Dichtung ist Revolution (9): Die Niederschlagung der Räterepublik in München, 2. Mai 1919
Im November 1918 wird die Wittelsbacher Monarchie gestürzt, der Schriftsteller und Revolutionär Kurt Eisner ruft in München den „Freistaat Bayern“ aus. Zum 100. Jubiläum von Revolution und Rätezeit zeigt die Monacensia im Hildebrandhaus die Ausstellung „Dichtung ist Revolution“. Kuratorin Laura Mokrohs und Zeichnerin Barbara Yelin erzählen begleitend in zehn Episoden in Text und Bild von den Überzeugungen, Ideen und Taten der revolutionären Schriftsteller Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller.
Die am 7. April 1919 ausgerufene anarchistische erste Phase der Räterepublik in Bayern hält nur wenige Tage an. Schon bald wird die Hoffnung der Schriftsteller Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller auf ein produktives und Neuerung bringendes Zusammenwirken der Räteorganisationen in Frage gestellt. Nicht nur aus dem Umfeld der Regierung Hoffmann und den reaktionären Kreisen formiert sich zunehmend Widerstand gegen die Räterepublik, auch seitens der kommunistischen Partei wächst die Kritik. Die Kommunisten setzen sich vor allem für den Aufbau einer Roten Armee ein. Ab Mitte April werden die Schriftsteller, wie auch andere führende Köpfe der ersten Räterepublik, von den Ereignissen in unterschiedliche Richtungen getrieben.
Am 13. April kommt es zu einem Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe, die sich auf die Seite der sozialdemokratischen Regierung um Johannes Hoffmann stellt. In den frühen Morgenstunden verhaften sie Erich Mühsam aus dem Bett heraus. Ihn und andere Gefangene bringen die Angehörigen der Schutztruppe in ihr Hauptquartier am Bahnhof, den sie neben Regierungsgebäuden bereits in der Nacht besetzt haben. Über München werden Propaganda-Flugblätter gegen die Räteregierung abgeworfen. Im Laufe des Tages kommt es um den Hauptbahnhof zu Kämpfen zwischen Räteanhängern und den Soldaten der Schutztruppe. Oskar Maria Graf beschreibt die Lage:
In der Luft knatterten Flugzeuge und spien weiße Blätterwolken. Dahin, dorthin rannten Menschenrotten und haschten nach den herabfallenden Flugblättern, balgten sich um sie, lasen und fingen wild zu schimpfen und zu fluchen an. Rotarmisten und Soldaten legten an und feuerten nach den Fliegern, schossen, schossen. Das Trommelfell drohte einem zu zerspringen. [...] Von der Prielmayer-, von der Schützen-, Schiller- und Bayerstraße heraus liefen bewaffnete Massen andauern Sturm gegen den feuerspeienden Hauptbahnhof, glitten brüllend und heulend wieder zurück und stürmten mit erneuter Erbitterung vor.
Räteanhänger kämpfen am 13. April am Münchner Hauptbahnhof gegen Soldaten der konterrevolutionären Republikanischen Schutztruppe
Den Räteanhängern gelingt es, den Putsch niederzuschlagen, jedoch nur mit der Hilfe der Kommunisten. Diese erklären nun die Unfähigkeit der anarchistischen Räterepublik und nehmen selbst die Regierung in die Hand. Mühsam und die anderen Verhafteten konnte man nicht rechtzeitig befreien, sie werden von den Männern der Republikanischen Schutztruppe in einem Sonderzug ins oberfränkische Ebrach gebracht. Hier wird Mühsam, „[u]mschlossen von engen kahlen Gefängnismauern“, bis auf Weiteres in Haft bleiben. Er bangt aus der Ferne um die Freunde und um das Werk der Revolution.
