[Lidice-Austausch]: Die Geschichte von Lidice in Lidice
Die Dunkelheit war mit einem Mal nicht mehr dieselbe. Schon unterwegs hatte ich das gemerkt. Als ich hinausfuhr aus Prag, war hin und wieder ein Vogel zu hören. Die Andeutungen des nahenden Morgens.
Ich kam über den Autobahnring zum Flughafen und bog von der Hauptstraße ab. Dann noch einmal. Und war da.
Ich parkte nicht weit von den Häusern des heutigen Lidice. Intuitiv. Der Parkplatz bei der Gedenkstätte war gesperrt und verlassen.
Als ich das Auto abschloss, konnte ich meine Fingerkuppen erkennen. Das war vor zwanzig Minuten in Prag noch nicht möglich gewesen.
Morgendämmer.
Das genau war, worauf ich wartete. Ich wollte etwas über Lidice schreiben und der Plan, den ich mir dafür zurechtgelegt hatte, hatte dieses eine frühe Aufstehen fest einberechnet.
Baute geradezu darauf auf.
Er sah folgendermaßen aus: Während der Morgendämmerung führt mich der Zufall zu demjenigen, über den ich dann schreiben werde. In Lidice starben während der nationalsozialistischen Okkupation mehr als dreihundert Menschen. Sämtliche Männer. Sämtliche Jungen. Die meisten Kinder. Die Gemeinde verschwand. Ich wollte über Lidice schreiben, aber dreihundert vierzig Schicksale waren zu viel.
Mir genügte ein einziges.
Ein Schicksal, das für alle anderen spricht. Aber wie findet man es?
Das Schicksal von Lidice war ein Schicksal des Zufalls. Das Dorf verschwand, aber ebenso gut hätte es ein anderes treffen können. Dass Lidice ausradiert wurde, war keine Strafe für etwas, was seine Einwohner getan hatten oder was mit dem Attentat auf Heydrich zusammenhing: Es war ganz banale Wut. Wie wenn ein Rasender die Axt schwingt und blindlings um sich schlägt.
Lidice lag in Reichweite dieser Wut.
Zufällig.
Ich beschloss, mich auf selbem Weg der Sache zu nähern.
Zufall als Methode. Ich hatte mir eine alte Karte von Lidice abgezeichnet. Nun würde ich mit ihr in der Hand über die stillen Wiesen gehen, unter denen das frühere Lidice liegt. Würde jetzt, wo die Nacht endet, aufs Geratewohl losgehen, bis sich ein Licht zeigt, irgendein erster Punkt, den ich sehen kann – er wäre der richtige. Dann würde ich auf die Karte schauen, das nächstgelegene Haus und denjenigen ausfindig machen, der in ihm gewohnt hat.
Das wäre der Richtige. Vielleicht auch die Richtige. Oder die Richtigen.
Schicksal.
Ich würde nach ihren Namen, ihrem Beruf, ihren Verwandten forschen. Hätte eine Geschichte. Bräuchte sie nur noch aufzuschreiben.
Ich nahm den leicht abschüssigen Pfad. Schon konnte man einige Schritte weit sehen. Ich ahnte das verschwundene Dorf; hatte seine Topographie im Kopf. Irgendwo hier gegenüber mussten die Fundamente der Kirche sein.
Der Umriss der Kirche St. Martin, im Hintergrund die Umrisse des früheren Schulhauses
Die Nacht ging zu Ende.
Ein Geräusch.
Das feuchte Gras wich zurück ins Irgendwo und ich schärfte den Blick: ich konnte die Umrisse von etwas erkennen, das ganz offensichtlich nicht hierher gehörte.
Eine Bewegung.
Aus dem Dunkel schälten sich zwei menschliche Beine, ausgestreckt. Und noch welche. Im Gras saßen zwei Menschen und sahen mich überrascht an.
Ein Junge und ein Mädchen.
Ich wandte den Blick zur Seite; zu spät. Unsere Augen begegneten sich. Ich war verärgert. Die zwei hatten hier absolut nichts zu suchen: nein, mich störte nicht etwa, dass sie die Ordnung verletzt hatten, nach der man sich auf dem Gelände der Gedenkstätte mit entsprechender Rücksicht auf die Toten zu benehmen hat. Sie hatten mir vielmehr einen Strich durch mein Drehbuch gemacht, das ich so detailliert im Voraus entworfen hatte: Der Zauber des Augenblicks war zerstört.
Ein blöder Zufall! Gab es für ihre Liebesspielchen denn keinen anderen Ort, oder wenigstens eine andere Tageszeit?
Liebende handeln unüberlegt, versuchte ich mich zu beruhigen: so viele Zufälle, so viel Unglück sind blinder Liebe geschuldet. War nicht einer der Gründe für die Vernichtung von Lidice ein Liebesbrief, der in die Hände der Gestapo gelangte?
Natürlich, ein geheuchelter Grund.
Aber Lidice ist trotzdem verschwunden.
Nichtexistente Gründe zeitigen bisweilen die schrecklichsten Folgen.
Ich machte kehrt.
