„... nahmen tickets für Weiden.“ Zum 200. Geburtstag von Karl Marx
Vor genau 200 Jahren, am 5. Mai 1818, wurde der Philosoph, Journalist und geistige Vater des Sozialismus Karl Marx (1818-1883) in Trier geboren. Mit seinem philosophisch-ökonomischen Hauptwerk Das Kapital (1867ff., zus. mit Friedrich Engels) gehört er zu den einflussreichsten Gesellschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts. Seine Thesen werden bis heute kontrovers diskutiert. Über seine Zeit in Bayern ist hingegen recht wenig bekannt. Anlass genug für Bernhard M. Baron, den bayerischen Verflechtungen dieses wohl schärfsten Kritikers des Kapitalismus nachzuspüren.
*
Karl Marx war unstrittig einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler, Wirtschaftshistoriker und Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, dazu ein brillanter Publizist (Klaus Körner). Die Rolle als „Heilsbringer der Weltgeschichte“ erhielt er erst posthum und verlor sie 100 Jahre nach seinem Tod auch wieder. Einmal hat Karl Marx eine persönliche Reiseroute (1876) durch Bayern geführt – nach Nürnberg, aber auch nach Weiden.
Mit einer Versammlung am 14. August 1897 tritt die Sozialdemokratische Partei in Weiden erstmals an eine größere Öffentlichkeit. Ort der Zusammenkunft ist das traditionsreiche Gasthaus Zum Schwan, die sog. „Grabenschänke“, gelegen am einstigen Wallgraben der Weidener Stadtbefestigung. Den Anwesenden ist nicht bekannt, dass exakt 21 Jahre vorher – am 14. August 1876 – Karl Marx in Weiden weilt und sogar im gleichen Gasthaus übernachten will. Wiederum neun Jahre vorher, am 9./10. August 1867, erlebt Weiden bereits einen anderen prominenten Gastaufenthalt. In der gleichen „Grabenschänke“ steigt der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) mit seinem Kollegenfreund, dem Altphilologen Erwin Rohde (1845-1898), auf seiner Ferienreise in den Böhmerwald ab.
Karl Marx, seit 1849 in London sozialengagierter Journalist, Rechtsanwalt und Philosoph, wird im Alter von einem Galle-Leber-Leiden geplagt und fährt seit 1874 zur Kur ins böhmische Karlsbad. In einem Brief an seinen Freund Friedrich Engels vom 19. August 1876, geschrieben aus dem Hotel „Germania“ am Schlossberg 11 (heute: Zámecký vrch 41), schildert er, freundschaftlich unterzeichnet mit „Dein Mohr“, sein Reiseabenteuer. Die Eisenbahnroute führt („es war der 14. [August]“) über Köln („von da morgens 6 Uhr ab“) nach Nürnberg. Doch kein Quartier ist zu finden. Die Stadt Nürnberg ist „überschwemmt [...] durch Leute aus allen Weltteilen“, die zu dem „Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“ wollen.
Am Bahnhof Nürnberg erfährt Karl Marx, der von seiner jüngsten Tochter Eleanor, genannt „Tussy“ (1855-1898), begleitet wird: „die Karlsbad nächstgelegene Stadt, wohin wir noch transportiert werden könnten, sei Weiden; nahmen tickets für Weiden.“ Die Familie Marx erlebt auf ihrer Fahrt einen heißen August, „wo es seit 6 Wochen nicht geregnet [hat]“. Die Marxens nehmen also den Postzug 420 um 18.40 Uhr und müssten eigentlich in Neunkirchen bei Sulzbach-Rosenberg in den Personenzug 389 nach Weiden umsteigen. Doch Karl Marx und Tochter „Tussy“ haben ein Missgeschick mit der Oberpfälzer Eisenbahn:
Der Herr Kondukteur hatte aber schon einen Tropfen (oder auch mehr) zu viel im Kopf; statt uns aussteigen zu machen bei Neunkirchen, von wo eine neu angelegte Zweigbahn nach Weiden, führte er uns bis Irrelohe (so ungefähr heißt das Nest), von wo wir wieder zwei ganze Stunden (auf der entgegengesetzten Seite der Hinfahrt) zurückzufahren hatten, um endlich um Mitternacht in Weiden anzukommen [...]