Gustav Landauer steht zuerst auch der zweiten Räteregierung als Volksbeauftragter für Volksaufklärung zur Verfügung und arbeitet sein kulturpolitisches Programm aus. Die Differenzen mit den Kommunisten um Eugen Leviné sind jedoch schon bald so deutlich, dass er seine Zusammenarbeit aufkündigen muss. Die Kommunisten gehen seiner Ansicht nach zu militärisch und autoritär vor. Landauer legt daher seine Ämter nieder und macht seine Kritik in einem Brief an den Aktionsausschuss deutlich:
Ich verstehe unter dem Kampf, der Zustände schaffen will, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen, etwas anderes als Sie. Der Sozialismus, der sich verwirklicht, macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig: in Ihrem Werke aber sehe ich, dass Sie auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiete, ich beklage, es sehen zu müssen, sich nicht darauf verstehen. Es liegt mir fern, das schwere Werk der Verteidigung, das Sie führen, im Geringsten zu stören. Aber ich beklage aufs schmerzlichste, dass es nur noch zum geringen Teil mein Werk, das Werk der Wärme und des Aufschwungs, der Kultur und der Wiedergeburt ist, das jetzt verbreitet wird.
Schweren Herzens zieht Landauer sich so nach Großhadern ins Haus der Witwe Kurt Eisners zurück.
Auch Ernst Toller hat in diesen Tagen eine schwere Entscheidung zu fällen: Nachdem die Regierung Hoffmann weiter mit Unterstützung aus dem Reich und aus völkischen Kreisen zu einer militärischen Niederschlagung der Räterepublik mobilisiert, muss in München der Aufbau der Roten Armee schneller vorangehen. Bis Mitte April ist die bayerische Rote Armee auf etwa 10.000 Personen angewachsen, neben Kommunisten schließen sich auch Sozialdemokraten an – die meisten von ihnen sind Arbeiter. Viele waren bereits als Soldaten im Krieg. Als Sanitäterinnen und Spioninnen sind auch einige Frauen dabei. Am 15. April 1919 stehen die sogenannten „Weißen Garden“ der Gegenrevolution bereits vor Dachau. Als die Nachricht München erreicht, muss Toller handeln. Die Entscheidung fällt ihm schwer, hatte er sich doch nach der Rückkehr aus dem Krieg geschworen, nie wieder Gewalt anzuwenden.
Durfte ich jetzt, da die Revolution angegriffen war, diesen Schwur brechen? Ich musste es tun. Die Arbeiter hatten mir ihr Vertrauen geschenkt, hatten mir Führung und Verantwortung übertragen. Täuschte ich nicht ihr Vertrauen, wenn ich mich jetzt weigerte, sie zu verteidigen, oder gar sie aufrief, der Gewalt zu entsagen?
Nun reitet er durch die mondhelle Nacht mit einigen anderen nach Dachau, um die roten Truppen zu unterstützen. Die Arbeiter wählen Toller zu ihrem Heerführer, und er wird zum Kommandanten der Roten Armee im Abschnitt Dachau. Am nächsten Morgen versucht er zu allererst durch Verhandlungen die Weißgardisten zum Rückzug zu bewegen. Da jedoch zeitgleich ein Weißgardist, der sich in die Reihen der Roten geschmuggelt hat, einen Angriff der Roten Armee auf Dachau provoziert, lassen sich die Kampfhandlungen nicht mehr aufhalten. Toller ist nun selbst unter den Kämpfenden und beschreibt später die Ereignisse.
Als das Gefecht einsetzt, stürzen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen der Dachauer Munitionsfabrik auf die weißen Soldaten, am entschiedensten die Frauen. Sie entwaffnen die Truppen, treiben sie vor sich her und prügeln sie aus dem Dorf heraus.
Arbeiterinnen und Arbeiter der Dachauer Munitionsfabrik unterstützen die bayerische Rote Armee im Kampf gegen die Weißen Truppen am 16. April 1919
Noch unterliegen also die Weißen Truppen. Toller erhält den Befehl, die gefangenen Offiziere zu töten, weigert sich jedoch und behält sie lediglich als Gefangene. In diesem, wie in vielen anderen Fällen, will er Blutvergießen vermeiden, was zu harter Kritik seitens der Kommunisten führt. Die Zahl der Weißen Truppen vor München wächst in den kommenden Tagen stetig an, die Regierung Hoffmann mobilisiert Soldaten aus dem Reich sowie Freikorps. Immer wieder werden in Massen Flugblätter abgeworfen. Auf diesen, wie auch in der Presse, wird häufig mit Gerüchten gegen die Räterepublik Stimmung gemacht. Bis zum 25. April werden sich vor Dachau 6.000 Soldaten und Freikorps-Männer sammeln. Die Lage in der Roten Armee ist schwierig, Streitigkeiten zwischen Kommunisten und Sozialisten in der Führung wie auch Versorgung und Unterbringung erzeugen Probleme. Bei der Verpflegung der Truppen in Dachau engagiert sich auch Zenzl Mühsam, die abgeschnitten von ihrem Mann, weiter für die Ziele der Revolution eintritt.
