Die Tagebücher von Hedwig Pringsheim, der Schwiegermutter Thomas Manns
Die 135. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Lebensläufe in Bayern. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Holger Pils, Geschäftsführer der Stiftung Lyrik Kabinett, mit den Tagebüchern von Hedwig Pringsheim, der Schwiegermutter von Thomas Mann.
*
Über Tagebuchschreiber erfährt man zuweilen mehr, als man wirklich wissen möchte. Im Falle Hedwig Pringsheims (1855–1942) ist das anders. Sie wird nicht ausführlich, schon gar nicht, wenn es um ihr eigenes Befinden geht. Manchmal wüsste man da gern ein wenig mehr, doch Selbstbespiegelung ist ihre Sache nicht. Die täglichen (meist kurzen) und alltäglichen Mitteilungen sind eine Registratur von Begegnungen, Briefen, Theater- und Konzertbesuchen, Teegesellschaften, Lektüren und Familienereignissen. Und des Wetters – fast jeden Tag findet sich eine Notiz zum Münchner Wetter, über mehr als ein halbes Jahrhundert. Das allein verweist auf eine Besonderheit der Überlieferung: Die Tagebücher reichen von 1885 bis 1941.
Erschienen ist der nunmehr siebente von geplanten neun Bänden, herausgegeben von Cristina Herbst. Er umfasst die Zeit von 1923 bis 1928, tatsächlich in täglichen Einträgen.
Wer die früheren Bände des Tagebuchs gelesen hat, hat mit Hedwig Pringsheim einiges erlebt, darunter Aufregendes – zuletzt Krieg, Revolution, Inflation –, hat aber auch mit ihr die Niederungen des Alltags durchwandert. So geht es auch in diesem Band. Man erfährt unendlich viele interessante Details, aber auch viele weniger interessante.
Ist der einzelne Eintrag nicht immer ergiebig, so ist es ohne Zweifel das Ganze: Das Tagebuch lässt den Eindruck von einer selbstbewussten, klugen Frau entstehen und es bietet einen großen kultur- und alltagsgeschichtlichen Ertrag. Dabei ist es freilich keine „Geschichte von unten", sondern Alltagsgeschichte eines besonders privilegierten Münchner Milieus. Und schließlich: Wäre Thomas Mann nicht der „Schwiegertommy", wäre Hedwig Pringsheims Tochter Katia nicht mit ihm verheiratet, dann würde das Tagebuch vermutlich nicht in einer so aufwendigen, sorgfältigen Edition erscheinen.
Die Familie Mann spielt eine große Rolle in den Aufzeichnungen, der Kontakt Hedwig Pringsheims zu Katia Mann war besonders eng. Es vergehen kaum zwei Tage, an denen man sich nicht sieht. Dabei kann es immer noch vorkommen, dass Thomas Mann in Streit mit Katias Vater Alfred Pringsheim gerät (wie an Weihnachten 1925 – über Schopenhauer), sein Kontakt zur Schwiegermutter scheint dagegen ungetrübt. Hedwig Pringsheim begleitet ihn ins Theater, wenn Katia verreist ist, berät ihn, als er sich „in ratloser Erregung" über Sohn Klaus hilfesuchend an sie wendet, und sie liest natürlich seine Bücher: Der am 5. Dezember 1924 geschenkte Zauberberg ist schon am 1. Januar 1925 „ausgelesen".
Was sie vor der jeweiligen Veröffentlichung hört, wenn Thomas Mann im Familienkreis vorliest, wird durchaus einem kritischen Urteil unterzogen: Der Vortrag über Schrenk-Notzing ist „absolut unüberzeugend", ein Aufsatz über Bruno Frank „etwas übertrieben", die Vorrede zum Joseph „sehr schwierig". Anderes findet ihren Beifall.
