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20.03.2019, 08:00 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte
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"Illustrirter Spaziergang durch München. Ein Panorama der bedeutensten Strassen, Plätze und Gebäude" um 1864 (Maximilianstraße, Cafè Maximilian, Kgl. Postgebäude) (c) BSB/Porträtsammlung

Aus einem Text von Michael Georg Conrad über den Dichter Henrik Ibsen

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Porträt von Henrik Ibsen von Carl Frithjof Smith, Katalogdruck 1890

Der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (20. März 1828 in Skien; †23. Mai 1906 in Christiania) lebte insgesamt elf Jahre in München: von 1875 bis 1891 – mit fünfjähriger Unterbrechung. In München entstanden einige seiner bedeutendsten Werke, darunter Nora oder ein Puppenheim (1879) und Hedda Gabler (1890). Viele dieser Stücke hatten dort ihre deutsche Erstaufführung. So auch Hedda Gabler, das einen Theaterskandal auslöste, worauf Ibsen die Stadt am 15. Juli 1891 verließ. Als er starb, war die Trauer in München, das er als seine „schöne zweite Heimat“ bezeichnet hatte, besonders groß. Der Schriftsteller Michael Georg Conrad verfasste in den Münchner Neuesten Nachrichten einen bewegenden Nachruf. Sein hier abgedruckter Text „Mein Verkehr mit Henrik Ibsen“, den er unter dem Pseudonym Fritz Hammer schrieb und der sich auch in Conrads Nachlass befindet, ist außerhalb der Zeitschrift Die Gesellschaft nie veröffentlicht worden. Er wird im Folgenden erstmals digital zugänglich gemacht.

 

Mein Verkehr mit Henrik Ibsen

Von Fritz Hammer.

(München)

 

Es war im Café Maximilian. Seit Ibsen in München wohnt, ist er dort täglich zu sehen, bei jedem Wetter, abends zwischen ½ 7 und ½ 8, zu keiner andern Stunde, immer am zweiten oder dritten Tischchen rechts vom Eingang, gewöhnlich ganz allein, ein Seidel Bier oder ein Gläschen Cognac mit einer Wasserflasche vor sich, in der Hand ein Zeitungsblatt, über welches er meistens hinausliest mit seinem großen, ruhigen Blick, denn die Menschen, die hier ein- und ausgehen, sind selbst eine Chronika, eine lebendige Zeitungssammlung, mindestens ebenso wichtig und interessant, wie das bedruckte Papier der Tagesblätter. Sehr oft sitzt Ibsen auch da wie ein steinerner Gast, unbeweglich, den Blick nach Innen gekehrt, die Lippen eingekniffen, die linke Hand auf dem Schenkel, die rechte leicht auf dem Marmortischchen ruhend, die Finger als hielten sie die Feder – wie in Gedanken am Werktisch, in absorbierender Denkarbeit. Dann steht er ruhig auf, nimmt Stock, Cylinderhut, die immer nebenan auf dem Stuhle liegen, und geht still zur Thür hinaus mit kurzen, leisen Schritten. Immer derselbe und immer wie ein Stück erhabener, unbewußter Natur, das zufällig in einem schwarzen Anzug steckt, eine Brille trägt und sich wie andere wohlerzogene, feingesittete Kulturmenschen gehabt, aber ohne eine Spur von Pose oder gewollter Auffälligkeit. Man sagt, daß er früher auch seine Ordensabzeichen im Knopfloch getragen habe. Das muß lange her sein, denn ich habe in den fünf Jahren meiner Bekanntschaft mit Ibsen nichts dergleichen an seinem Rocke bemerkt. Jedenfalls trug er die Dinger, wie man einen Anzug, eine Cravate, einen Hemdenknopf und sonstige Erzeugnisse der Bekleidungsphantasie trägt. Und wenn er die Dinger nicht mehr trägt, so kommt dies wohl daher, daß er sie einfach liegen ließ, nachdem ihn jemand darauf aufmerksam gemacht, daß gewisse Dummköpfe und  andere landläufig gescheite Leute etwas Apartes und Geziertes darin hätten sehen und benörgeln wollen. Ich denke, wenn Ibsen in ein Land kommt, z.B. nach Frankreich, wo es Brauch ist, stets das Bändchen am Rock zu tragen, so steckt er’s mit der nämlichen Ruhe wieder ins Knopfloch, mit der er’s in München abgelegt hat.