Zenzl Mühsam bei der Essensausgabe an die Soldaten der Roten Armee in Dachau im April 1919
Am 26. April erklärt Toller wegen der wachsenden Differenzen mit der KPD seinen Rücktritt. Angesichts der zunehmenden Überzahl der Weißen Truppen hatte er für den Rückzug der Roten Armee plädiert und sich in diesem Punkt massiv mit der KPD angelegt. In den folgenden Tagen rücken die Reaktionäre immer weiter nach München vor. Am 1. Mai 1919 ist die Stadt ganz umschlossen. In der Innenstadt werden die roten Fahnen der Revolutionäre durch die weiß-blauen der Reaktion ersetzt. Soldaten und Freikorpseinheiten marschieren durch die Stadt und bürgerkriegsartige Zustände beginnen. Nur ein kleiner Teil der roten Soldaten lässt sich tatsächlich auf die Kämpfe ein. Dort, wo gekämpft wird, kommt es zu heftigen Schießereien, Zerstörungen und Toten auf beiden Seiten. Nicht zuletzt aufgrund der Pressehetze gegen die Räterepublik ist die Stimmung bei den Weißen Truppen mehr als aufgeheizt. Wohnungsdurchsuchungen und schnelle Erschießungen von Räteaktivisten werden vorgenommen.
Weißgardisten führen verhaftete Arbeiter ab, Anfang Mai 1919
Oskar Maria Graf beschreibt die Stimmung in der Stadt:
Ein furchtbares Denunzieren setzte ein. Kein Mensch war mehr sicher. Wer einen Feind hatte, konnte ihn mit etlichen Worten dem Tod überliefern. Jetzt waren auf einmal wieder die verkrochenen Bürger da und liefen emsig mit umgehängtem Gewehr und weißblauer Bürgerwehr-Armbinde hinter den Truppen her. Wahrhaft gierig suchten sie mit den Augen herum, deuteten dahin und dorthin, rannten einem Menschen nach, schlugen plärrend auf ihn ein, spuckten, stießen wie wildgeworden und schleppten den Halbtotgeprügelten zu den Soldaten. Oder es ging schneller: Der Ahnungslose blieb wie erstarrt stehen, die Meute stürmte heran, umringte ihn, ein Schuß krachte und aus war es. [...] Überall zogen lange Reihen verhafteter, zerschundener Arbeiter mit hochgehaltenen Armen. Seitlich, hinten und vorne marschierten Soldaten, brüllten, wenn ein erlahmter Arm niedersinken wollte, stießen mit Gewehrkolben in die Rippen, schlugen mit Fäusten auf die Zitternden ein.
Ernst Toller kann sich in Wohnungen von Bekannten verstecken. In Großhadern trifft eine Freikorpstruppe bei Gustav Landauer ein, verhaftet ihn und führt ihn nach Starnberg ab. Am 2. Mai werden er und einige verhaftete Arbeiterräte ins Gefängnis Stadelheim gebracht. Hier wird Gustav Landauer von Soldaten misshandelt und, nachdem er mehrere Schüsse überlebt hat, schließlich brutal zu Tode getreten. In München wird den ganzen Tag gekämpft, die Übermacht der Weißen Truppen zwingt die Reste der Roten Armee jedoch dazu, die Kampfhandlungen einzustellen.
Gustav Landauer, ermordet von Soldaten, 2. Mai 1919
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Quellen der Zitate:
Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe. Bd. 1. Hg. v. Wilfried Schoeller. München 1994, S. 439.
Gustav Landauer an den Aktionsausschuss, 16. April 1919. In: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Bd. 2. Hg. v. Martin Buber. Frankfurt am Main 1929, S. 420.
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. In: Ders.: Autobiographisches und Justizkritik. Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. v. Stefan Neuhaus und Rolf Selbmann unter Mitarb. v. Martin Gerstenbräun, Michael Pilz, Gerhard Scholz und Irene Zanol. Göttingen 2015, S. 97-273, hier S. 202 und 208.
Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe. Bd. 1. Hg. v. Wilfried Schoeller. München 1994, S. 450.
