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„Verzauberung durch Sprache“. Aus der Festrede zu 70 Jahre IJB von Arne Rautenberg

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© Birgit Rautenberg

Vor einigen Wochen fand in Schloss Blutenburg eine Feier zum 70-jährigen Bestehen der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) statt. Den Anfang machte ein Festakt für geladene Gäste im Jella-Lepman-Saal der Bibliothek. Unter den Gästen war auch der Dichter und Josef-Guggenmos-Preisträger von 2016 Arne Rautenberg, der eine Rede zum Festakt hielt. Wir bringen daraus einen Auszug.

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Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek, hatte nicht nur die Idee, von überall her Bücher für Kinder zu sammeln, sie hat auch, um einen originären Kinderausdruck zu präsentieren, von Kindern aus aller Welt gefertigte Selbstportraits zusammengetragen und schickte sie 1951 auf Ausstellungs-Tournee. Sie sah in diesen Bildern das „elementar Verbindende“ einer Weltkindergemeinschaft, ja, sie erkannte darin eine übernationale (vielleicht auch überrationale?) Welt aus kindereigenen Farben, Formen und Themen, gespeist aus dem höchsten Gut der menschlichen Seele: Freiheit und Unbekümmertheit.  Jella Lepman folgerte: Diese Kinderzeichnungen sind der „Ausdruck von documents humain im tiefsten Sinne – und eine Verzauberung für den, der sie zu deuten vermag.“

Dieser Satz hat mich berührt. Die Verzauberung des unbekümmerten Tuns, das schaffen Kinder von allein – das Lesenkönnen, Aufnehmen und Goutieren dieser Verzauberung bedarf wohlgesonnener Umstände. Das Leseabenteuer selbst ist einer davon. Das heilkräftige Fieber einer zunehmend persönlicher werdenden Lektürejagd ein weiterer – die physische Präsenz von Büchern dafür unabdingbar. Allein wie ein Goldgräber durch Regale zu stromern und plötzlich auf ein Buch zu stoßen, von dem man bis eben noch nicht wusste, dass es genau das ist, was man gerade braucht – also zu spüren, wie die überraschende Existenz eines Buches einem gleichzeitig eine Lücke eröffnet, um sie im selben Moment wieder zu schließen; wie kann man glauben, auf dieses Glück verzichten zu können?

Allein der Gedanke, hier in der Internationalen Jugendbibliothek auf Schloß Blutenburg von 650.000 Büchern in 240 Sprachen umgeben zu sein, die quer durch Zeit und Raum lesende Kinder und Jugendliche ab dem Mittelalter mit Impulsen versorgt haben – das eröffnet ein Kraftfeld, welches sich beim Betreten von diesem einmaligen „Alexandria der Kinder- und Jugendliteratur“ erspüren lässt.

Machen wir uns nichts vor, das Internet, der digitale Zugriff auf Informationen, die Daddel-Elektronik und das Handy haben die Welt verändert: Die Jahrtausendwende trägt einen Paradigmenwechsel in sich – einen von derselben Wucht wie 500 Jahre zuvor der Buchdruck – mit weitreichenden Wirkungen für alle Lebensbereiche. Die Technisierung der Kinderzimmer gehört dazu. Dennoch mir scheint die Frage „Wie kriegen wir die Kinder zum Buch zurück?“ am Kern der Sache vorbeizugehen. Wichtig ist, dass Kinder, bevor sie ein Handy haben,  richtig lesen und Bücher kennen lernen. Im Jugendalter werden Internet und Handy ihre große Macht entfesseln. Doch das Internet kann, wie bei mir das Fernseherlebnis mit dem Van-Gogh-Film, einen Einstieg ins Faszinosum kultureller Phänomene auslösen, und damit wieder tiefer in die Welt der Bücher führen.