Eleanor Marx 1886
Karl Marx will in Weiden übernachten und in aller Ruhe am nächsten Mittag mit dem Berliner Schnellzug weiter nach Eger und von dort nach Karlsbad fahren. Aber mit der Herbergssuche hat es kein Glück. In Weiden „war wieder der einzige dort existierende Gasthof überfüllt.“ So bleibt den beiden Reisenden nichts anderes übrig, als „bis 4 Uhr morgens auf den harten Stühlen der Eisenbahnstation auszuharren.“
Um die Nacht endlich abzukürzen, besteigt der Privatgelehrte Dr. Marx mit Tochter „Tussychen, die während der Reise ziemlich leidend war“, schließlich einen Güterzug, der auch Personen befördert. Mit langen Aufenthalten an jeder Station kommen sie schließlich über Wiesau, Waldsassen und Umsteigen in Eger nach Karlsbad: „Im ganzen befanden wir uns 28 Stunden auf Reise von Köln bis Karlsbad. Dabei eine schamlose Hitze.“
Karl Marx hat sich davor bis zu dieser Fahrt im August 1876 nie in Bayern aufgehalten. Nürnberg, die Hochburg der Sozialdemokratie, sollte eigentlich der gewünschte „Rastplatz“ sein – Weiden wird es dann unfreiwillig. Die bald einsetzende „Sozialistenverfolgung“ im Deutschen Reich (1878-1890) macht eine weitere Fahrt für den prominenten Sozialisten unmöglich. Ist Marxens Aufenthalt in Weiden von kurzer Dauer und hat ebenso wenig einen politischen Charakter, so finden doch dessen Ideen über die Sozialdemokratie später Einzug in die Oberpfälzer „Max-Reger-Stadt“. Seine Lektüre lohnt sich noch heute: in historischer Einordnung sowie in all ihrer spezifischen Begrifflichkeit.
Baron, Bernhard M. (1994): Der unfreiwillige Aufenthalt des Karl Marx in Weiden. In: Oberpfälzer Heimat 38, S. 175-177.
Ders. (2001): Oberpfälzer Literaturg'schichten. Audio-CD. Radio Ramasuri, Weiden. Text & Sprecher: Bernhard M. Baron © Radio Ramasuri.
Bayer, Karl; Baron, Bernhard M.; Mörtl, Josef (1978): 80 Jahre Sozialdemokratie in Weiden: 1897-1977. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Weiden, S. 22.
Fetscher, Iring (1997/2006): Karl Marx. In: Demokratische Wege. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Manfred Asendorf und Rolf von Bockel. Stuttgart/Weimar, S. 415-417.
Kisch, Erwin Egon (1953): Bei Marx in Karlsbad. In: Heute und morgen, Nr. 3, Düsseldorf, S. 214f.
Ders. (1983/2008): Karl Marx in Karlsbad. Berlin.
Körner, Klaus (Hg.) (2018): Karl Marx. Es kommt darauf an, die Welt zu verändern. Ein Karl-Marx-Lesebuch. dtv-bibliothek, München.
Melde & Ordre-Buch für die Polizeiwache 1897/98, Stadtarchiv Weiden.
Neffe, Jürgen (2017): Marx. Der Unvollendete. München.
Stark, Franz (1978): Verkehrskreuz Oberpfalz (Weidner Heimatkundliche Arbeiten, 16). Weiden.
Stedman Jones, Gareth (2017): Karl Marx. Die Biographie. Frankfurt am Main.