Dichtung ist Revolution (9): Die Niederschlagung der Räterepublik in München, 2. Mai 1919>
Im November 1918 wird die Wittelsbacher Monarchie gestürzt, der Schriftsteller und Revolutionär Kurt Eisner ruft in München den „Freistaat Bayern“ aus. Zum 100. Jubiläum von Revolution und Rätezeit zeigt die Monacensia im Hildebrandhaus die Ausstellung „Dichtung ist Revolution“. Kuratorin Laura Mokrohs und Zeichnerin Barbara Yelin erzählen begleitend in zehn Episoden in Text und Bild von den Überzeugungen, Ideen und Taten der revolutionären Schriftsteller Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller.
Die am 7. April 1919 ausgerufene anarchistische erste Phase der Räterepublik in Bayern hält nur wenige Tage an. Schon bald wird die Hoffnung der Schriftsteller Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller auf ein produktives und Neuerung bringendes Zusammenwirken der Räteorganisationen in Frage gestellt. Nicht nur aus dem Umfeld der Regierung Hoffmann und den reaktionären Kreisen formiert sich zunehmend Widerstand gegen die Räterepublik, auch seitens der kommunistischen Partei wächst die Kritik. Die Kommunisten setzen sich vor allem für den Aufbau einer Roten Armee ein. Ab Mitte April werden die Schriftsteller, wie auch andere führende Köpfe der ersten Räterepublik, von den Ereignissen in unterschiedliche Richtungen getrieben.
Am 13. April kommt es zu einem Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe, die sich auf die Seite der sozialdemokratischen Regierung um Johannes Hoffmann stellt. In den frühen Morgenstunden verhaften sie Erich Mühsam aus dem Bett heraus. Ihn und andere Gefangene bringen die Angehörigen der Schutztruppe in ihr Hauptquartier am Bahnhof, den sie neben Regierungsgebäuden bereits in der Nacht besetzt haben. Über München werden Propaganda-Flugblätter gegen die Räteregierung abgeworfen. Im Laufe des Tages kommt es um den Hauptbahnhof zu Kämpfen zwischen Räteanhängern und den Soldaten der Schutztruppe. Oskar Maria Graf beschreibt die Lage:
In der Luft knatterten Flugzeuge und spien weiße Blätterwolken. Dahin, dorthin rannten Menschenrotten und haschten nach den herabfallenden Flugblättern, balgten sich um sie, lasen und fingen wild zu schimpfen und zu fluchen an. Rotarmisten und Soldaten legten an und feuerten nach den Fliegern, schossen, schossen. Das Trommelfell drohte einem zu zerspringen. [...] Von der Prielmayer-, von der Schützen-, Schiller- und Bayerstraße heraus liefen bewaffnete Massen andauern Sturm gegen den feuerspeienden Hauptbahnhof, glitten brüllend und heulend wieder zurück und stürmten mit erneuter Erbitterung vor.
Räteanhänger kämpfen am 13. April am Münchner Hauptbahnhof gegen Soldaten der konterrevolutionären Republikanischen Schutztruppe
Den Räteanhängern gelingt es, den Putsch niederzuschlagen, jedoch nur mit der Hilfe der Kommunisten. Diese erklären nun die Unfähigkeit der anarchistischen Räterepublik und nehmen selbst die Regierung in die Hand. Mühsam und die anderen Verhafteten konnte man nicht rechtzeitig befreien, sie werden von den Männern der Republikanischen Schutztruppe in einem Sonderzug ins oberfränkische Ebrach gebracht. Hier wird Mühsam, „[u]mschlossen von engen kahlen Gefängnismauern“, bis auf Weiteres in Haft bleiben. Er bangt aus der Ferne um die Freunde und um das Werk der Revolution.