Ich ging den Pfad zurück und bog ab Richtung Friedhof. Seine Mauern zeichneten sich inzwischen schon deutlich ab: die Vögel waren erwacht und taten ihre Anwesenheit lauthals kund. Ein Stück weiter – wohl im neuen Lidice – startete ein Motor.
Ich hatte den Friedhof erreicht, mein Ziel aber nicht, zu dem mir der Zufall verhelfen sollte. Ein anderer Zufall hatte mir das verwehrt.
Hm.
Zurück wollte ich nicht auf demselben Weg; ich würde ihnen ein weiteres Mal begegnen, würde ein weiteres Mal ihren Blick spüren. Und sie den meinen. Also machte ich einen ziemlich verrückten Umweg. Ging mindestens noch einen Kilometer voran und schlug von der anderen Seite einen Bogen zurück.
Trotzdem fanden sie mich.
Sie standen bei meinem Auto, der junge Mann hatte eine Decke unterm Arm und seine Freundin schaute zur Seite.
„Wir möchte uns entschuldigen“, sagte er.
Er sah mich an: vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Jahre, vielleicht etwas älter. Trainingsanzug von Klimatex. Halstuch. Eindeutig nicht von Klimatex. Aber seine Freundin war in der Tat bildschön: dunkles Haar, dunkle Augen, und erstaunlicherweise trug sie Pumps. Ihre Kleidung harmonierte nicht im Geringsten mit der ihres Freundes.
Ich schwieg.
„Wir haben da nicht gemacht, was Sie denken“, fuhr er fort.
Ich zuckte mit den Achseln: es war mir egal.
„Wir sind absichtlich hierher gekommen: wir wollten ungestört sein… nachdenken. Erst dann wollten wir ins Museum“, erklärte er.
Ich sagte nichts. Das neue Lidice erwachte. Die Leute fuhren zur Arbeit, kümmerten sich um das Vieh. Dennoch herrschte hier größere Stille, als man erwartet hätte. Offenbar dämpften die großen Bäume der Allee mitten im Dorf die Geräusche.
„Meine Freundin…“, sagte der Junge.
Sie lächelte und gab mir die Hand. Sagte „Lidice“.
Ich dachte mir, sie stelle nur sicher, dass sie wisse, wo wir uns befinden.
Mehr sagte sie nicht.
„Meine Freundin kann kein Tschechisch.“
Die Finger in meiner Hosentasche legten sich um die Autoschlüssel. Öffneten sich und ließen sie wieder aus. Die Schlüssel fielen auf den Stoff am Grund.
Noch immer konnte ich meinen Ärger nicht verbergen.
Ich wusste nicht, was sie von mir wollten.
Ich sah auf die Hand, die eben die Schlüssel hatte fallen lassen.
„Wir möchten Sie etwas fragen.“
Ich nickte.
„Wir würden gern wissen, warum Sie hier sind“, sagte der junge Mann.
Nicht zu fassen! Ich spürte, dass ich auf dem Absatz kehrt machen und fahren sollte. Um fünf, sechs Uhr morgens zu erklären, warum ich nach Lidice gekommen war, und noch dazu denjenigen, die den Sinn meines Unterfangens völlig verkehrt hatten, das war zu viel!
Aber das Mädchen war wirklich bildschön.
Die Finger in der Tasche ließen die Schlüssel klirren. Das hätte ich mir sparen können. Eine unhöfliche, ungeduldige Geste.
„Und warum sind Sie hier?“ fragte ich.
Der junge Mann blickte hinüber zu seinem Mädchen.
Er sagte etwas auf Spanisch.
Und dann sie. Ich hörte nur: „…bien…“ und „…historia verdadera…“
Ich seufzte, winkte mit der Hand und steuerte auf eine Bank in der Nähe zu. Wenn man zu dieser sinnlosen Tageszeit schon eine ganze Stunde Schlaf einbüßt, sind weitere zehn Minuten nicht der Rede wert. Und ich wurde auch neugierig. Es stellte sich heraus, dass die Spanisch sprechende Freundin des jungen Mannes aus Argentinien war. Gekommen, um nach dem Ursprung ihres Namens zu forschen.
Lidice!
Ich wusste, dass viele Frauen in spanischsprachigen Ländern den Namen Lidice als Erinnerung an die Tragödie tragen. Ich wusste, dass der Name im Spanischen besonders schön klingt. Eine der Opernsägerinnen in der argentinischen Hauptstadt heißt Lidice Róbinson. Sie stammt aus Ecuador.
Das Mädchen mit den Pumps hieß Lidice, nach der Mutter. Aber sie wusste eigentlich nicht warum. Ihre Eltern hatten es ihr nicht gesagt, können es nicht mehr sagen. Sie sind tot. Ein Autounfall. Ein Zufall. Der Junge erzählte: Lidice war damals nach dem Tod ihrer Eltern verzweifelt. Warum gerade sie? Ein ganz banaler Autounfall, die Eltern waren in ihrem Kleinwagen auf dem Weg aus der Stadt, als ein Laster in sie hineinprallte. „Dann hat sie durch Zufall von Lidice in Böhmen erfahren und sich gefragt, ob es da einen Zusammenhang geben könnte mit dem Namen ihrer Mutter und ihrem eigenen Namen. Sie hat jemanden hier gesucht, der Spanisch spricht. So haben wir uns kennen gelernt.“
„Ein glücklicher Zufall, dass sie Ihnen geantwortet hat“, sagte ich ermunternd.