Denken wir nur an die Gefahr, die vor 50 Jahren vom Fernseher für das Lesen ausging – und was Jahrzehnte später, in den 90er-Jahren, passierte: Weltweit harrten tausende Kinder stundenlang vor Buchfilialen aus, bis es endlich Mitternacht wurde, um den ersehnten nächsten Harry-Potter-Band in die Hände zu bekommen. Die ganz Verrückten fingen direkt im Buchladen mit dem Lesen an - - was ich sagen möchte, ist: Die digitalen Verlockungen verändern zwar unser Denken und Handeln, doch es wird immer Bedürfnisse geben, in denen ein konzentrierter und vertiefender Einstieg in ein Thema oder in die schiere Narration überragend genug ist, um zum Buch zu greifen. Das objekthafte Ding „Buch“ bewirkt den intimen Offline-Moment, der uns im Alltag, in der Forschung, im Urlaub oder in Lebensnotlagen ermöglicht, dass wir uns in einer geistigen Parallelwelt ausbreiten; sei es, um in ein Fachwissen möglichst umfassend einzudringen oder Geschichte anders zu erfahren als im Schulunterricht, sei es,  indem man ein paar Tage lesend einem Schicksal folgt.

So wie für Jella Lepmann die internationalen Kinderzeichnungen, oder einen Kreis weiter gedacht, Kinderbücher aus allen Zeiten und Sphären der ganzen Welt, sichtbare Zeugnisse für das „elementar Verbindende“ einer Weltkindergemeinschaft waren – und es bis heute sind – so gibt es Inhalte und Themen, welche die Kraft haben, Zeitläufte und Welträume zu überdauern – diese Inhalte und Themen behandeln stets den Wunsch nach- und die Angst um Veränderungen.

Ich denke an Erich Kästners Die Konferenz der Tiere, an Lindgrens Die Brüder Löwenherz,  an Orwells 1984 oder Animal Farm, an Salingers Der Fänger im Roggen, an Wolfgang Herrendorfs Tschik, an Anthony Burgess Clockwork Orange, auch an die Bücher von Hermann Hesse, an Kafkas Verwandlung oder an Melvilles Moby Dick oder Stevensons Schatzinsel – Beispiele aus der Weltliteratur, immaterielles Weltkulturgut, Bücher, die über Generationen hinweg junge Menschen begeistern, verstören und nachdenklich machen, kurz: die helfen, dass sich ein kritisches Bewusstsein bildet.

Wir brauchen dieses kritische Denken, damit in Zukunft überholten Strukturen begegnet und entschieden genug entgegengetreten werden kann – wie wir es heute von Jugendlichen auf der Straße bei der Fridays-for-Future-Bewegung erleben. Jede neue Generation macht Mut, und dieser alte Hut ist immer auch ein neuer Hut: die Heilserwartung an die nachwachsende Generation auf eine versöhnlichere, friedlichere und ökologisch befriedetere Welt.

Die betuliche Art, mit der Erwachsene jungen Menschen gern begegnen, empfinde ich dabei als hinderlich. Wer sind wir, dass wir glauben, uns über Kinder erhöhen zu dürfen, nur, weil wir erwachsen sind. Picasso hat mal gesagt, er habe sein ganzes Leben gebraucht, wieder malen zu lernen wie ein Kind. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen: lernen, das tägliche Sein wieder wahrzunehmen wie ein Kind. Alles wie zum ersten Mal sehen lernen. Das Selbstverständliche als etwas Ungewöhnliches begreifen, das Ungewöhnliche als etwas Selbstverständliches – und damit seine Lebensintensität erhöhen.

Kritisches Bewusstsein ist gefragt in einer zunehmend komplexer agierenden Welt, in der natürliche Ressourcen ausgebeutet, Menschen unterschioedlich behandelt werden, sich die Realität mit der Virtualität zu vermengen droht, in der globale Konflikte von nationalistischen wie irrational agierenden Herrschern geschürt werden, in der auf institutionaler Ebene vieles, was mit Literatur und Kunst zu tun hat, von fachfremden Entscheidungsträgern in den Verwaltungen zensiert, marginalisiert und missverstanden wird. All dies sind Entwicklungen, welche die Welt in ein dunkleres Fahrwasser ziehen. Hier gilt es Lösungen, Hauptwege und Nebenwege zu entwickeln, die vielleicht heute noch undenkbar sind. Und genau an diesem Punkt kommt die Literatur ins Spiel – als eine potentielle Ideenerweiterungsmaschine, als eine subversive, überholte Strukturen zersetzende  - oder verlorene Strukturen regenerierende - Kraft wird sie, daran glaube ich fest, gebraucht.