Gustav Landauer steht zuerst auch der zweiten Räteregierung als Volksbeauftragter für Volksaufklärung zur Verfügung und arbeitet sein kulturpolitisches Programm aus. Die Differenzen mit den Kommunisten um Eugen Leviné sind jedoch schon bald so deutlich, dass er seine Zusammenarbeit aufkündigen muss. Die Kommunisten gehen seiner Ansicht nach zu militärisch und autoritär vor. Landauer legt daher seine Ämter nieder und macht seine Kritik in einem Brief an den Aktionsausschuss deutlich:
Ich verstehe unter dem Kampf, der Zustände schaffen will, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen, etwas anderes als Sie. Der Sozialismus, der sich verwirklicht, macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig: in Ihrem Werke aber sehe ich, dass Sie auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiete, ich beklage, es sehen zu müssen, sich nicht darauf verstehen. Es liegt mir fern, das schwere Werk der Verteidigung, das Sie führen, im Geringsten zu stören. Aber ich beklage aufs schmerzlichste, dass es nur noch zum geringen Teil mein Werk, das Werk der Wärme und des Aufschwungs, der Kultur und der Wiedergeburt ist, das jetzt verbreitet wird.
Schweren Herzens zieht Landauer sich so nach Großhadern ins Haus der Witwe Kurt Eisners zurück.
Auch Ernst Toller hat in diesen Tagen eine schwere Entscheidung zu fällen: Nachdem die Regierung Hoffmann weiter mit Unterstützung aus dem Reich und aus völkischen Kreisen zu einer militärischen Niederschlagung der Räterepublik mobilisiert, muss in München der Aufbau der Roten Armee schneller vorangehen. Bis Mitte April ist die bayerische Rote Armee auf etwa 10.000 Personen angewachsen, neben Kommunisten schließen sich auch Sozialdemokraten an – die meisten von ihnen sind Arbeiter. Viele waren bereits als Soldaten im Krieg. Als Sanitäterinnen und Spioninnen sind auch einige Frauen dabei. Am 15. April 1919 stehen die sogenannten „Weißen Garden“ der Gegenrevolution bereits vor Dachau. Als die Nachricht München erreicht, muss Toller handeln. Die Entscheidung fällt ihm schwer, hatte er sich doch nach der Rückkehr aus dem Krieg geschworen, nie wieder Gewalt anzuwenden.
Durfte ich jetzt, da die Revolution angegriffen war, diesen Schwur brechen? Ich musste es tun. Die Arbeiter hatten mir ihr Vertrauen geschenkt, hatten mir Führung und Verantwortung übertragen. Täuschte ich nicht ihr Vertrauen, wenn ich mich jetzt weigerte, sie zu verteidigen, oder gar sie aufrief, der Gewalt zu entsagen?
Nun reitet er durch die mondhelle Nacht mit einigen anderen nach Dachau, um die roten Truppen zu unterstützen. Die Arbeiter wählen Toller zu ihrem Heerführer, und er wird zum Kommandanten der Roten Armee im Abschnitt Dachau. Am nächsten Morgen versucht er zu allererst durch Verhandlungen die Weißgardisten zum Rückzug zu bewegen. Da jedoch zeitgleich ein Weißgardist, der sich in die Reihen der Roten geschmuggelt hat, einen Angriff der Roten Armee auf Dachau provoziert, lassen sich die Kampfhandlungen nicht mehr aufhalten. Toller ist nun selbst unter den Kämpfenden und beschreibt später die Ereignisse.
Als das Gefecht einsetzt, stürzen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen der Dachauer Munitionsfabrik auf die weißen Soldaten, am entschiedensten die Frauen. Sie entwaffnen die Truppen, treiben sie vor sich her und prügeln sie aus dem Dorf heraus.
Arbeiterinnen und Arbeiter der Dachauer Munitionsfabrik unterstützen die bayerische Rote Armee im Kampf gegen die Weißen Truppen am 16. April 1919
Noch unterliegen also die Weißen Truppen. Toller erhält den Befehl, die gefangenen Offiziere zu töten, weigert sich jedoch und behält sie lediglich als Gefangene. In diesem, wie in vielen anderen Fällen, will er Blutvergießen vermeiden, was zu harter Kritik seitens der Kommunisten führt. Die Zahl der Weißen Truppen vor München wächst in den kommenden Tagen stetig an, die Regierung Hoffmann mobilisiert Soldaten aus dem Reich sowie Freikorps. Immer wieder werden in Massen Flugblätter abgeworfen. Auf diesen, wie auch in der Presse, wird häufig mit Gerüchten gegen die Räterepublik Stimmung gemacht. Bis zum 25. April werden sich vor Dachau 6.000 Soldaten und Freikorps-Männer sammeln. Die Lage in der Roten Armee ist schwierig, Streitigkeiten zwischen Kommunisten und Sozialisten in der Führung wie auch Versorgung und Unterbringung erzeugen Probleme. Bei der Verpflegung der Truppen in Dachau engagiert sich auch Zenzl Mühsam, die abgeschnitten von ihrem Mann, weiter für die Ziele der Revolution eintritt.
