Leuttratzer, Ratschkathln, Revoluzzer, Gschaftlhuber, Kapellmeister, Spötter, Spinner, Dichter und fröhliche Zecher«. Karl Stankiewitz weist darauf hin, dass vier dieser Münchner Originale im Gewölbe des Karlstors verewigt sind: der berühmte Franz Xaver Krenkl, der mit seinem Spruch »Wer ko, der ko« verbotenerweise die Kutsche des Königs überholte. Nicht minder beliebt ist der Spruch »Nix gwiss woaß ma ned!«, den Finessen-Sepperl kennt man weniger, ebenso wenig wie Georg Pranger, den letzten Hofnarren, oder den Kapellmeister Sulzbeck, der im Hofbräuhaus an manchen Tagen in den Pausen sagenhafte 40 Maß in sich hineinschüttete, seine als Trinkgeld angelegte Gage.

Wozu dieser Schatz an Bildern und Geschichten darüber hinaus anregt, ist ein tiefes Nachdenken, was denn nun einem Karl Valentin über diese von ihm gesammelten »Originale« (nebenbei ein Begriff so problematisch wie »authentisch«) hinauslebt. Schon ein Vergleich der Photographie in diesem Band, die es von Karl Valentin als Bürger gibt: gut gekleidet, eine saubere Erscheinung, freundlich lächelnd, zeigt den Gegensatz zu den meist doch eher verhauten »Originalen«.

Valentin weiß zu unterscheiden zwischen einer Lebensform, die nicht anders kann, und einer Kunstform, die aus der Lebensform, die nicht anders kann, eine Stilfigur zu gestalten versteht.

Ernst Rebel, weist in seinen Stichworten zur Münchner Interkultur mit dem Titel Abenteuer bis Zuhause (München, Typoskirpt 2018) darauf hin, dass »dieser seltsame Mann weit mehr war als ein Spaßmacher, eher doch philosophischer Querulant, Gewissheitssabotuer und Verfremder des bürgerlichen Normalstandpunkts.« Ernst Rebel erkennt in einem von Valentins Wesensurgründen die Angst, die »unerkannte, verdrängte, komödiantisch überspielte Angst« – »nicht selten versteckt in der Maske von Anarchie und Schadenfreude.«

»Sein manisches Denken in Paradoxen, das alle Ordnungen aufsprengt und doch nach nichts sich mehr sehnt als nach Ordnung«, spiegelt sich auch in dieser Sammlung von Diapositiven, in der er für die Nachwelt zu retten versucht, was er schon 1928 im Verlust der Originalität Münchens befürchtet. Der Band ist ein wertvoller weiterer Zugang in das letztlich unergründbar bleibende Wesen des Weltweisen aus dem Würmtal, der »im Alter von zwölf Jahren aus Gesundheitsgründen die Abnormität erlernte.«

Karl Stankiewitz: Münchner Originale. Fotografien aus der Sammlung Karl Valentin im Stadtarchiv München. Allitera Verlag, München 2019, 288 S.