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04.12.2018, 16:48 Uhr
Christian Springer
Revolutionen 1918/1968
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Christian Springer © Gregor Wiebe

1918/1968 – Revolutionen (11): Christian Springer über die Bahn als das Internet der Revolution

Die 132. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Aufbrüche. In unserer Journal-Reihe zu den Revolutionen 1918 und 1968 veröffentlichen wir hier einen Artikel von Kabarettist und Autor Christian Springer über die Rolle der Bahn und des Münchner Bahnhofs während des Ersten Weltkriegs und der Revolution 1918/1919 – und für seine Familie.

*

Die Eisenbahn spielte für meine Familie in der Zeit des Ersten Weltkriegs eine große Rolle. Nachdem mein Urgroßvater in Dresden gestorben war, zog meine Urgroßmutter Marie kurz vor Ausbruch des Krieges mit ihren beiden Söhnen und der Tochter nach München. Mit der Bahn natürlich. Der Hausrat füllte zwei Güterwägen und man landete am Münchner Hauptbahnhof, in dessen Nähe man blieb. Erst in der Dachauer Straße und dann am Karlsplatz Hausnummer 4, mit Blick auf den Wittelsbacher Brunnen und den Justizpalast. Zu Fuß waren es keine fünf Minuten bis zum Bahnhof. Als Bub wusste ich noch nichts von Kurt Eisner und den Roten, aber das Schrapnell kannte ich, das heute noch in der Rückwand eines Eckschranks steckt. Ein eisernes Überbleibsel der Kämpfe um Bahnhof und Mathäser 1919.

Wir wissen vom Arabischen Frühling, von China und überhaupt aus unruhigen Gegenden, welche Bedeutung das Internet hat. Gerade für diejenigen, die eine Opposition zu organisieren haben. Das Internet liefert Nachrichten, von Truppenbewegungen bis zum Wetter. Es transportiert die Propaganda aller Seiten und wird genutzt, um Konspiratives möglichst schnell an die eigenen Leute zu bringen. Natürlich gab es 1918 Automobile, Flugzeuge, Feldpost, ein großes Netz der Telegraphie und bereits Telefone. Das Münchner Telefonbuch feierte im Jahr 1918 ja schon sein 35-jähriges Bestehen. Aber nichts schlug die Bahn. Der Münchner Hauptbahnhof war ab den Novembertagen 1918 in heutigem Verständnis Server und Homepage zugleich.

 

Bahngleise zum Münchner Hauptbahnhof (um 1900)

 

Mein Großvater wurde eingezogen, als er sechzehn war. Er fuhr an die Front mit der Bahn und kehrte von dort zurück mit der Bahn. Und jeder Zuginsasse trug Hunderte von Informationen bei sich. Über den Verbleib von Kameraden, über die Franzosen, die Russen, Gasangriffe, Luftangriffe usw. Der Bub in Uniform war die App des Ersten Weltkrieges. Dies und die Rolle als größter Staatsbetrieb Bayerns erklärt, warum die Bahn und ihre Bahnhöfe eine zentrale Rolle in dem Ringen um ein neues Staatswesen spielten. Folgerichtig betrifft auch einer der ersten Erlasse nach der Ausrufung des Freistaats Bayern – in Wahrheit ist es nur ein Zettel mit fünf hektisch auf ein Papier getippten Zeilen – den Bahnverkehr:

Bis auf Weiteres sind täglich 4 Züge von Schleißheim nach München einzulegen für hin und zurück.
Der Arbeiter und Soldatenrat
München 8. Nov. 18.

Unterschrieben von Kurt Eisner und vom König, denn so hieß der Soldat, der den Zettel zum Hauptbahnhof brachte.