Wo ansetzen? Ich denke: so früh wie möglich. Und ich denke: so breit wie möglich. Wir holen alle ab, wir nehmen alle mit. Denn wendiges Denken ist ein hohes Gut, welches im Schulkontext - wenn schon nicht im Mittelpunkt stehend, so doch punktuell durch Begegnungen mit Kunst und Literatur einen unverrückbaren Stellenwert haben sollte – die Kinder- und Jugendliteratur bildet hier das Rückgrat.

Literarische Initiation entwickelt sich weitgehend in der Kindheit und Jugend. 64% der sich im Kernlesealter befindlichen 6-13jährigen haben 2018 in der Umfrage zum Leseinteresse von Kindern in Deutschland ausgesagt, dass sie gerne lesen. Doch für alle heißt es Angebote setzen, welche Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken anregen und vielleicht übers Lachen ins Staunen bringen. Warum die Dinge eigentlich so sind, wie sie sind – und wie wir sie verändern können. Nicht ohne Grund galt im antiken Griechenland das Staunen als Ursprung der Philosophie.

Literatur, ja, Poesie als kürzeste literarische Form kann das das Durchspielen von Unmöglichkeiten quasi im Zeitraffer erledigen und somit einen aufklärerischen Ansatz ermöglichen. Der Wert eines Gedichts bemisst sich meines Erachtens darin, dass es Grenzen erweitert und motiviert, in Phänomene einzusteigen, die wir noch nicht bedacht haben. Weiter denken, weiter hinaus denken, ja eigenständig denken lernen - - in der Kunst, der Literatur, auch in der Kinder- und Jugendliteratur ist die Freiheit zu entdecken, die wir in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zunehmend weniger verkörpert sehen.

Unsere eigenen Kinder sind mit den Kinderliedern Frederik Vahles auf Autofahren groß geworden, Liedern, die im Rahmen der antiautoritären Studentenbewegung entstanden, „wo das Kinderlied für eine kurze Zeit eine wichtige Gattung für die politische Agitation, für die Bewusstseinsveränderung, für die notwendig erachteten Denkanstöße“ galt. „In diesem Kontext wurde es häufig überladen“, sagte Frederik Vahle Jahre später, „es wurde unbeweglich und konnte nicht ankommen. Die damaligen hohen Erwartungen wurden bekanntlich nicht erfüllt.“

Und doch ist es positiv zu bewerten, dass stets aufs Neue der Versuch gemacht wird, einen erhellenden Aufbruch, wie wir ihn auch jetzt wieder erleben, mit Kindern und Jugendlichen zusammenzudenken; Kinderlieder, Gedichte, Erzählungen gehören ganz natürlich dazu. Nonsens unbedingt inklusive! Denn Lachen ist mehr als ein Selbstzweck: Lachen befreit aus zu engem Mief, gerade auch aus dem eigenen.

Die Sprache öffnet uns dafür alle Türen (nicht nur die zum Verstehen der Abi-Textaufgaben in Mathematik)! – auch die Größte: die zu uns selbst. Denn mehr kann einem das Leben nicht geben, als möglichst nah und bewusst an seinen eigenen (im besten Fall leuchtenden!) Kern zu geraten. Das ist der Dreh, der zeigt, was Literatur – gerade auch Literatur für junge Menschen – kann: Grenzen sprengen, sie erweitern, das Eigenste mit dem Entlegensten zusammenbringen oder anders gesagt: unseren begrenzten Horizont ans große Ganze anbinden. Hier hängen wir am Tropf der Metaphysik und wittern ins Offene hinaus, was unserem Sensorium mehr Weitsicht verleiht als der Blick von einem Fernsehturm.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der IJB

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