Ich notiere diese Geringfügigkeit, denn sie ist charakteristisch für obengenannten gewissen Dummköpfe und andern landläufig gescheiten Leute. Gott siehet das Herz an, lehrt die Bibel – und seine Ebenbilder betrachten den Anzug und das Knopfloch und schöpfen daraus die überlegene Weisheit, deren sie zu ihrer Gottähnlichkeit und Seligkeit bedürfen.

Also es war im Café Maximilian. Als ich daselbst Henrik Ibsen zum dritten Male gesehen hatte, faßte ich mir ein Herz, seine Einsamkeit zu stören; ich ging hin und stellte mich ihm vor. Er gab mir die Hand und blieb stehen; als das Formelle weggeredet war, lud er mich ein, mich zu ihm zu setzen. Er sprach in einem leisen, milden Ton, wobei sein sonst unbewegliches Gesicht einen ungemein gewinnenden, warmen Ausdruck bekam. Ich habe ihn seitdem nie anders sprechen hören.

Dann fragte er mich, wie die „Gesellschaft“ stehe und was ich sonst mache. Dann plauderten wir von der Aufführung seiner „Nora“. Ibsen ist kein Redner, er ist ein Plauderer, nicht im französischen Sinne des Kauseurs, sondern im guten, schlichten, deutschen Sinn. Er beherrscht das Deutsche fast vollkommen, ohne fremde Färbung in der Aussprache. Er hat es schon daheim in seiner norwegischen Volksschule gelernt, wo Deutsch ein obligater Lehrgegenstand ist. Außerdem war seine Mutter eine Deutsche, dann kam eine Schottin, aber die hatte wieder eine Deutsche zur Mutter gehabt. Ibsens einziger Sprößling, der die diplomatische Laufbahn erwählte und jetzt bei der norwegischen Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten beamtet ist, hat gleichfalls seine Schulung in Deutschland beschlossen, Gymnasium und Universität in München absolviert. Natürlich liest und spricht auch Frau Ibsen deutsch. Leider habe ich sie noch nicht gesehen. Sie scheint vollständig zurückgezogen zu leben.

Dies zur Kenntnisnahme für Diejenigen, die in Ibsen den ehrfurchtsgebietenden germanischen Typus krampfhaft zum Ausländer stempeln möchten. Daß dieser gewaltige germanische Dichterdenker seine Werke norwegisch an- und abfaßt, ist selbstverständlich für diejenigen, die selbstschöpferisch begabt, einen geheimen Zugang zu den Mysterien echten Künstlergeistes haben. Ein Litteratur-Handwerker oder ein Imitations-Schriftsteller, ohne Zeugungsgeist, kann freilich in zwei, drei Zungen zugleich „dichten“. Ibsen denkt und schreibt norwegisch und behandelt norwegische Stoffe schon um der Gewissenhaftigkeit und Reinheit willen, die er in jeder ernsten Lebensthätigkeit beobachtet. Wie einer der stärksten, ist er einer der keuschesten Geister des Jahrhunderts.

Ein andermal kam ich mit unseren Kollegen Baron A.G. und Baronin Bertha v. Suttner ins Maximilian-Café.

„Der dort mit der Löwenmähne?“

„Das ist Ibsen, liebe Freundin.“

„– ? –“

„Natürlich stelle ich Sie mit dem größten Vergnügen vor. Die Verfasserin des „Inventariums einer Seele“ darf nicht von München scheiden, ohne – und so weiter. Also bitte.“

Nachdem ich die Herrschaften vorgestellt, zog ich mich zurück. Ich bin nicht Journalist genug, um trotzdem Wort für Wort vermelden zu können, was sie zusammen gesprochen haben.

Wahrheitsliebende Journalisten – so unglaublich es klingt, es soll immer noch welche geben, aber sie haben so wenig Renommee, daß man ihre Existenz für fabelhaft hält – haben mit Ibsen einen schweren Stand. Es ist nichts aus ihm herauszubringen, was sich in der großen Sensations-Presse verwerten ließe. Von sich und seinem Schaffen spricht er niemals aus eigenem Antriebe. Da muß man jedes Wort herauspumpen. Ich wette einen Hektoliter Salvator-Bock gegen eine Flasche Selterswasser, daß Ibsen niemals einem Reporter oder Interviewer ins Ohr geflüstert oder sonstwie zu verstehen gegeben hat: Ich schaffe Ewigkeitswerke – ich bin der verheißene Dichter-Messias – ich bin das und jenes – ich und meine Schule – ich und meine Anhänger – hängen Sie’s gefälligst an die große Glocke!