Hedwig Pringsheim ist eine geschulte Leserin (auch Übersetzerin); sie liest unglaublich viel. Am Ende des Bandes findet sich eine Lektüreliste der betreffenden Jahre, die die weitgespannten literarischen Interessen eindrucksvoll dokumentiert, sicher mehr als 200 Buchtitel umfassend. Den „viel bewunderten" Kafka findet sie „einfach fürchterlich", nach unbefriedigender Lektüre liest sie Balzac: „Zur Erholung". Die Arbeiten des Schwagers Heinrich Mann kommen – wie immer – schlecht weg. Schon in den vergangenen Jahren nannte sie Madame Legros „ein aufreizend schlechtes, unmögliches, dabei langweiliges Stück" und Der Untertan „ein absolut unkünstlerisches Buch". Jetzt, 1927, besucht sie die Uraufführung von Heinrich Manns Das gastliche Haus: „ein auffallend häßliches Stück, halb grobe Posse, halb sozialkritisch".
Hedwig Pringsheim: Tagebücher; Bd. 7: 1923-1928, hrsg. und kommentiert von Cristina Herbst, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 715 S.
Eine eigene Haltung vertritt Hedwig Pringsheim auch, wenn es um die Politik geht. Die in Teilen ihres Bekanntenkreises aufkommende völkische Begeisterung befremdet sie. Sie wählt sogar konsequent (und vom Gatten abweichend) sozialdemokratisch. „Großer Wahlsieg 'meiner' Socialdemokraten, vernichtender Rückgang der Völkischen!", jubelt sie 1924.
Ein wirklich politischer Mensch scheint sie allerdings nicht zu sein. Politik wird dann im Tagebuch erwähnenswert, wenn sie in den Alltag eindringt. So wie am 9. November 1923: „Hier ist schon wieder der Teufel los!" und es folgen für diesen und den nächsten Tag vergleichsweise detaillierte Aufzeichnungen zum politischen Tagesgeschehen. Es war ja auch was los: „kein Theater. Standrecht"!
Zu schaffen macht Hedwig Pringsheim die Geldentwertung, und sie lässt sie staunen – „Rehschlegel für 45 Milliarden (!) gekauft" –, aber Entbehrungen müssen nicht ertragen werden. In der früheren Nachkriegszeit hatte das bei Rationierung und schnell wechselndem Personal noch anders ausgesehen. Die Mittsechzigerin hatte 1920 notiert: „zum erstenmal in meinem Leben, gekocht, den ganzen Vormittag; was doch recht ermüdend." 1923 hat sie mit den Hausangestellten wieder Glück, im Gegensatz zu den Manns: „Familie Mann, die one Köchin, ganz mädchenlos".
Pringsheims lebten, wie die Manns, weiterhin ein sehr gutes Leben – wenn auch mit Untermietern, die wegen der Wohnraumbewirtschaftung aufzunehmen waren, wenn auch mit gesundheitlichen Problemen, die im Alter zunahmen. Es wurden wieder Reisen in die Schweiz (1925), nach Italien (1926) und Frankreich (1927) unternommen, und einige Feste immer noch ausladend gefeiert, zum Schluss immer mit „viel Sekt" (Goldene Hochzeit 1928), ja „Champagner-Orgie" (Hedwig Pringsheims 70. Geburtstag 1925).
Die Hintergründe der Aufzeichnungen werden durch knappe Anmerkungen, eine ausführliche Einleitung der Herausgeberin und durch einen umfangreichen Anhang erschlossen. Hier finden sich auf 150 Seiten zeitgenössische Dokumente zu den politischen Ereignissen in München, literarisch-politischen Debatten um Thomas Mann, zu Alfred Pringsheim als Mathematiker und zum Sohn Klaus Pringsheim als Dirigent und anderes mehr.
All das macht die Edition der Tagebücher Hedwig Pringsheims zu einer großen kulturgeschichtlichen Unternehmung. Zwei Bände stehen noch aus. Sie werden schwere Zeiten dokumentieren.