Am Freitag, dem 8. November 1918, gibt der Ministerpräsident Kurt Eisner sein neues Kabinett bekannt. Unter den verschiedenen Aufgabenbereichen gibt es nur ein einziges unpolitisches Ministerium: Verkehr. Und das bedeutete nicht nur die Eisenbahn. Durch dieses Ministerium wurden auch noch Post und Telegrafie verwaltet. Der Verkehrsminister war damit Herr über Transport von Menschen und Gütern, über die Nachrichtenübermittlung und den bargeldlosen Geldverkehr. Aufgaben, die heute von Amazon, WhatsApp und Online-Banking übernommen sind.

 

Kurt Eisner im November 1918 (Fotografie von Robert Sennecke)

 

Eine Blockade dieses Ministeriums hätte die gesamte Revolution niedergestreckt. Daher hütete sich Kurt Eisner, das Verkehrsministerium in die Hände von dilettierenden Soldaten oder unkundigen Räten zu geben: Er berief einfach denjenigen, der das Amt lange genug geführt hatte: Seine Exzellenz Dr. Heinrich Ritter von Frauendorfer. Ein Ritterkreuz tragender und in den Adelsstand erhobener Vertreter des alten Staates, den man eigentlich weghaben wollte.

Aber der Frauendorfer hatte keinen schlechten Ruf. Der Lehrersohn aus der Oberpfalz hatte es 1904 zum ersten Verkehrsminister Bayerns gebracht und war in keiner Partei. Er nahm die erste vollautomatische Großfernsprechanlage in Betrieb und elektrifizierte die bayerischen Eisenbahnen. Auch das Postauto und der Postscheckverkehr wurden von ihm eingeführt, also das bargeldlose Bezahlen. Seine Frau Helene Mühlthaler war eine Münchner Kunstmalerin, und man verkehrte bei den Lenbachs, Stucks und Kaulbachs. Man sagte Frauendorfer eine soziale Ader nach, die man aus seiner oberpfälzischen Herkunft herleitete. Hinterher trug im sein Einsatz für Eisners Kabinett die Beinamen »Verschacherer« und »Revolutionsminister« ein.

Reichsbahnoberrat Max Siegert war sehr zufrieden mit dieser Wahl. Er war vom Juli 1911 bis Oktober 1919 Vorstand des Münchner Hauptbahnhofs. In diesen acht Jahren sah er sich in seinem Büro von der Mobilmachung 1914 bis zum Zusammenbruch 1918 und den nachfolgenden Revolutionären und Räten unterschiedlichsten Übernahmeversuchen ausgesetzt. Er war erleichtert, als er mit Frauendorfer einen obersten Dienstherrn erhielt, auf den er sich verlassen konnte. Egal, welche Truppen gerade in seinem Bahnhof die Maschinengewehre in Stellung brachten, Max Siegert trug penibel die ankommenden und abgehenden Züge in seine Bücher ein und versuchte Verspätungen und Ausfälle des Bahnverkehrs in den Griff zu bekommen.

 

Eisenbahner am Hauptbahnhof München (um 1912)

 

Am Abend des 7. November 1918 fielen erste Schüsse im Bahnhof. Gedränge und Soldaten überall. Das war dem Bahnhofsvorstand zwar nicht geheuer, aber mehr noch regte er sich über die Bierleichen in Uniform auf, die ihm im Weg lagen. Um 20 Uhr 12 Minuten, so genau notierte es der Bahnhofsvorstand Siegert, kommt Georg Müller, ein Unteroffizier des 1. Infanterie-Regiments, zu ihm ins Büro und befiehlt:

»Im Auftrage des Soldatenrates ergreife ich Besitz vom Bahnhof.«

Doch so schnell gibt Max Siegert seinen Bahnhof nicht aus der Hand und erwidert dem Revolutionär: »Sie werden es begreiflich finden, das ich wissen muss, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Es ist dies auch deshalb notwendig, damit ich meinen vorgesetzten Behörden melden kann, mit wem ich verhandelt habe.« Und weiter: »Ich muss schon bitten, dass in erster Linie diese dumme Schießerei im Bahnhofe aufhört und das Herumlaufen der Soldaten mit den Gewehren, denn sonst laufen mir alle meine Leute davon und dann ist es mit der Eisenbahn gleich aus.«

Als er dem Soldaten noch ausführt, dass es ohne sein Personal weder Lebensmittellieferungen noch Nachschub an revolutionswilligen Soldaten in der Stadt geben werde, ist es mit der Revolution in seinem Büro gleich vorbei.