Wir saßen auf der Bank, die Sonne war schon aufgegangen und von der nahen Straße drang der Lärm des dichter werdenden Verkehrs herüber. Ich hatte ihnen Unrecht getan. Hatte begriffen, dass sie in dieser Nacht für sich sein wollten. Lidice war womöglich mit Fragen hierher gekommen, auf die es normalerweise keine Antworten gibt.
Ähnliche Fragen freilich, wie sie sich diejenigen aus Lidice gestellt haben, die den Krieg überlebt hatten.
Ich blickte ins Unbestimmte übers Tal, nach dort oben, wo früher Lidice war. Lidice blickte mich an. Der junge Mann sah auf die Erde, in der die Leiber der Ermordeten aus Lidice versunken waren. Es war die Begegnung von Menschen, die eine Verkettung von Umständen nach Lidice geführt hatte, das wiederum durch eine Verkettung anderer Umstände niedergebrannt worden war. Und diese drei Menschen kamen eben hier auf Grund einer gewissen Verkettung von Umständen ins Gespräch.
Das ist alles.
Ich erzählte, dass ich etwas über Lidice schreiben wollte. Erklärte, wie ich den Zufall in meine Planungen einbezogen hatte und warum. Dass ich nur eine einzige Geschichte aus Lidice erzählen wollte. Aber keine selbst gewählte. Eine, die mir in den Schoß fallen würde, auf Grund einer gewissermaßen vorausgeplanten Verkettung von Umständen. Also durch Zufall.
Da hatte ich noch nicht geahnt, dass ein Zufall den anderen völlig auf den Kopf stellen kann.
Dass der Zufall ganz unabhängig von uns existiert.
Der junge Mann hörte zu.
Er übersetze ins Spanische und Lidice nickte. Die Füße in den Pumps waren übereinander geschlagen.
Ich erzählte die Geschichte von der Frau aus Lidice, die im Konzentrationslager umkam. Die Geschichte des Mannes, den man vor der Mauer im Hof der Horáks erschossen hatte. Von der Geschichte des Kindes, das man nach Polen verschleppt und vergast hatte. Von der Geschichte eines anderen Kindes, das man auch nach Polen verschleppt hatte, das dem Gas aber knapp entronnen war.
Zwischen beiden Kindern bestand anfangs kein Unterschied. Erst am Schluss.
Schicksal?
Der Junge stutzte. Er konnte das Wort Schicksal nicht übersetzen.
Ich versuchte, die Gefühle der Frau zu erklären, die damals als Kind der Vergasung entkommen war. Später gestand sie, wie unwohl sie sich manchmal vor den anderen Lidicer Frauen gefühlt hatte, die nach dem Krieg aus dem Konzentrationslager zurückkehrten und vergeblich auf ihre Kinder warteten. Wie sie in ihren Augen die Frage fühlte: Warum ist das Kind dort zurückgekommen und meines nicht?
Schicksal?
Zufall?
Zufall kann für den einen Glück heißen, für die übrigen aus Lidice aber hieß derselbe Zufall Tragödie. Der Zufall in Polen damals während des Kriegs sah angeblich so aus: er kam als Offizier in Schaftstiefeln daher, in Reiterstiefeln und schnippte mit seiner Peitsche gegen das Leder. Mit eben dieser Peitsche zeigte er auf die Kinder, die er in Augenschein nahm. Die, die er auswählte, überlebten. Die übrigen gingen ins Gas.
Sieben von achtundachtzig hat er gewählt.
Ist Zufall dasselbe wie Schicksal?
Der junge Mann – er hatte sich mir inzwischen als Pavel vorgestellt – übersetzte für Lidice. Sie streckte ihre schönen Beine, die Füße in den Pumps, vor sich aus.
„Casualidad“, sagte sie. Zufall.
Nickte mit dem Kopf. Aber unklar blieb, welchen Zufall sie meinte; die zufällige Auswahl der Kinder, den zufälligen Tod ihrer Eltern, die Begegnung mit Pavel, die Begegnung mit mir, die zufällige Auslöschung von Lidice, die im Grunde am Anfang dieser ganzen Kette von Zufällen stand.
Ohne diesen ersten Zufall hätte es keinen der weiteren gegeben.
Ich deutete etwas in diesem Sinn an.
Pavel schwieg.
Es war ihm anzusehen, dass er anderer Meinung war.
Und er dachte ganz offensichtlich nach, wie er es sagen sollte. „Ich glaube nicht, dass schlichtweg alles einfach nur ein einziger großer Zufall ist, wie Sie uns das hier erzählen“, sagte er.
Er sah auf Lidices Pumps. Um sich Mut zu machen. Wahrscheinlich.
