Info
22.08.2018, 14:37 Uhr
Thomas Bauer
Text & Debatte
images/lpbblogs/autorblog/2018/klein/Bauer_Cover_164.jpg

Thomas Bauer fährt im Liegerad 3000 Kilometer durch das wahre Amerika

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2018/klein/redneck1_500.jpg
Monument in La Crosse, Wisconsin (c) Thomas Bauer

Der 1976 in Stuttgart geborene Schriftsteller Thomas Bauer war Greenpeace-Mitarbeiter in Paris und Journalist in Sydney, studierte in Konstanz, lebt heute in Tutzing bei München und arbeitet am Goethe-Institut der bayerischen Landeshauptstadt. Seine ausgedehnten Reisen führten ihn auf alle Kontinente der Erde, insbesondere nach Südamerika, Osteuropa und Südostasien, weshalb er auch als Reisebuchautor tätig ist. Er ist Herausgeber mehrerer Reiseanthologien, Gründer der Stuttgarter Autorengruppe „Wortjongleure“, Mitglied der 42er-Autoren und des Bundesverbandes junger Autoren und Autorinnen (BVjA). Zu seinen weiteren Publikationen gehören die frühen Gedichtbände Orkan des Lebens (Berlin, 1998) und Simone träumt (Regensburg, 2000). Der folgende Textauszug stammt aus Bauers neuestem Werk, der Reisereportage Rednecks radeln nicht, die kürzlich im millemari-Verlag erschienen ist. In Rednecks radeln nicht folgt Thomas Bauer einen Monat lang dem Fluss Mississippi in einem Velomobil. Auf seinem Roadtrip durch zehn US-Staaten trifft er Indianer und Gelegenheitsarbeiter, Barschönheiten und Fernfahrer – und alle wählen sie Donald Trump.

***

Auf einmal stand er vor mir. Ich hatte gerade das Motel verlassen und wollte am Gebäude entlangfahren, da hob er die Hand und rief: »Hey du, anhalten!«. Vor Überraschung trat ich sofort auf die Bremse. Das war natürlich ein Fehler: Machte es uns beiden doch klar, wer hier das Sagen hatte.

Andererseits ragte der Kerl hünenhaft vor mir auf. Sein sonnenverbranntes Gesicht ließ nicht erkennen, von welcher Farbe es einst gewesen sein mochte, aber seine wilden, leicht rötlichen Locken deuteten auf eine irische Abstammung hin. Natürlich trug er einen Bart, vor allem ums Kinn herum, das taten fast alle hier. Gebannt starrte der Riese auf das Gefährt, in dem ich saß. Ich konnte es ihm nicht verübeln: Ein Liegerad bekam man nicht alle Tage zu sehen, vor allem nicht in diesem Teil der Welt, wo man selbst bis zum Laden auf der anderen Straßenseite den Pickup nahm. Doch da war ich nun einmal, in einer drei Meter langen Eigenkonstruktion, die aussah wie ein erstarrtes Insekt. Natürlich musste das genauer untersucht werden.

»Was ist das denn für ein seltsames Ding?«, wollte der Muskelprotz wissen. Zumindest glaubte ich das zu verstehen. Sicher konnte ich mir da nicht sein. Seit ich in den Südstaaten unterwegs war, verstand ich so gut wie nichts mehr von dem, was mir die Leute sagen wollten. Schon gar nicht hier, im ländlichen Arkansas, in einem zwielichtigen Nest namens Osceola. Das war kein Akzent mehr, das war eine andere Sprache! Die Vokale wurden gedehnt, bis es ihnen wehtun musste.

Mein Gegenüber griff jetzt mit routinierter Selbstverständlichkeit in die rechte Backentasche seiner verwaschenen Jeans und zog eine Pistole hervor. Was hatte mich nur geritten, dachte ich, mit einem so auffälligen Fahrzeug durch ein derart raues Land zu ziehen?