Nein, für solchen publizistischen Ulk ist Ibsen niemals zu haben gewesen.

Er schafft seine Dramen, wie der Baum Früchte und die Rose Blüten und Dornen trägt – und das übrige mag werden wie’s will. Er ist froh und dankbar, wenn er verständige Anerkennung findet, und er murrt und zetert nicht, wenn die vorsorgliche deutsche Polizei die Aufführung seiner Stücke verbietet. Alles kommt, wie’s kommen muß. Er schafft ruhig weiter im Bewußtsein seiner Kraft und der unanfechtbaren Berechtigung seiner Eigenart. Die Zeit wird ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er kann warten.

Ich begreife nicht, wie es verständigen Deutschen in den Sinn kommen mag, von einer „Ibsen-Mode“ zu reden. Ibsen ist fünfzig Jahre alt geworden und die deutsche Presse hatte bis dahin kaum Notiz von ihm genommen, geschweige seine Leistungen einer eindringenden Analyse unterzogen. Ibsen ist sechzig Jahre alt geworden, hat ein bedeutsames Werk neben das andere gestellt – und ist der verhältnismäßig am wenigsten gespielte unter den  Dramatikern von europäischer Bedeutung. „Ibsen-Mode!“ in der Hauptstadt des deutschen Reiches wurde eines seiner Dramen versuchsweise bei verschlossenen Thüren aufgeführt. Die Meininger haben, wenn’s hoch kommt, zwei Stücke von ihm in ihrem Repertoire. Münchens Hoftheater, das sich bekanntlich durch kühne Initiative vor allen Hoftheatern deutscher Zunge auszeichnet, kennt nur drei Ibsen-Stücke, die hochpreisliche Wiener Burg gar keins. „Ibsen-Mode!“ Etwa weil ein paar Feuilletons und Broschüren von jungen begeisterten Leuten in den letzten Jahren über ihn geschrieben worden sind?

Signatur aus einem Dankesbrief von Henrik Ibsen an Julius Beck, 8. Juli 1888 (c) Harald Beck

Auf Emil Zolas Veranlassung hat das Théatre libre in Paris – eine Art dramatischer Versuchsanstalt – sich die „Gespenster“ übersetzen lassen, um sie Laufe des nächsten Winters aufzuführen. Louis de Hessem hat die Übersetzung besorgt und in einem ergebenen Schreiben an Ibsen um dessen spezielle Autorisation gebeten. Es vergingen Wochen, Monate – Louis de Hessem erhielt keine Antwort. Da wandte sich der Übersetzer an mich. Ich ging zu Ibsen, Hemmeter-Haus, Ecke der Kanal- und Maximilianstraße über zwei Stiegen. An der Thür ein viereckiges Stückchen Papier, das in Ibsens eigener Schrift „Dr. Henrik Ibsen“ anzeigt. Ich läute ein, zwei, drei Mal. Jetzt öffnet er selbst, in der Hand die Stahlfeder, von der ein Tropfen Tinte auf die Diehle fällt. Es war vormittags, seine Arbeitszeit; er hatte sich vom Werktisch erhoben. Ich entschuldigte mich – und dann zur Sache! Louis de Hessem, Zola, Théatre libre, Autorisation.

Ibsen: „Freilich habe ich den Brief erhalten. Ach ja, ich habe noch nicht geantwortet. Es ist mir so schwer, ich brauche so viel Zeit zur Korrespondenz, und ich schreibe jetzt an meinem neuen Stück und habe keine Zeit. Was meinen Sie?“

Ich erklärte mich zur Vermittlung bereit.

„Ach, das ist schön. Machen Sie alles, wie Sie’s für das Beste halten. Schreiben Sie in meinem Namen nach Paris. Sie erweisen mir einen großen Dienst. Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden.“

Die Sache war erledigt.

Nun erlaubte ich mir noch einige Fragen nach dem neuen Stücke.