„Ich habe über Lidice nachgelesen und weiß, die Nazis sind genau umgekehrt vorgegangen, haben nichts einfach dem Zufall überlassen.“
Er führte das bekannte Beispiel der beiden Jungen an, die man nachträglich hingerichtet hatte; dem Massaker vor der Horákschen Scheunenmauer, bei dem alle Männer aus Lidice erschossen wurden, waren sie zunächst entgangen. Der Befehl hatte gelautet: alle männlichen Einwohner, die älter als fünfzehn sind, liquidieren. Die beiden hatten erst vor ein paar Monaten Geburtstag gehabt. Die gründlichen Nazis stellten das fest und holten die Hinrichtung nach. Lediglich ein Zufall hätte sie retten können. Aber sie sind nicht gerettet worden. „Denn es gab keinen Zufall. Nur einen Plan“, wandte Pavel ein.
Umrisse von Horáks Hof
Und er vergaß für Lidice zu übersetzen.
Lidice sah hinunter ins Tal, wo der neue Lidicer Weiher lag. Angeblich hatten die Pferde, die man dort vor ein paar Jahren in die Schwemme treiben wollte, gescheut. Hatten sich geweigert weiterzugehen.
Pavel war jung, er wollte Recht haben, aber ich wusste: er hatte nicht Recht.
„Es gab auch einen anderen Fall“, sagte ich: „Ein Vater hat seinen Sohn mitgenommen, als man sie alle abgeführt hat. Er wusste natürlich nicht, wohin sie gingen. Der Sohn war noch gar nicht fünfzehn, es war eine kinderreiche Familie, er wollte seiner Frau die Situation erleichtern. Und in bester Absicht nahm er den Sohn mit sich, beide wurden erschossen. Obwohl der Sohn noch nicht fünfzehn war.“
Sollte ein Plan existiert haben, hat man ihn offensichtlich nicht in jedem Detail befolgt. Ein ironischer Gedanke, der mir kam.
Und den ich verschwieg.
Es war Zufall. Casualidad.
Und noch etwas sagte ich Pavel nicht: wenn alle diese Menschen nicht gestorben wären, hätte er das Mädchen nicht neben sich. Sie hätte ganz einfach einen anderen Namen und wäre woanders hingefahren.
Der Morgen war fortgeschritten. Das neue Lidice hatte sich geleert, die Leute waren zur Arbeit gefahren. Meist wohl nach Prag. Dafür kehrte Leben in die Gedenkstätte ein. Auf der Wiese, die das verschwundene Lidice deckt, zeigten sich erste Touristen. Lenkten ihre Schritte zum Rosengarten.
Auf dem Parkplatz erschien sogar ein ganzer Bus.
Gesprächsfetzen wehten zu uns herüber: die Führerin erzählte, wie es nach dem Krieg gelungen war, einige der Kinder ausfindig zu machen, die man zur „Umerziehung“ in deutsche Familien gegeben hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sich nämlich das letzte Klassenfoto aus Lidice erhalten. Eigentlich nur das Negativ. Nach dem Krieg machte man einen Abzug, auf dem sich einige Kinder erkannten.
„Zufall“, sagte die Führerin.
Die Touristen nickten.
Ich lächelte.
Tastete in der Tasche nach meinen Schlüsseln.
Es war an der Zeit.
„Ich muss gehen.“
Wir wollten uns noch einmal treffen. Es sei interessant gewesen für sie, Lidice würde sich freuen, wenn ich in meine Erzählung von Lidice auch die Geschichte ihrer Mutter aufnehmen würde.
„Por favor…“, sagte sie. Und lächelte.
Ich nickte zerstreut. Die Geschichte von Lidice in Lidice – das könnte interessant sein.
Ja.
Ich hatte keine Visitenkarte dabei.
Pavel schrieb mir seine Kontaktdaten also auf einen kleinen Zettel.
Seine und die von Lidice.
„Hasta la vista!“ sagte Lidice.
Ich steckte den Zettel in die Hosentasche.
Normalerweise übertrage ich alle Adressen ordentlich in mein Verzeichnis.
Dieses Mal tat ich es nicht.
Die Hose landete in der Waschmaschine und als sie getrocknet war, fand ich ein Papierchen mit zerlaufenen, unleserlichen Buchstaben.
Noch nie war mir so was passiert.
Zufall.
Casualidad.
Wenn ich über Lidice schreibe, werde ich mich also mit dem ursprünglich geplanten Zufall begnügen müssen. Mich ein zweites Mal auf den Weg machen und früh aufstehen müssen.
Ich stehe ungern auf.
[Aus dem Tschechischen übersetzt von Kristina Kallert]
Ludĕk Navara, geboren 1964, arbeitet als Fernseh-Journalist und Redakteur bei der großen tschechischen Tageszeitung „Mladá Fronta DNES“. Er hat sich intensiv mit der Geschichte des Eisernen Vorhangs beschäftigt. Seine Bücher „Der Tod heißt Tutter“ (2005) über einen Nazimörder im Dienst der Staatssicherheit der CSSR und „Vorfälle am Eisernen Vorhang“ (2006) sind bereits auf Deutsch erschienen. Navara lebt in Brünn.