Angekommen im Motel, Prairie du Chien (c) Thomas Bauer

 

Ein guter Geschichtenerzähler

Schon der Anfang meiner USA-Tour hatte es in sich gehabt. In Bemidji, wo der Mississippi entspringt, knirschten Schnee und Eis unter den Rädern des Velomobils. Die Bewohner Bemidjis sagen, dass es in manchen Wintern derart kalt werde, dass die Worte in der Luft gefrören, ehe sie das Ohr eines Empfängers erreichten. Im Frühjahr tauten sie dann auf, und ein Gemurmel erfülle die Luft. In dieser Stadt nahe der kanadischen Grenze leben vor allem Naturburschen mit massigen Schädeln und breitem Kreuz. Sie wohnen drei Schritte von der Durchgangsstraße entfernt in Häusern, die an Dixi-Toiletten erinnern. Vielleicht stehen darum neben den Gebäuden Autos, die ungefähr dieselbe Größe haben wie die Häuser. Wenn es hart auf hart kommt, kann man einfach davonfahren.

Hier entspringt er, der amerikanischste aller Flüsse. Ohne den Mississippi sind die Vereinigten Staaten nicht denkbar. Hier brachen Lewis und Clark auf, um erstmals zur Westküste des Landes zu gelangen. Sie ermöglichten dadurch die Gründung einer »mächtigen Nation zwischen Atlantik und Pazifik«, wie sie der damalige Präsident Thomas Jefferson gefordert hatte. Kurz darauf begann die goldene Ära der Dampfschifffahrt. Erlebnishungrige Ladies und streitlustige Gentlemen fuhren stromauf- und stromabwärts. Zu ihrem Zeitvertreib erfand man auf einem der Raddampfer das Pokerspiel und später auch das Wasserskifahren. Wahrscheinlich war ich darum hier unterwegs: um die Überbleibsel jenes so abenteuerdurchwebten und lebenshungrigen Amerikas aufzusammeln. Mein Velomobil sollte mir dabei gute Dienste leisten. Jemanden in einem solchen Dreirad will man kennenlernen.

Sartell, stand auf einem Ortsschild kurz vor Saint Cloud, und darunter: 18.789. Dass man hierzulande die Einwohnerzahl von Städten und Dörfern personengenau angibt, erstaunte mich. Was machen die Leute eigentlich, wenn ein Baby geboren wird oder ein Jugendlicher wegzieht? Muss dann jedes Mal das Ortsschild ausgetauscht werden? Vermutlich. Und wahrscheinlich bekam eine frischgebackene Mutter noch im Kreißsaal einen Anruf: »Ja, Pete hier, vom Straßenbauamt. Was ist denn nun, sind es Zwillinge oder nicht?«

Hier, auf den letzten Meilen, wurde Minnesota richtig schön. Geradezu angeberisch spannte es einen Himmel über mir auf, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er erinnerte an einen Ozean. In Hochstimmung fuhr ich in Red Wing ein. Das Dorf ist bekannt für die gleichnamigen Schuhe, die dort hergestellt werden: globige Treter, mit denen man Bisons nachstellen und Grizzlybären ernsthaft verletzen kann. Im Schuhmuseum wird der Brief eines Arztes ausgestellt, der Mittel gegen Schlangengifte herstellt. Auf einem Bild sieht man ihn inmitten von Klapperschlangen; eine beißt soeben in seinen Schuh. Das passiere zwölf Mal am Tag, schreibt der Doktor, und noch nie sei es einer Schlange gelungen, das Futter des Red-Wing-Schuhs zu durchstoßen. Nebenan steht der größte Lederstiefel der Welt. Er wiegt über eine Tonne.

Der Fluss hatte sich verändert. In Minnesota hätte man ihn noch mit anderen Bächen verwechseln können. Weiter südlich aber, wo er Wisconsin und Iowa voneinander trennt, hält den Mississippi nichts mehr auf. Er hat Hunderte Flüsse in sich aufgenommen. Aus allen Begegnungen ist er als Sieger hervorgegangen, und er weiß es. Er laviert nicht mehr  herum, wie er es auf seinen ersten 1000 Kilometern immer wieder tut. Von hier an ist er ein einziges Ausrufezeichen, mit dem Golf von Mexiko als Endpunkt.