Die Tagebücher von Hedwig Pringsheim, der Schwiegermutter Thomas Manns>
Die 135. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Lebensläufe in Bayern. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Holger Pils, Geschäftsführer der Stiftung Lyrik Kabinett, mit den Tagebüchern von Hedwig Pringsheim, der Schwiegermutter von Thomas Mann.
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Über Tagebuchschreiber erfährt man zuweilen mehr, als man wirklich wissen möchte. Im Falle Hedwig Pringsheims (1855–1942) ist das anders. Sie wird nicht ausführlich, schon gar nicht, wenn es um ihr eigenes Befinden geht. Manchmal wüsste man da gern ein wenig mehr, doch Selbstbespiegelung ist ihre Sache nicht. Die täglichen (meist kurzen) und alltäglichen Mitteilungen sind eine Registratur von Begegnungen, Briefen, Theater- und Konzertbesuchen, Teegesellschaften, Lektüren und Familienereignissen. Und des Wetters – fast jeden Tag findet sich eine Notiz zum Münchner Wetter, über mehr als ein halbes Jahrhundert. Das allein verweist auf eine Besonderheit der Überlieferung: Die Tagebücher reichen von 1885 bis 1941.
Erschienen ist der nunmehr siebente von geplanten neun Bänden, herausgegeben von Cristina Herbst. Er umfasst die Zeit von 1923 bis 1928, tatsächlich in täglichen Einträgen.
Wer die früheren Bände des Tagebuchs gelesen hat, hat mit Hedwig Pringsheim einiges erlebt, darunter Aufregendes – zuletzt Krieg, Revolution, Inflation –, hat aber auch mit ihr die Niederungen des Alltags durchwandert. So geht es auch in diesem Band. Man erfährt unendlich viele interessante Details, aber auch viele weniger interessante.
Ist der einzelne Eintrag nicht immer ergiebig, so ist es ohne Zweifel das Ganze: Das Tagebuch lässt den Eindruck von einer selbstbewussten, klugen Frau entstehen und es bietet einen großen kultur- und alltagsgeschichtlichen Ertrag. Dabei ist es freilich keine „Geschichte von unten", sondern Alltagsgeschichte eines besonders privilegierten Münchner Milieus. Und schließlich: Wäre Thomas Mann nicht der „Schwiegertommy", wäre Hedwig Pringsheims Tochter Katia nicht mit ihm verheiratet, dann würde das Tagebuch vermutlich nicht in einer so aufwendigen, sorgfältigen Edition erscheinen.
Die Familie Mann spielt eine große Rolle in den Aufzeichnungen, der Kontakt Hedwig Pringsheims zu Katia Mann war besonders eng. Es vergehen kaum zwei Tage, an denen man sich nicht sieht. Dabei kann es immer noch vorkommen, dass Thomas Mann in Streit mit Katias Vater Alfred Pringsheim gerät (wie an Weihnachten 1925 – über Schopenhauer), sein Kontakt zur Schwiegermutter scheint dagegen ungetrübt. Hedwig Pringsheim begleitet ihn ins Theater, wenn Katia verreist ist, berät ihn, als er sich „in ratloser Erregung" über Sohn Klaus hilfesuchend an sie wendet, und sie liest natürlich seine Bücher: Der am 5. Dezember 1924 geschenkte Zauberberg ist schon am 1. Januar 1925 „ausgelesen".
Was sie vor der jeweiligen Veröffentlichung hört, wenn Thomas Mann im Familienkreis vorliest, wird durchaus einem kritischen Urteil unterzogen: Der Vortrag über Schrenk-Notzing ist „absolut unüberzeugend", ein Aufsatz über Bruno Frank „etwas übertrieben", die Vorrede zum Joseph „sehr schwierig". Anderes findet ihren Beifall.