[Lidice-Austausch]: Die Geschichte von Lidice in Lidice>
Die Dunkelheit war mit einem Mal nicht mehr dieselbe. Schon unterwegs hatte ich das gemerkt. Als ich hinausfuhr aus Prag, war hin und wieder ein Vogel zu hören. Die Andeutungen des nahenden Morgens.
Ich kam über den Autobahnring zum Flughafen und bog von der Hauptstraße ab. Dann noch einmal. Und war da.
Ich parkte nicht weit von den Häusern des heutigen Lidice. Intuitiv. Der Parkplatz bei der Gedenkstätte war gesperrt und verlassen.
Als ich das Auto abschloss, konnte ich meine Fingerkuppen erkennen. Das war vor zwanzig Minuten in Prag noch nicht möglich gewesen.
Morgendämmer.
Das genau war, worauf ich wartete. Ich wollte etwas über Lidice schreiben und der Plan, den ich mir dafür zurechtgelegt hatte, hatte dieses eine frühe Aufstehen fest einberechnet.
Baute geradezu darauf auf.
Er sah folgendermaßen aus: Während der Morgendämmerung führt mich der Zufall zu demjenigen, über den ich dann schreiben werde. In Lidice starben während der nationalsozialistischen Okkupation mehr als dreihundert Menschen. Sämtliche Männer. Sämtliche Jungen. Die meisten Kinder. Die Gemeinde verschwand. Ich wollte über Lidice schreiben, aber dreihundert vierzig Schicksale waren zu viel.
Mir genügte ein einziges.
Ein Schicksal, das für alle anderen spricht. Aber wie findet man es?
Das Schicksal von Lidice war ein Schicksal des Zufalls. Das Dorf verschwand, aber ebenso gut hätte es ein anderes treffen können. Dass Lidice ausradiert wurde, war keine Strafe für etwas, was seine Einwohner getan hatten oder was mit dem Attentat auf Heydrich zusammenhing: Es war ganz banale Wut. Wie wenn ein Rasender die Axt schwingt und blindlings um sich schlägt.
Lidice lag in Reichweite dieser Wut.
Zufällig.
Ich beschloss, mich auf selbem Weg der Sache zu nähern.
Zufall als Methode. Ich hatte mir eine alte Karte von Lidice abgezeichnet. Nun würde ich mit ihr in der Hand über die stillen Wiesen gehen, unter denen das frühere Lidice liegt. Würde jetzt, wo die Nacht endet, aufs Geratewohl losgehen, bis sich ein Licht zeigt, irgendein erster Punkt, den ich sehen kann – er wäre der richtige. Dann würde ich auf die Karte schauen, das nächstgelegene Haus und denjenigen ausfindig machen, der in ihm gewohnt hat.
Das wäre der Richtige. Vielleicht auch die Richtige. Oder die Richtigen.
Schicksal.
Ich würde nach ihren Namen, ihrem Beruf, ihren Verwandten forschen. Hätte eine Geschichte. Bräuchte sie nur noch aufzuschreiben.
Ich nahm den leicht abschüssigen Pfad. Schon konnte man einige Schritte weit sehen. Ich ahnte das verschwundene Dorf; hatte seine Topographie im Kopf. Irgendwo hier gegenüber mussten die Fundamente der Kirche sein.
Der Umriss der Kirche St. Martin, im Hintergrund die Umrisse des früheren Schulhauses
Die Nacht ging zu Ende.
Ein Geräusch.
Das feuchte Gras wich zurück ins Irgendwo und ich schärfte den Blick: ich konnte die Umrisse von etwas erkennen, das ganz offensichtlich nicht hierher gehörte.
Eine Bewegung.
Aus dem Dunkel schälten sich zwei menschliche Beine, ausgestreckt. Und noch welche. Im Gras saßen zwei Menschen und sahen mich überrascht an.
Ein Junge und ein Mädchen.
Ich wandte den Blick zur Seite; zu spät. Unsere Augen begegneten sich. Ich war verärgert. Die zwei hatten hier absolut nichts zu suchen: nein, mich störte nicht etwa, dass sie die Ordnung verletzt hatten, nach der man sich auf dem Gelände der Gedenkstätte mit entsprechender Rücksicht auf die Toten zu benehmen hat. Sie hatten mir vielmehr einen Strich durch mein Drehbuch gemacht, das ich so detailliert im Voraus entworfen hatte: Der Zauber des Augenblicks war zerstört.
Ein blöder Zufall! Gab es für ihre Liebesspielchen denn keinen anderen Ort, oder wenigstens eine andere Tageszeit?
Liebende handeln unüberlegt, versuchte ich mich zu beruhigen: so viele Zufälle, so viel Unglück sind blinder Liebe geschuldet. War nicht einer der Gründe für die Vernichtung von Lidice ein Liebesbrief, der in die Hände der Gestapo gelangte?
Natürlich, ein geheuchelter Grund.
Aber Lidice ist trotzdem verschwunden.
Nichtexistente Gründe zeitigen bisweilen die schrecklichsten Folgen.
Ich machte kehrt.