Externe Links:So kommen Sie gut durchs Marx-Jahr (Zeit online-Artikel zum Karl-Marx-Jubiläum 2018)
„... nahmen tickets für Weiden.“ Zum 200. Geburtstag von Karl Marx>
Vor genau 200 Jahren, am 5. Mai 1818, wurde der Philosoph, Journalist und geistige Vater des Sozialismus Karl Marx (1818-1883) in Trier geboren. Mit seinem philosophisch-ökonomischen Hauptwerk Das Kapital (1867ff., zus. mit Friedrich Engels) gehört er zu den einflussreichsten Gesellschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts. Seine Thesen werden bis heute kontrovers diskutiert. Über seine Zeit in Bayern ist hingegen recht wenig bekannt. Anlass genug für Bernhard M. Baron, den bayerischen Verflechtungen dieses wohl schärfsten Kritikers des Kapitalismus nachzuspüren.
*
Karl Marx war unstrittig einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler, Wirtschaftshistoriker und Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, dazu ein brillanter Publizist (Klaus Körner). Die Rolle als „Heilsbringer der Weltgeschichte“ erhielt er erst posthum und verlor sie 100 Jahre nach seinem Tod auch wieder. Einmal hat Karl Marx eine persönliche Reiseroute (1876) durch Bayern geführt – nach Nürnberg, aber auch nach Weiden.
Mit einer Versammlung am 14. August 1897 tritt die Sozialdemokratische Partei in Weiden erstmals an eine größere Öffentlichkeit. Ort der Zusammenkunft ist das traditionsreiche Gasthaus Zum Schwan, die sog. „Grabenschänke“, gelegen am einstigen Wallgraben der Weidener Stadtbefestigung. Den Anwesenden ist nicht bekannt, dass exakt 21 Jahre vorher – am 14. August 1876 – Karl Marx in Weiden weilt und sogar im gleichen Gasthaus übernachten will. Wiederum neun Jahre vorher, am 9./10. August 1867, erlebt Weiden bereits einen anderen prominenten Gastaufenthalt. In der gleichen „Grabenschänke“ steigt der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) mit seinem Kollegenfreund, dem Altphilologen Erwin Rohde (1845-1898), auf seiner Ferienreise in den Böhmerwald ab.
Karl Marx, seit 1849 in London sozialengagierter Journalist, Rechtsanwalt und Philosoph, wird im Alter von einem Galle-Leber-Leiden geplagt und fährt seit 1874 zur Kur ins böhmische Karlsbad. In einem Brief an seinen Freund Friedrich Engels vom 19. August 1876, geschrieben aus dem Hotel „Germania“ am Schlossberg 11 (heute: Zámecký vrch 41), schildert er, freundschaftlich unterzeichnet mit „Dein Mohr“, sein Reiseabenteuer. Die Eisenbahnroute führt („es war der 14. [August]“) über Köln („von da morgens 6 Uhr ab“) nach Nürnberg. Doch kein Quartier ist zu finden. Die Stadt Nürnberg ist „überschwemmt [...] durch Leute aus allen Weltteilen“, die zu dem „Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“ wollen.
Am Bahnhof Nürnberg erfährt Karl Marx, der von seiner jüngsten Tochter Eleanor, genannt „Tussy“ (1855-1898), begleitet wird: „die Karlsbad nächstgelegene Stadt, wohin wir noch transportiert werden könnten, sei Weiden; nahmen tickets für Weiden.“ Die Familie Marx erlebt auf ihrer Fahrt einen heißen August, „wo es seit 6 Wochen nicht geregnet [hat]“. Die Marxens nehmen also den Postzug 420 um 18.40 Uhr und müssten eigentlich in Neunkirchen bei Sulzbach-Rosenberg in den Personenzug 389 nach Weiden umsteigen. Doch Karl Marx und Tochter „Tussy“ haben ein Missgeschick mit der Oberpfälzer Eisenbahn:
Der Herr Kondukteur hatte aber schon einen Tropfen (oder auch mehr) zu viel im Kopf; statt uns aussteigen zu machen bei Neunkirchen, von wo eine neu angelegte Zweigbahn nach Weiden, führte er uns bis Irrelohe (so ungefähr heißt das Nest), von wo wir wieder zwei ganze Stunden (auf der entgegengesetzten Seite der Hinfahrt) zurückzufahren hatten, um endlich um Mitternacht in Weiden anzukommen [...]