Ich begann zu begreifen, dass der Strom unablässig Geschichten erzählt. Diese sind es, die ihm Kraft verleihen. Er muss sie erst aufsammeln unterwegs, muss sie aus den vergangenen Jahrhunderten pflücken. Der Mississippi erzählt, wenn man genau hinhört: Er berichtet davon, wie erste Brücken gebaut wurden, Holzfabriken entstanden, Raddampfer auf Grund liefen und mächtige Eisenbahnen die Ufer entlangstrichen. Er weiß, dass nichts konstant ist außer dem ewigen Wandel. Gibt es ein besseres Sinnbild für das, was unser Leben ausmacht, als einen solchen Fluss? Der Mississippi erzählt unentwegt die verrückte und unwahrscheinliche, die brutale und kompromisslose Erfolgsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

„Welcome to Deerwood, Minnesota“ (c) Thomas Bauer

 

»Hör' meine Knarre für die Toten!«

Dass ich wirklich angekommen war im Heartland, dem Herzstück der USA, wurde mir klar, als ich in einem Lokal namens The Chubbies' Pig BBQ landete. Was ich dort vorfand, ist schwer wiederzugeben.

Mir fiel zunächst auf, dass alle anderen Gäste dick waren. Nicht beleibt oder mit Schmerbauch, sondern richtig dick. Ihre Backen hingen herunter, ihre Kinne gingen ansatzlos in den Hals über. Ihre Körper erinnerten an Weinfässer, aus denen Arme und Beine ragten. Trotzdem bewegten sie sich erstaunlich flink. Ich hätte erwartet, dass so ein Gast seine 150 Kilogramm mühsam vom Stuhl wuchten würde, wenn er gehen wollte. Stattdessen stand zum Beispiel das Pärchen an meinem Nachbartisch so jugendlich leicht auf, dass mir der Mund vor Staunen offenblieb. Die Bediensteten – zwei Matronen, die zusammen locker fünf Zentner auf die Waage brachten –, rollten wie Straßenwalzen durch das Restaurant. Ihr Darling und Honey klangen wie Befehle: »Mehr Ketchup, darling!«.

Der von mir aus Unachtsamkeit bestellte Chili Burger hatte mich ansatzlos außer Gefecht gesetzt. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was da auf mich zukam. Auf einem lapprigen Toastbrot waren Pommes frites zu einem Haufen aufgetürmt. Natürlich durchtränkt von einer Mischung aus Ketchup und Mayonnaise. Es folgte ein Hackfleisch- Steak epischen Ausmaßes, von dem ich mit Mühe ein Drittel herunterbekam. Das mochte daran liegen, dass auf dem Fleisch nicht nur vier wirklich scharfe Chili-Schoten lagen, sondern auch richtig viel geschmolzener Käse, der an allen Seiten des Burgers herunterlief. 15 Zentimeter oberhalb der ersten Toastbrotscheibe schloss eine weitere das Ensemble ab. Wahrscheinlich musste das alles einfach soßendurchtränkt sein, damit es sich zu einer einzigen Masse vereinigte und nicht einstürzte. Selbstverständlich wurde mir das alles auf einem Plastikteller serviert. Das war sie also, die typische Kneipe des Heartland. Überhaupt: Käse. Ihrem Leibgericht huldigen die Amerikaner nicht wie die Franzosen, die sich zwischen Hauptgang und Nachtisch eine Auswahl erlesener Weichkäsesorten gönnen. Nein, hierzulande schmelzen sie ihn ohne Gnade, bis er gummiartig wird und man ihn über so ziemlich alles breiten kann, das auf den Tisch kommt: über Burger und Pommes frites natürlich, aber auch über alle Arten von Fleisch und Fisch – Fisch! – und vielleicht sogar über dieses seltsame bunte Zeug, das die Weicheier in Europa so schätzen, dieses: Gemüse.

Auch an weiteren Hinweisen erkannte ich, dass ich jetzt wirklich angekommen war im echten, tiefen Amerika. Auf einmal stand er vor mir. Ich hatte gerade das  Motel verlassen und wollte am Gebäude entlangfahren, um auf den Highway zu kommen, da hob er die Hand und rief: »Hey du, anhalten!«. So konnte ich erkennen, dass er wohl irischer Abstammung war. Dann griff er mit routinierter Selbstverständlichkeit in die rechte Backentasche seiner verwaschenen Jeans und zog eine Pistole hervor.