Ich ging den Pfad zurück und bog ab Richtung Friedhof. Seine Mauern zeichneten sich inzwischen schon deutlich ab: die Vögel waren erwacht und taten ihre Anwesenheit lauthals kund. Ein Stück weiter – wohl im neuen Lidice – startete ein Motor.
Ich hatte den Friedhof erreicht, mein Ziel aber nicht, zu dem mir der Zufall verhelfen sollte. Ein anderer Zufall hatte mir das verwehrt.
Hm.
Zurück wollte ich nicht auf demselben Weg; ich würde ihnen ein weiteres Mal begegnen, würde ein weiteres Mal ihren Blick spüren. Und sie den meinen. Also machte ich einen ziemlich verrückten Umweg. Ging mindestens noch einen Kilometer voran und schlug von der anderen Seite einen Bogen zurück.
Trotzdem fanden sie mich.
Sie standen bei meinem Auto, der junge Mann hatte eine Decke unterm Arm und seine Freundin schaute zur Seite.
„Wir möchte uns entschuldigen“, sagte er.
Er sah mich an: vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Jahre, vielleicht etwas älter. Trainingsanzug von Klimatex. Halstuch. Eindeutig nicht von Klimatex. Aber seine Freundin war in der Tat bildschön: dunkles Haar, dunkle Augen, und erstaunlicherweise trug sie Pumps. Ihre Kleidung harmonierte nicht im Geringsten mit der ihres Freundes.
Ich schwieg.
„Wir haben da nicht gemacht, was Sie denken“, fuhr er fort.
Ich zuckte mit den Achseln: es war mir egal.
„Wir sind absichtlich hierher gekommen: wir wollten ungestört sein… nachdenken. Erst dann wollten wir ins Museum“, erklärte er.
Ich sagte nichts. Das neue Lidice erwachte. Die Leute fuhren zur Arbeit, kümmerten sich um das Vieh. Dennoch herrschte hier größere Stille, als man erwartet hätte. Offenbar dämpften die großen Bäume der Allee mitten im Dorf die Geräusche.
„Meine Freundin…“, sagte der Junge.
Sie lächelte und gab mir die Hand. Sagte „Lidice“.
Ich dachte mir, sie stelle nur sicher, dass sie wisse, wo wir uns befinden.
Mehr sagte sie nicht.
„Meine Freundin kann kein Tschechisch.“
Die Finger in meiner Hosentasche legten sich um die Autoschlüssel. Öffneten sich und ließen sie wieder aus. Die Schlüssel fielen auf den Stoff am Grund.
Noch immer konnte ich meinen Ärger nicht verbergen.
Ich wusste nicht, was sie von mir wollten.
Ich sah auf die Hand, die eben die Schlüssel hatte fallen lassen.
„Wir möchten Sie etwas fragen.“
Ich nickte.
„Wir würden gern wissen, warum Sie hier sind“, sagte der junge Mann.
Nicht zu fassen! Ich spürte, dass ich auf dem Absatz kehrt machen und fahren sollte. Um fünf, sechs Uhr morgens zu erklären, warum ich nach Lidice gekommen war, und noch dazu denjenigen, die den Sinn meines Unterfangens völlig verkehrt hatten, das war zu viel!
Aber das Mädchen war wirklich bildschön.
Die Finger in der Tasche ließen die Schlüssel klirren. Das hätte ich mir sparen können. Eine unhöfliche, ungeduldige Geste.
„Und warum sind Sie hier?“ fragte ich.
Der junge Mann blickte hinüber zu seinem Mädchen.
Er sagte etwas auf Spanisch.
Und dann sie. Ich hörte nur: „…bien…“ und „…historia verdadera…“
Ich seufzte, winkte mit der Hand und steuerte auf eine Bank in der Nähe zu. Wenn man zu dieser sinnlosen Tageszeit schon eine ganze Stunde Schlaf einbüßt, sind weitere zehn Minuten nicht der Rede wert. Und ich wurde auch neugierig. Es stellte sich heraus, dass die Spanisch sprechende Freundin des jungen Mannes aus Argentinien war. Gekommen, um nach dem Ursprung ihres Namens zu forschen.
Lidice!
Ich wusste, dass viele Frauen in spanischsprachigen Ländern den Namen Lidice als Erinnerung an die Tragödie tragen. Ich wusste, dass der Name im Spanischen besonders schön klingt. Eine der Opernsägerinnen in der argentinischen Hauptstadt heißt Lidice Róbinson. Sie stammt aus Ecuador.
Das Mädchen mit den Pumps hieß Lidice, nach der Mutter. Aber sie wusste eigentlich nicht warum. Ihre Eltern hatten es ihr nicht gesagt, können es nicht mehr sagen. Sie sind tot. Ein Autounfall. Ein Zufall. Der Junge erzählte: Lidice war damals nach dem Tod ihrer Eltern verzweifelt. Warum gerade sie? Ein ganz banaler Autounfall, die Eltern waren in ihrem Kleinwagen auf dem Weg aus der Stadt, als ein Laster in sie hineinprallte. „Dann hat sie durch Zufall von Lidice in Böhmen erfahren und sich gefragt, ob es da einen Zusammenhang geben könnte mit dem Namen ihrer Mutter und ihrem eigenen Namen. Sie hat jemanden hier gesucht, der Spanisch spricht. So haben wir uns kennen gelernt.“
„Ein glücklicher Zufall, dass sie Ihnen geantwortet hat“, sagte ich ermunternd.