Eleanor Marx 1886
Karl Marx will in Weiden übernachten und in aller Ruhe am nächsten Mittag mit dem Berliner Schnellzug weiter nach Eger und von dort nach Karlsbad fahren. Aber mit der Herbergssuche hat es kein Glück. In Weiden „war wieder der einzige dort existierende Gasthof überfüllt.“ So bleibt den beiden Reisenden nichts anderes übrig, als „bis 4 Uhr morgens auf den harten Stühlen der Eisenbahnstation auszuharren.“
Um die Nacht endlich abzukürzen, besteigt der Privatgelehrte Dr. Marx mit Tochter „Tussychen, die während der Reise ziemlich leidend war“, schließlich einen Güterzug, der auch Personen befördert. Mit langen Aufenthalten an jeder Station kommen sie schließlich über Wiesau, Waldsassen und Umsteigen in Eger nach Karlsbad: „Im ganzen befanden wir uns 28 Stunden auf Reise von Köln bis Karlsbad. Dabei eine schamlose Hitze.“
Karl Marx hat sich davor bis zu dieser Fahrt im August 1876 nie in Bayern aufgehalten. Nürnberg, die Hochburg der Sozialdemokratie, sollte eigentlich der gewünschte „Rastplatz“ sein – Weiden wird es dann unfreiwillig. Die bald einsetzende „Sozialistenverfolgung“ im Deutschen Reich (1878-1890) macht eine weitere Fahrt für den prominenten Sozialisten unmöglich. Ist Marxens Aufenthalt in Weiden von kurzer Dauer und hat ebenso wenig einen politischen Charakter, so finden doch dessen Ideen über die Sozialdemokratie später Einzug in die Oberpfälzer „Max-Reger-Stadt“. Seine Lektüre lohnt sich noch heute: in historischer Einordnung sowie in all ihrer spezifischen Begrifflichkeit.
Baron, Bernhard M. (1994): Der unfreiwillige Aufenthalt des Karl Marx in Weiden. In: Oberpfälzer Heimat 38, S. 175-177.
Ders. (2001): Oberpfälzer Literaturg'schichten. Audio-CD. Radio Ramasuri, Weiden. Text & Sprecher: Bernhard M. Baron © Radio Ramasuri.
Bayer, Karl; Baron, Bernhard M.; Mörtl, Josef (1978): 80 Jahre Sozialdemokratie in Weiden: 1897-1977. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Weiden, S. 22.
Fetscher, Iring (1997/2006): Karl Marx. In: Demokratische Wege. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Manfred Asendorf und Rolf von Bockel. Stuttgart/Weimar, S. 415-417.
Kisch, Erwin Egon (1953): Bei Marx in Karlsbad. In: Heute und morgen, Nr. 3, Düsseldorf, S. 214f.
Ders. (1983/2008): Karl Marx in Karlsbad. Berlin.
Körner, Klaus (Hg.) (2018): Karl Marx. Es kommt darauf an, die Welt zu verändern. Ein Karl-Marx-Lesebuch. dtv-bibliothek, München.
Melde & Ordre-Buch für die Polizeiwache 1897/98, Stadtarchiv Weiden.
Neffe, Jürgen (2017): Marx. Der Unvollendete. München.
Stark, Franz (1978): Verkehrskreuz Oberpfalz (Weidner Heimatkundliche Arbeiten, 16). Weiden.
Stedman Jones, Gareth (2017): Karl Marx. Die Biographie. Frankfurt am Main.