Zenzl Mühsam bei der Essensausgabe an die Soldaten der Roten Armee in Dachau im April 1919
Am 26. April erklärt Toller wegen der wachsenden Differenzen mit der KPD seinen Rücktritt. Angesichts der zunehmenden Überzahl der Weißen Truppen hatte er für den Rückzug der Roten Armee plädiert und sich in diesem Punkt massiv mit der KPD angelegt. In den folgenden Tagen rücken die Reaktionäre immer weiter nach München vor. Am 1. Mai 1919 ist die Stadt ganz umschlossen. In der Innenstadt werden die roten Fahnen der Revolutionäre durch die weiß-blauen der Reaktion ersetzt. Soldaten und Freikorpseinheiten marschieren durch die Stadt und bürgerkriegsartige Zustände beginnen. Nur ein kleiner Teil der roten Soldaten lässt sich tatsächlich auf die Kämpfe ein. Dort, wo gekämpft wird, kommt es zu heftigen Schießereien, Zerstörungen und Toten auf beiden Seiten. Nicht zuletzt aufgrund der Pressehetze gegen die Räterepublik ist die Stimmung bei den Weißen Truppen mehr als aufgeheizt. Wohnungsdurchsuchungen und schnelle Erschießungen von Räteaktivisten werden vorgenommen.
Weißgardisten führen verhaftete Arbeiter ab, Anfang Mai 1919
Oskar Maria Graf beschreibt die Stimmung in der Stadt:
Ein furchtbares Denunzieren setzte ein. Kein Mensch war mehr sicher. Wer einen Feind hatte, konnte ihn mit etlichen Worten dem Tod überliefern. Jetzt waren auf einmal wieder die verkrochenen Bürger da und liefen emsig mit umgehängtem Gewehr und weißblauer Bürgerwehr-Armbinde hinter den Truppen her. Wahrhaft gierig suchten sie mit den Augen herum, deuteten dahin und dorthin, rannten einem Menschen nach, schlugen plärrend auf ihn ein, spuckten, stießen wie wildgeworden und schleppten den Halbtotgeprügelten zu den Soldaten. Oder es ging schneller: Der Ahnungslose blieb wie erstarrt stehen, die Meute stürmte heran, umringte ihn, ein Schuß krachte und aus war es. [...] Überall zogen lange Reihen verhafteter, zerschundener Arbeiter mit hochgehaltenen Armen. Seitlich, hinten und vorne marschierten Soldaten, brüllten, wenn ein erlahmter Arm niedersinken wollte, stießen mit Gewehrkolben in die Rippen, schlugen mit Fäusten auf die Zitternden ein.
Ernst Toller kann sich in Wohnungen von Bekannten verstecken. In Großhadern trifft eine Freikorpstruppe bei Gustav Landauer ein, verhaftet ihn und führt ihn nach Starnberg ab. Am 2. Mai werden er und einige verhaftete Arbeiterräte ins Gefängnis Stadelheim gebracht. Hier wird Gustav Landauer von Soldaten misshandelt und, nachdem er mehrere Schüsse überlebt hat, schließlich brutal zu Tode getreten. In München wird den ganzen Tag gekämpft, die Übermacht der Weißen Truppen zwingt die Reste der Roten Armee jedoch dazu, die Kampfhandlungen einzustellen.
Gustav Landauer, ermordet von Soldaten, 2. Mai 1919
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Quellen der Zitate:
Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe. Bd. 1. Hg. v. Wilfried Schoeller. München 1994, S. 439.
Gustav Landauer an den Aktionsausschuss, 16. April 1919. In: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Bd. 2. Hg. v. Martin Buber. Frankfurt am Main 1929, S. 420.
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. In: Ders.: Autobiographisches und Justizkritik. Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. v. Stefan Neuhaus und Rolf Selbmann unter Mitarb. v. Martin Gerstenbräun, Michael Pilz, Gerhard Scholz und Irene Zanol. Göttingen 2015, S. 97-273, hier S. 202 und 208.
Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Werkausgabe. Bd. 1. Hg. v. Wilfried Schoeller. München 1994, S. 450.