Wir saßen auf der Bank, die Sonne war schon aufgegangen und von der nahen Straße drang der Lärm des dichter werdenden Verkehrs herüber. Ich hatte ihnen Unrecht getan. Hatte begriffen, dass sie in dieser Nacht für sich sein wollten. Lidice war womöglich mit Fragen hierher gekommen, auf die es normalerweise keine Antworten gibt.
Ähnliche Fragen freilich, wie sie sich diejenigen aus Lidice gestellt haben, die den Krieg überlebt hatten.
Ich blickte ins Unbestimmte übers Tal, nach dort oben, wo früher Lidice war. Lidice blickte mich an. Der junge Mann sah auf die Erde, in der die Leiber der Ermordeten aus Lidice versunken waren. Es war die Begegnung von Menschen, die eine Verkettung von Umständen nach Lidice geführt hatte, das wiederum durch eine Verkettung anderer Umstände niedergebrannt worden war. Und diese drei Menschen kamen eben hier auf Grund einer gewissen Verkettung von Umständen ins Gespräch.
Das ist alles.
Ich erzählte, dass ich etwas über Lidice schreiben wollte. Erklärte, wie ich den Zufall in meine Planungen einbezogen hatte und warum. Dass ich nur eine einzige Geschichte aus Lidice erzählen wollte. Aber keine selbst gewählte. Eine, die mir in den Schoß fallen würde, auf Grund einer gewissermaßen vorausgeplanten Verkettung von Umständen. Also durch Zufall.
Da hatte ich noch nicht geahnt, dass ein Zufall den anderen völlig auf den Kopf stellen kann.
Dass der Zufall ganz unabhängig von uns existiert.
Der junge Mann hörte zu.
Er übersetze ins Spanische und Lidice nickte. Die Füße in den Pumps waren übereinander geschlagen.
Ich erzählte die Geschichte von der Frau aus Lidice, die im Konzentrationslager umkam. Die Geschichte des Mannes, den man vor der Mauer im Hof der Horáks erschossen hatte. Von der Geschichte des Kindes, das man nach Polen verschleppt und vergast hatte. Von der Geschichte eines anderen Kindes, das man auch nach Polen verschleppt hatte, das dem Gas aber knapp entronnen war.
Zwischen beiden Kindern bestand anfangs kein Unterschied. Erst am Schluss.
Schicksal?
Der Junge stutzte. Er konnte das Wort Schicksal nicht übersetzen.
Ich versuchte, die Gefühle der Frau zu erklären, die damals als Kind der Vergasung entkommen war. Später gestand sie, wie unwohl sie sich manchmal vor den anderen Lidicer Frauen gefühlt hatte, die nach dem Krieg aus dem Konzentrationslager zurückkehrten und vergeblich auf ihre Kinder warteten. Wie sie in ihren Augen die Frage fühlte: Warum ist das Kind dort zurückgekommen und meines nicht?
Schicksal?
Zufall?
Zufall kann für den einen Glück heißen, für die übrigen aus Lidice aber hieß derselbe Zufall Tragödie. Der Zufall in Polen damals während des Kriegs sah angeblich so aus: er kam als Offizier in Schaftstiefeln daher, in Reiterstiefeln und schnippte mit seiner Peitsche gegen das Leder. Mit eben dieser Peitsche zeigte er auf die Kinder, die er in Augenschein nahm. Die, die er auswählte, überlebten. Die übrigen gingen ins Gas.
Sieben von achtundachtzig hat er gewählt.
Ist Zufall dasselbe wie Schicksal?
Der junge Mann – er hatte sich mir inzwischen als Pavel vorgestellt – übersetzte für Lidice. Sie streckte ihre schönen Beine, die Füße in den Pumps, vor sich aus.
„Casualidad“, sagte sie. Zufall.
Nickte mit dem Kopf. Aber unklar blieb, welchen Zufall sie meinte; die zufällige Auswahl der Kinder, den zufälligen Tod ihrer Eltern, die Begegnung mit Pavel, die Begegnung mit mir, die zufällige Auslöschung von Lidice, die im Grunde am Anfang dieser ganzen Kette von Zufällen stand.
Ohne diesen ersten Zufall hätte es keinen der weiteren gegeben.
Ich deutete etwas in diesem Sinn an.
Pavel schwieg.
Es war ihm anzusehen, dass er anderer Meinung war.
Und er dachte ganz offensichtlich nach, wie er es sagen sollte. „Ich glaube nicht, dass schlichtweg alles einfach nur ein einziger großer Zufall ist, wie Sie uns das hier erzählen“, sagte er.
Er sah auf Lidices Pumps. Um sich Mut zu machen. Wahrscheinlich.