 

Bewaffnete Arbeiter vor dem Münchner Hauptbahnhof, Mitte Arpil 1919 © BSB / Bildarchiv

 

In dieser unruhigen Nacht, die Bayern ein für alle Mal verändern wird, dreht Max Siegert eine Runde nach der anderen durch den Hauptbahnhof. Sein ganzes Personal ist auf seinem Posten geblieben, um den korrekten Ablauf des Bahnverkehrs aufrechtzuerhalten.

Aus einem der Telegraphen-Büros kommt Lärm. Die Tür wird aufgerissen. Siegert erinnert sich, wie das »Fräulein Gertrud Mund, einen mit einem Gewehr bewaffneten Soldaten energisch hinausdrängte und ihn fast am Halse packte. Auf meine Frage, was denn los sei, erwiderte Fräulein Mund: ›Ja, der hat mit seinem Gewehr die Apparate zusammenhauen wollten.‹«

In dieser Nacht und noch viele weitere Monate herrschte das Durcheinander einer Revolution in der Stadt, und der Hauptbahnhof war der Brennpunkt allen Geschehens – und Schießens. Und mittendrin die Bahnbeamten, die kompromisslos ihrer Arbeit nachgingen und einmal den Revolutionären, dann den Räten, dann den Roten, dann den Weißen, aber vor allem den unbeteiligten Zivilisten ihr An- und Wegkommen zu garantieren versuchten. Und es funktionierte so gut, dass man behaupten kann, so wunderlich der Gedanke auch sein mag: Ohne die Beamten der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen hätte die Revolution nie stattfinden können. Der letzte Satz in den Erinnerungen des revolutionsfernen Münchner Bahnhofvorstandes lautet:

»Alle Hochachtung vor solchen Eisenbahnern.«

Nach den Revolutionstagen 1919 wurde noch viel verhaftet, verhandelt, geschnüffelt, prozessiert und ermordet. Die Züge fuhren wieder pünktlich. Verkehrsminister Frauendorfer blieb Verkehrsminister, obwohl sich der politische Wind wieder einmal gedreht hatte.

 

  

Ankunftshalle des Münchner Hauptbahnhofs (um 1912)

 

Seine andere Leidenschaft war die Numismatik. Er war Vorsitzender der Bayerischen Numismatischen Gesellschaft und als profunder Kenner von Münzen sehr geachtet. Auf ihn, noch immer bekannt als der »Rote Heinrich« der Revolutionszeit, stürtzte sich im Sommer 1921 die Münchner Presse: Er sollte im großen Stil antike Münzen gefälscht haben. Am 23. Juli nahm er sich in München-Geiselgasteig das Leben.

Mein Großvater überlebte den Ersten Weltkrieg, weil er rechtzeitig ins Lazarett musste. Ohne seinen schweren Infekt wäre er inmitten seiner Einheit gestanden, als sie angegriffen und bis auf weniger Ausnahmen getötet wurde – auf einem Bahnhof.

Meine Familie blieb in München in der Nähe des Hauptbahnhofs und eröffnete in der Sophienstraße eine vegetarische Gaststätte. Vom Balkon sah man 1931 den Glaspalast, das Münchner Weltwunder des 19. Jahrhunderts, brennen. Über dreitausend Gemälde wurden Opfer der Brandstiftung. Die Nationalsozialisten bauten dafür wenige Jahre später an anderer Stelle das »Haus der Kunst«. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Gaststätte und die Wohnung meiner Familie durch eine Brandbombe zerstört. Man floh an den Tegernsee: Mit der Bahn.

Knapp achtzig Jahre später bin ich auf Tournee, oft mit der Bahn. Das Ticket ist online auf das Handy geladen.

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