„Es spielt in Norwegen, Herr Doktor?“

„Natürlich in Norwegen, das kenne ich ja am besten. Da bin ich sicher.“

„Haben Sie schon einen Titel dafür?“

„Nein, den habe ich noch nicht. Den finde ich erst am Schluß und ich bin erst beim vierten Akt.“

„Das Drama behandelt gewiß wieder einen interessanten Konflikt?“

„Ja, ich glaube.“

„Könnten Sie mir eine Andeutung –?“

„Das ist unmöglich mit ein paar Worten zu machen. Das kann ich nicht. Es würde nur ein schiefes Bild geben. Erst wenn alles fertig ist. Ich habe den letzten Akt noch nicht.“

„Spielt die Natur herein wie in der ‚Wildente‘ und ‚Rosmersholm‘?“

„Jawohl, aber noch eigentümlicher. Die Menschen in Norwegen werden von ihr noch intensiver bestimmt. Ich weiß nicht, ob man andernwärts gleich ein Verständnis dafür haben wird. Ich hoffe bis Ende Oktober fertig zu sein, dann können Sie’s lesen. Ich lasse gleichzeitig die deutsche und die norwegische Ausgabe erscheinen.“

So plauderten wir noch eine Weile.

„Wissen Sie,“ sagte ich, „unser vortrefflicher Rudolf Schmidt in Kopenhagen wäre sehr begierig, Ihre Meinung über seine letzte Novelle in der Gesellschaft ‚Die jüngere Schwester‘ zu hören.“

„Ja, die werde ich lesen.“ Er griff nach einem Hefte der ‚Gesellschaft‘, das auf dem Tische neben Max Kretzers Drama ‚Der bürgerliche Tod‘ lag. „Ich habe jetzt leider so wenig Zeit zum Lesen; wenn ich selbst in einer großen Arbeit stecke, habe ich nur den Abend dazu, da schreibe ich nicht.“

Und so noch über Allerlei, unter anderem über den Roman ‚Was die Isar rauscht‘, dessen Widmung Ibsen freundlich angenommen.

Trotz mehrjähriger Bekanntschaft war ich doch erst zu seinem sechzigsten Geburtstag zum erstenmal in seine Wohnung gekommen. Hohe, helle, vornehme Gemächer, an den Wänden feierliche italienische Meisterbilder in guten Kopien, dazwischen einige flotte Skizzen norwegischer Hellmaler, auf Tischen und Simsen Sträuße, blühende Topfpflanzen, auf den Stühlen umher lagen allerlei Geschenke ausgebreitet: Kunstwerke, Bücher, bemalte Fächer, Stickereien, Adressen. – – – Und wie strahlte der Sechzigjährige vor Freude und Vergnügen über die Aufmerksamkeit teilnehmender Menschen!

„Es ist zuviel! Ich weiß gar nicht!“ rief er ein ums andere Mal, mit der Hand auf die Fülle von Geschenken weisend.

Und die Märzsonne lachte durch die hohen Scheiben und die Blumen dufteten und das Geburtstagskind war so glücklich, umringt von Gratulanten!

„Mögen Ihnen noch viele solcher Tage in München beschieden sein. Sie bleiben doch in München?“

„Freilich bleibe ich! Es ist so schön hier und gut zu arbeiten. Ich gehe nicht mehr fort. Es ist mir wie eine zweite Heimat.“

Bald darauf mußte ich wieder zu ihm. Ein junger sächsischer Offizier hatte ihn in einem feurigen Gedichte angesungen und mich gebeten, es ihm zu überreichen. Es wurde mit dem Pseudonym G. v. Ademar in der „Gesellschaft“ abgedruckt.

„Ja, lieber Doktor Ibsen, dem jungen Deutschland haben Sie es nun doch angethan; da hilft kein Sträuben mehr, Sie müssen sich noch besingen lassen in allen Tonarten.“

„Von einem Offizier! Das ist wirklich schön. Ich lasse den Herrn vielmals grüßen.“

An einem stürmischen Winterabend, in der Maximilianstraße ein einziger toller Flockentanz, Schnee was vom Himmel hernieder wirbeln konnte – wandelte der junge norwegische Maler Frithjof Smith voller Sehnen und Ungeduld unter den Arkaden des Cafés auf und ab, als hätte er Lieb‘ im Leibe. Jetzt bohrte sich sein heißer Blick durch die Scheiben. Drinnen saß sein berühmter Landsmann an dem bekannten Tischchen, vor sich ein Glas Punsch … Welch‘ ein Bild zum malen! …

Aber die Geschichte ist zu lang. Ich erzähle sie ein andermal. –

 

 

Transkribierte Text-Fraktur aus der Zeitschrift Die Gesellschaft