„Ich habe über Lidice nachgelesen und weiß, die Nazis sind genau umgekehrt vorgegangen, haben nichts einfach dem Zufall überlassen.“
Er führte das bekannte Beispiel der beiden Jungen an, die man nachträglich hingerichtet hatte; dem Massaker vor der Horákschen Scheunenmauer, bei dem alle Männer aus Lidice erschossen wurden, waren sie zunächst entgangen. Der Befehl hatte gelautet: alle männlichen Einwohner, die älter als fünfzehn sind, liquidieren. Die beiden hatten erst vor ein paar Monaten Geburtstag gehabt. Die gründlichen Nazis stellten das fest und holten die Hinrichtung nach. Lediglich ein Zufall hätte sie retten können. Aber sie sind nicht gerettet worden. „Denn es gab keinen Zufall. Nur einen Plan“, wandte Pavel ein.
Umrisse von Horáks Hof
Und er vergaß für Lidice zu übersetzen.
Lidice sah hinunter ins Tal, wo der neue Lidicer Weiher lag. Angeblich hatten die Pferde, die man dort vor ein paar Jahren in die Schwemme treiben wollte, gescheut. Hatten sich geweigert weiterzugehen.
Pavel war jung, er wollte Recht haben, aber ich wusste: er hatte nicht Recht.
„Es gab auch einen anderen Fall“, sagte ich: „Ein Vater hat seinen Sohn mitgenommen, als man sie alle abgeführt hat. Er wusste natürlich nicht, wohin sie gingen. Der Sohn war noch gar nicht fünfzehn, es war eine kinderreiche Familie, er wollte seiner Frau die Situation erleichtern. Und in bester Absicht nahm er den Sohn mit sich, beide wurden erschossen. Obwohl der Sohn noch nicht fünfzehn war.“
Sollte ein Plan existiert haben, hat man ihn offensichtlich nicht in jedem Detail befolgt. Ein ironischer Gedanke, der mir kam.
Und den ich verschwieg.
Es war Zufall. Casualidad.
Und noch etwas sagte ich Pavel nicht: wenn alle diese Menschen nicht gestorben wären, hätte er das Mädchen nicht neben sich. Sie hätte ganz einfach einen anderen Namen und wäre woanders hingefahren.
Der Morgen war fortgeschritten. Das neue Lidice hatte sich geleert, die Leute waren zur Arbeit gefahren. Meist wohl nach Prag. Dafür kehrte Leben in die Gedenkstätte ein. Auf der Wiese, die das verschwundene Lidice deckt, zeigten sich erste Touristen. Lenkten ihre Schritte zum Rosengarten.
Auf dem Parkplatz erschien sogar ein ganzer Bus.
Gesprächsfetzen wehten zu uns herüber: die Führerin erzählte, wie es nach dem Krieg gelungen war, einige der Kinder ausfindig zu machen, die man zur „Umerziehung“ in deutsche Familien gegeben hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sich nämlich das letzte Klassenfoto aus Lidice erhalten. Eigentlich nur das Negativ. Nach dem Krieg machte man einen Abzug, auf dem sich einige Kinder erkannten.
„Zufall“, sagte die Führerin.
Die Touristen nickten.
Ich lächelte.
Tastete in der Tasche nach meinen Schlüsseln.
Es war an der Zeit.
„Ich muss gehen.“
Wir wollten uns noch einmal treffen. Es sei interessant gewesen für sie, Lidice würde sich freuen, wenn ich in meine Erzählung von Lidice auch die Geschichte ihrer Mutter aufnehmen würde.
„Por favor…“, sagte sie. Und lächelte.
Ich nickte zerstreut. Die Geschichte von Lidice in Lidice – das könnte interessant sein.
Ja.
Ich hatte keine Visitenkarte dabei.
Pavel schrieb mir seine Kontaktdaten also auf einen kleinen Zettel.
Seine und die von Lidice.
„Hasta la vista!“ sagte Lidice.
Ich steckte den Zettel in die Hosentasche.
Normalerweise übertrage ich alle Adressen ordentlich in mein Verzeichnis.
Dieses Mal tat ich es nicht.
Die Hose landete in der Waschmaschine und als sie getrocknet war, fand ich ein Papierchen mit zerlaufenen, unleserlichen Buchstaben.
Noch nie war mir so was passiert.
Zufall.
Casualidad.
Wenn ich über Lidice schreibe, werde ich mich also mit dem ursprünglich geplanten Zufall begnügen müssen. Mich ein zweites Mal auf den Weg machen und früh aufstehen müssen.
Ich stehe ungern auf.
[Aus dem Tschechischen übersetzt von Kristina Kallert]
Ludĕk Navara, geboren 1964, arbeitet als Fernseh-Journalist und Redakteur bei der großen tschechischen Tageszeitung „Mladá Fronta DNES“. Er hat sich intensiv mit der Geschichte des Eisernen Vorhangs beschäftigt. Seine Bücher „Der Tod heißt Tutter“ (2005) über einen Nazimörder im Dienst der Staatssicherheit der CSSR und „Vorfälle am Eisernen Vorhang“ (2006) sind bereits auf Deutsch erschienen. Navara lebt in Brünn.