Das war's also, dachte ich. Jetzt würde mich der Kraftmeier zwingen, ihm das Liegerad zu überlassen. Vielleicht vermutete er Wertvolles in meinem Gepäck oder meinte, die Einzelteile meines Gefährts verkaufen zu können. Wenn es wirklich schlecht lief, schoss er mich auch einfach über den Haufen, um die Sache abzukürzen. Obwohl das wiederum unpraktisch wäre, da er mich in diesem Fall noch aus dem Velo ziehen musste, ehe er an die begehrten Teile gelangen konnte.

Meine Gedanken vollführten solche tollkühnen Bocksprünge, sodass ich kaum mitbekam, was der Bizepsfetischist als Nächstes sagte. Was natürlich auch wieder an seinem Akzent liegen konnte.

»Hear my gun for dead! Real?«, verstand ich.

»Hör' meine Knarre für die Toten!«. Das war offensichtlich eine Drohung, und ich war in seinen Augen praktisch schon Geschichte. Mir war nur nicht klar, warum er mich am Ende fragte, ob das überhaupt wahr sein konnte: real? Ich bat ihn höflich, seine Frage zu wiederholen. Es machte die Sache nur unwesentlich besser.

»Here's my rhum for dad. Feel?«, setzte ich nun aus seinen langgezogenen Vokalen und abgehackten Konsonanten zusammen. »Hier ist mein Rum für Papa. Fühlst du das?«. Was um alles in der Welt mochte das bedeuten?

»Well ...« Ich gab mich unentschlossen, da ich noch immer keinen Schimmer hatte, welche Reaktion von mir erwartet wurde. Ich wusste nicht einmal, ob ich Angst haben sollte oder nicht.

»C'mon«, beharrte der Fitnessfreak. Und erst als er seinen Wunsch ein drittes Mal wiederholte, wurde mir klar, was er mir da anbot.

»Here's my gun for that. Deal?« Er wollte seine Knarre also nicht gegen mich richten, sondern sie eintauschen gegen das Bike, in dem ich saß. Vermutlich wäre das nicht einmal ein schlechtes Geschäft für mich. Trotzdem lehnte ich dankend ab. Ich betonte es so, als ob ich diesen Umstand wirklich bedauerte.

»Bist du sicher?«, hakte er nach. Sein rechter Zeigefinger tastete spielerisch nach dem Abzugshalm der Waffe.

In diesem Moment kam der Rezeptionist um die Ecke. Ich hatte ihn gestern kennengelernt. Bob hieß er, oder Rob, und kam aus Alaska. Vielleicht stimmte das aber auch gar nicht, und er hatte mir nur erklären wollen, dass er einst Polizist gewesen war, Cop, und dass er seine Chefin fragen musste, ob ich mein Velo im Eingangsbereich abstellen durfte: nicht „Alaksa“ also, sondern: I’ll ask her. Ich musste dringend damit beginnen, den hiesigen Dialekt zu entschlüsseln.

Der Ire packte jedenfalls sein ungewöhnliches Tauschobjekt wieder ein.

»Ich bin sicher«, bestätigte ich und fuhr rasch weiter.

Liegerad, USA Heartland (c) Thomas Bauer

 

Rednecks radeln nicht

Von dieser Begegnung abgesehen waren sie letzten Endes gar nicht so schlimm gewesen: die als Rednecks verschrienen Bewohner des Landesinneren zwischen Bemidji und New Orleans. Natürlich gibt es die Trumpfans und die Waffennarren, die Enttäuschten mit ihrem aufbrausenden Temperament und die Erdnüsse mampfenden Trucker. Vor allem aber war ich auf neugierige und gastfreundliche Menschen gestoßen. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich mich besser verstanden gefühlt als im Zentrum der USA.

Rednecks radeln vielleicht nicht. Aber wenn damit die neugierigen und bodenständigen, zuweilen vielleicht etwas unbedarft erscheinenden Typen gemeint sind, die wirklich etwas auf die Beine stellen wollen, und die sich lieber dann und wann eine blutige Nase holen, statt auf irgendein Erlebnis zu verzichten – ja, dann bin ich einer von ihnen.

Sekundärliteratur:

Bauer, Thomas (2018): Rednecks radeln nicht. Meine 3000 Kilometer auf einem Liegerad durch das wahre Amerika. Millemari Verlag, München.

Externe Links:

Website von Thomas Bauer

Eintrag bei Autorinnen und Autoren in Baden-Württemberg

Thomas Bauer in der Wikipedia