Hedwig Pringsheim ist eine geschulte Leserin (auch Übersetzerin); sie liest unglaublich viel. Am Ende des Bandes findet sich eine Lektüreliste der betreffenden Jahre, die die weitgespannten literarischen Interessen eindrucksvoll dokumentiert, sicher mehr als 200 Buchtitel umfassend. Den „viel bewunderten" Kafka findet sie „einfach fürchterlich", nach unbefriedigender Lektüre liest sie Balzac: „Zur Erholung". Die Arbeiten des Schwagers Heinrich Mann kommen – wie immer – schlecht weg. Schon in den vergangenen Jahren nannte sie Madame Legros „ein aufreizend schlechtes, unmögliches, dabei langweiliges Stück" und Der Untertan „ein absolut unkünstlerisches Buch". Jetzt, 1927, besucht sie die Uraufführung von Heinrich Manns Das gastliche Haus: „ein auffallend häßliches Stück, halb grobe Posse, halb sozialkritisch".
Hedwig Pringsheim: Tagebücher; Bd. 7: 1923-1928, hrsg. und kommentiert von Cristina Herbst, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 715 S.
Eine eigene Haltung vertritt Hedwig Pringsheim auch, wenn es um die Politik geht. Die in Teilen ihres Bekanntenkreises aufkommende völkische Begeisterung befremdet sie. Sie wählt sogar konsequent (und vom Gatten abweichend) sozialdemokratisch. „Großer Wahlsieg 'meiner' Socialdemokraten, vernichtender Rückgang der Völkischen!", jubelt sie 1924.
Ein wirklich politischer Mensch scheint sie allerdings nicht zu sein. Politik wird dann im Tagebuch erwähnenswert, wenn sie in den Alltag eindringt. So wie am 9. November 1923: „Hier ist schon wieder der Teufel los!" und es folgen für diesen und den nächsten Tag vergleichsweise detaillierte Aufzeichnungen zum politischen Tagesgeschehen. Es war ja auch was los: „kein Theater. Standrecht"!
Zu schaffen macht Hedwig Pringsheim die Geldentwertung, und sie lässt sie staunen – „Rehschlegel für 45 Milliarden (!) gekauft" –, aber Entbehrungen müssen nicht ertragen werden. In der früheren Nachkriegszeit hatte das bei Rationierung und schnell wechselndem Personal noch anders ausgesehen. Die Mittsechzigerin hatte 1920 notiert: „zum erstenmal in meinem Leben, gekocht, den ganzen Vormittag; was doch recht ermüdend." 1923 hat sie mit den Hausangestellten wieder Glück, im Gegensatz zu den Manns: „Familie Mann, die one Köchin, ganz mädchenlos".
Pringsheims lebten, wie die Manns, weiterhin ein sehr gutes Leben – wenn auch mit Untermietern, die wegen der Wohnraumbewirtschaftung aufzunehmen waren, wenn auch mit gesundheitlichen Problemen, die im Alter zunahmen. Es wurden wieder Reisen in die Schweiz (1925), nach Italien (1926) und Frankreich (1927) unternommen, und einige Feste immer noch ausladend gefeiert, zum Schluss immer mit „viel Sekt" (Goldene Hochzeit 1928), ja „Champagner-Orgie" (Hedwig Pringsheims 70. Geburtstag 1925).
Die Hintergründe der Aufzeichnungen werden durch knappe Anmerkungen, eine ausführliche Einleitung der Herausgeberin und durch einen umfangreichen Anhang erschlossen. Hier finden sich auf 150 Seiten zeitgenössische Dokumente zu den politischen Ereignissen in München, literarisch-politischen Debatten um Thomas Mann, zu Alfred Pringsheim als Mathematiker und zum Sohn Klaus Pringsheim als Dirigent und anderes mehr.
All das macht die Edition der Tagebücher Hedwig Pringsheims zu einer großen kulturgeschichtlichen Unternehmung. Zwei Bände stehen noch aus. Sie werden schwere Zeiten dokumentieren.